Zdzisław Nardelli
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An den „polnischen Abend” konnte sich noch ein anderer Gefangener erinnern, der aus der Gegend von Nowogródek stammte: „Es gab [außer Konzerten] auch Deklamationen von Gedichten verschiedener Autoren, u.a. rezitierte unser Kamerad Zdzisław Nardelli (gegenwärtig Leiter des Radios in Krakau) seine eigenen, sehr schönen Gedichte. Es war aber sehr schwer, an Bücher zu kommen, insbesondere polnische. Dagegen hatten die Franzosen eine ganze Menge Bücher, daher nutzte ich häufig ihre Bibliothek.“[19]
Die Organisation des „polnischen Abends“ im Görlitzer Stalag bewies, dass es möglich war, das neue, im Lager entstandene Werk Messiaens meisterhaft zu spielen. Die deutsche Führungsriege des Stalags unter der Leitung von Oberst Alois Bielas machte sich diese Tatsache zunutze und organisierte einen Monat später eine pompöse, offizielle Premiere der Komposition Messiaens. Dieses Mal befahl man ausschließlich den französischen Gefangenen, sich am Mittwoch, den 15. Januar 1941, geschlossen in der Theaterbaracke einzufinden. Dies war jedoch kein besonderer Tag für Konzerte und kulturelle Ereignisse, die Gefangenen marschierten in der Abenddämmerung wie an fast jedem Tag direkt von der Zwangsarbeit in der Stadt in Kolonnen in das Lager zurück. Es gelang, in der Theaterbaracke etwa 400 französische und auch einige wenige belgische Gefangene zu versammeln. Die Polen dagegen wurden übergangen und nicht einmal über das stattfindende Konzert in Kenntnis gesetzt. Daher nahmen weder Nardelli, der Organisator des gemeinsam mit den Franzosen begangenen Poesie- und Musikabends, noch andere polnische Gefangene an der offiziellen Premiere des Quartetts teil. Zwei Wochen nach diesem Konzert, am 29. Januar 1941, wurden alle Polen aus Görlitz in Lager im Inneren Deutschlands verlegt.[20]
Das Premierenkonzert des Quartetts für das Ende der Zeit machte trotz Schwierigkeiten bei der Perzeption einer solchen Musik für einen unvorbereiteten Zuhörer klassischer Musik Eindruck. Der Berichterstatter schrieb in der französischen Lagerzeitung „Le Lumignon“ geradewegs und das erste Mal in Gefangenschaft von der Geburt eines Meisterwerkes, womit er die Grundlage von Ruhm und Ehre schuf, die sich bis zum heutigen Tag über das Werk Messiaens erhebt. Der Komponist schwieg in der Öffentlichkeit viele Jahrzehnte über seine Erlebnisse in Gefangenschaft „in Schlesien“. Gegen Ende seines Lebens bekannte er: „Trotz der furchtbaren Umstände spielten wir mein Musikstück, aber ich weiß nicht, ob das Publikum es verstand, da es sich nicht aus Musikkennern zusammensetzte, sondern aus unglücklichen Menschen. Solchen, wie wir es waren. Die Zuhörer waren ergriffen, weil sie unglücklich waren, und wir [Musiker] waren es ebenfalls, und das Werk war von ihrem Mitgefangenen komponiert worden. Für mich war es gewiss das schönste Konzert in meinem Leben.“[21]
Alle polnischen Gefangenen, darunter auch Nardelli, wurden aus dem Stalag Görlitz fortgebracht, bevor Messiaen und der Violoncellist Pasquier freigelassen wurden. Die beiden französischen Musiker kamen frei, da sie in der Vergangenheit unbewaffnete Soldaten gewesen waren. Ein zusätzliches Argument dafür war auch der anfängliche Dienst Messiaens als Sanitäter. Sie kehrten mit einem am 16. Februar 1941 abgehenden Transport in ihre Heimat zurück.[22] Nach seiner Rückkehr bemühte sich Messiaen darum, seine Existenz in der neuen, profaschistischen Wirklichkeit Frankreichs, in der nun das Vichy-Regime unter Marschall Pétain das Sagen hatte, zu sichern. Infolge einer glücklichen Fügung und dank der Unterstützung des berühmten Professors und Organisten M. Dupré übernahm er im Pariser Konservatorium die Stelle eines in Pension gehenden Dozenten. Das war der Beginn einer glänzenden Karriere Messiaens als Pädagoge und Lehrer dreier Generationen europäischer und internationaler Komponisten.[23] Diese Stabilität gab ihm vor allem die Möglichkeit, sein eigenes künstlerisches Schaffen und seine herausragende Karriere als Komponist zu forcieren und voranzutreiben. Er beschritt nun im 20. Jahrhundert eigene Wege, als sein Hauptwerk zählt die Oper Der Heilige Franz von Assisi, die auch von den Hörern in Kattowitz und Warschau enthusiastisch aufgenommen wurde.[24]
[19] Quelle: ACMJW, Formularz do zbierania relacji [Formular zu den Zeitzeugenberichten], Nr. 249, k.A., ausgestellt auf den Namen IGNACY WOŁODŹKO (Sohn von Franciszek, geb. 1905 auf dem Hof von Białomosze, Wojewodschaft Nowogródek). Wołodźko wurde im März 1941 zunächst von Görlitz in das Stalag VIII B Lamsdorf verlegt, anschließend im November in das Stalag VIII D nach Teschen. Wie an dieser Stelle betont werden muss, ist unter den hier erwähnten Gefangenenlagern einzig in Bezug auf das Stalag in Teschen, eines der größten und wichtigsten deutschen Gefangenenlager in Schlesien, in Archiven der Tschechischen Republik die komplette Dokumentation erhalten geblieben. „[…] Wenigstens ist in diesem einen Fall die Regel ins Wanken gebracht worden, dass die Nationalsozialisten bei ihrem Rückzug jegliche Materialien bezüglich der Gefangenenlager, die sie in der Weltöffentlichkeit kompromittieren konnten, vernichteten“, schreiben die tschechischen Autoren Zdenek Konečny und František Mainuš in ihrer Publikation Obozy jenieckie na Górnym Śląsku (Z dziejów stalagu cieszyńskiego) [Kriegsgefangenenlager in Oberschlesien. Aus der Geschichte des Teschener Stalags], übers. v. Danuta Meyza, Roman Bogacki, hrsg. v. Andrzej Szefer, Śląski Instytut Naukowy w Katowicach [Schlesisches Forschungsinstitut in Kattowitz], Verlag „Śląsk”, Katowice 1969.
[20] Quelle: ACMJW.
[21] Lucie Renaud, «Quatuor pour la fin du Temps» de Messiaen : luminosité intemporelle, «La Scena musicale», Montréal 2002, Bd. 7, Nr. 7 (April), S. 42.
[22] Quelle: Archives Nationales de France, État des Militaires Rapatriés d’Allemagne en provenance du Camp d’Internement de Stalag VIII A, D2009, Nr. 102848, zweite Position: „Olivier Messiaen”.
[23] Anne Bongrain (Hg.), Messiaen 2008. Messiaen au Conservatoire. Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse de Paris, Paris 2008.
[24] In Kattowitz und Warschau fanden zwei Konzerte mit der Aufführung dreier Szenen aus der Oper Der Heilige Franz von Assisi unter der Leitung von Antoni Wit als Abschluss des Internationalen Festivals für zeitgenössische Musik, dem sog. Warschauer Herbst, im September 1989 statt.