Zdzisław Nardelli
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Der Schriftsteller Zdzisław Nardelli wurde von der Lagerverwaltung zum Bibliotheksleiter ernannt. Er hatte als Gefangener große Charakterstärke gezeigt, sprach fließend Deutsch und zeigte eine gewisse Ungezwungenheit im Umgang mit den Deutschen. Mitte Juli 1940 traf mit einem der vielen Transporte französischer Kriegsgefangener der Komponist Olivier Messiaen im Lager ein, der in naher Zukunft zu einem der berühmtesten Musikschaffenden des 20. Jahrhunderts werden sollte. Seine Gefangenschaft wurde zu einem Symbol für die europäische Kultur und erregte Dank des im Lager komponierten Werkes Quartett für das Ende der Zeit großes Aufsehen.[14] Neben Messiaen trafen zwei weitere großartige Musiker im Lager ein, die in Pariser Orchestern spielten. Der eine, Violoncellist Etienne Pasquier, wurde dem Arbeitskommando im Striegauer Steinbruch zugeteilt. Der andere, Pfarrer Jean Brossard (Gefangenennummer 908), aus demselben Transport wie Messiaen und zukünftiger Seelsorger der französischen Kriegsgefangenen, wurde ebenfalls schwerer körperlicher Arbeit in einer weiter entlegenen Kommandostelle zugeteilt.
In dieser Lage wandten sich Freunde Messiaens mit der Bitte an die Polen, den talentierten Kameraden vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren. Nardelli entschied sich dazu, Messiaen als Gehilfen in der Bibliothek anzustellen und holte dafür das Einverständnis des Lagerkommandanten ein. Der französische Komponist war vor einer Kräfte zehrenden körperlichen Zwangsarbeit gerettet worden und fand in der polnischen Bibliothek einen Ort der Zuflucht und der Ruhe, wo er seinen Gedanken freien Lauf lassen, meditieren und an einer neuen Komposition schöpferisch tätig werden konnte. Diese legte er für Geige, Klarinette, Violoncello und Flügel (ersetzt durch das Lagerklavier) aus, also für Musiker, die im Stalag festgehalten wurden. Seitdem ließen die Deutschen Messiaen in Ruhe, erst später erfuhren und überzeugten sie sich davon, von welchem Format die im Görlitzer Lager einsitzende Persönlichkeit war. So kam es dann auch von deutscher Seite zu diskreter Hilfe, etwa von dem deutschen Unteroffizier Karl-Albert Brüll, wahrscheinlich aus eigener Initiative.[15] Brüll war von Beruf Rechtsanwalt, stammte aus einer angesehenen Notarsfamilie aus Görlitz und war im Lager als Dolmetscher beschäftigt. Er belieferte Messiaen mit Notenpapier, Bleistiften und Radiergummis, und nicht zuletzt mit Lebensmitteln.
Die nächste Initiative Nardellis war die Organisation eines „Polnischen Abends“ Mitte Dezember 1940, zu dessen Aufwertung auch Messiaen und die französischen Musiker eingeladen wurden. Nardelli rezitierte gemeinsam mit Czesław Mętrak und Bohdan Samulski[16] 13 seiner im Lager entstandenen Gedichte. Messiaen erklärte sich damit einverstanden, fünf seiner ebenfalls hier komponierten Stücke spielen zu lassen. Anfangs wusste man nicht, dass es sich dabei um Teile des Werkes handelte, das später die Welt erobern sollte – nämlich das Quartett für das Ende der Zeit. Bohdan Samulski erstellte einige Dutzend Programmhefte in Kalligrafie, unterzeichnet von den polnischen Veranstaltern und französischen Musikern. Alles zusammenwurde vom Lagerzensor mit dem Siegel „geprüft“ abgesegnet. Dieses kostbare Dokument, dass die Premiere von Fragmenten des noch unvollendeten und nicht benannten Quartetts Messiaens im Lager auf Initiative der polnischen Gefangenen belegt, ist nur noch in polnischen Händen erhalten geblieben: bei Zdzisław Nardelli und Czesław Mętrak in Warschau sowie Antoni Śliwiński[17] in Krakau.
„Dieser Abend gehörte zu den interessantesten Veranstaltungen, die auf dem Lagergelände überhaupt stattfanden. Oberleutnant Bull [Carl-Albrecht Brüll] bezeichnete das Konzert als ergreifend und einzigartig, die Musik Oliviers [Messiaen] schwer, fesselnd und passend zur Poesie des polnischen Dichters [Nardelli] – zwei ähnliche Inhalte in verschiedenen Formen ausgedrückt. Piskorz [Nardelli] rezitierte langsam und eindringlich. Die Interpretation handelte er so einfach wie möglich ab…
Kiedroń lauschte fasziniert, ergriffen von der Schönheit der ihm bis dahin unbekannten Entdeckungen, der unbegrenzten Möglichkeiten von Klängen. Erstmals in seinem Leben begegnete er einer solchen Musik, die ihn bedrängte, ihm unter die Haut ging. Er hatte zuvor nicht vermutet, dass Musik verletzten konnte, wie zersprungenes Glas. Sie schickte ihre Zuhörer auf eine Gratwanderung der Gefühle und an den Rand eines ästhetischen Höhepunktes. Messiaen löste althergebrachte Formen auf. Sie waren zu eng für ihn. Kiedroń begegnete erstmals einer solchen Musik. Er wusste nicht, wie er mit ihr zurechtkommen sollte. Er spürte ihre Größe und seine beschämende Unkenntnis. Er war ihr gegenüber schlicht hilflos. Die musikalische Gewandtheit der Ausführenden verlieh der Herrlichkeit des Werkes von Messiaen zusätzlichen Glanz. Etwa die unwahrscheinliche Virtuosität von Akoka, der die komplizierten Partien mit der Melodik eines Kanarienvogels spielte und den Klang der Klarinette aus der Wirklichkeit entrückte. Am Violoncello stand ihm Etienne Pasquier zur Seite, an der Geige Le Boulaire, am Klavier nahm der Komponist selbst Platz, allesamt Meister ihres Fachs.
Es ist also nicht verwunderlich, dass im Anschluss an das Erklingen der letzten Töne ein applaudierendes Publikum die Musiker und den erstaunten Messiaen umringte. [Piskorz] dankte Bull für die freundlichen Worte. Dabei lächelte er traurig. Verbittert kehrte er in seine Bibliothek, hinter Stapel von Büchern zurück. Ihn begleitete Messiaen, der ein wenig Stille nun umso mehr benötigte…“[18]
[14] Jerzy Stankiewicz, Ile wykonań „Kwartetu na koniec Czasu” Oliviera Messiaena odbyło się w Stalagu VIII A w Görlitz? Nowe fakty i hipotezy 70 lat później [Wie oft wurde das „Quartett für das Ende der Zeit” von Olivier Messiaen im Stalag VIII A in Görlitz gespielt? Neue Fakten und Hypothesen, 70 Jahre danach]. Poznańskie Towarzystwo Przyjaciół Nauk [Posener Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften], „Res Facta Nova” Nr. 12 (2011), S. 187-203.
[15] Siehe: Rolf Hensel, Carl-Albert Brüll (1902-1989), in: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs, Gebr. Mann Verlag, Berlin 2011, S. 237-254. Carl-Albert Brüll war nicht in der NSDAP. Vom 4. November 1940 bis zum 15. November 1943 leistete er seinen Dienst in der Wehrmacht im Stalag VIII A in Görlitz ab.
[16] BOHDAN SAMULSKI (geb. am 06.09.1920 in Warschau, gest. am 24.01.2010 in Huccorgne, Belgien, Gefangenennummer 23) beendete im August 1939 die Fähnrichschule. Er gehörte zu den jüngsten Kriegsgefangenen. Er unternahm zwei Fluchtversuche aus dem Lager, wovon der zweite von Erfolg gekrönt war. Er war Offizier in der 1. Polnischen Panzerdivision von General Stanisław Maczek und wurde mit dem Orden Virtuti Militari und der Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet. Nach Kriegsende schloss er die Akademie der Schönen Künste in Brüssel erfolgreich ab. Er war ein herausragender polnischer Architekt sowie Maler und Zeichner, Projektant des Palastes des Gouverneurs von Belgisch-Kongo, der anschließend in ein Parlamentsgebäude umgewandelt wurde, und vieler weiterer Bauten in Brüssel, Léopoldville und Kinshasa.
[17] ANTON ŚLIWIŃSKI (geb. am 28.05.1912 in Siersza, gest. am 03.06.1995 in Krakau, Gefangenennummer 4969) nahm ein Studium an der Technischen Hochschule in Lemberg auf. Am 18.09.1939 geriet er bei Tarnopol in Gefangenschaft. Als Fähnrich war er u.a. in den Lagern in Sagan und Görlitz inhaftiert. Dort hielt er Vorträge auf dem Gebiet der Astronomie. Er war ein aufmerksamer Beobachter der Ereignisse und des künstlerischen Lebens im Stalag VIII A in Görlitz. Ihm verdanken wir den Erhalt des Programmheftes des „Polnischen Abends“ (das er gegen Ende seines Lebens an Jerzy Stankiewicz übergab, der es seiner Sammlung einverleibte) und vieler weiterer wertvoller zeitgeschichtlicher Zeugnisse.
[18] Fragment der Schilderung des „Polnischen Abends“ im Buch von Zdzisław Nardelli, Otchłań ptaków, S. 65-67.