Stanisław Toegel
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Stanisław Toegel - Hörspiel von "COSMO Radio po polsku" auf Deutsch
Der Betrachter wird diese Szenen mit dem heutigen Wissen als symptomatisch für das gesamte Gebiet der nationalsozialistischen Terrorherrschaft werten. Toegel bezog sie – nicht nur bei Ghettomauer und Kunstraub – jedoch auf konkrete Geschehnisse in Polen. Die „‚Untersuchungen‘ an einem 16 Jahre alten Mädchen“ erhalten durch den polnischen Titel „Gefangene Kurierin der Untergrundarmee in Warschau“ (Abb. 10/8) den direkten Bezug. Die Foltermethoden „Aufhängen an der Nase“ und ein „8-tägiges Martyrium“ (Abb. 10/9) ordnete Toegel in der Beischrift einem tatsächlich existierenden KZ-Gefangenen, „Jan Błażejewski KZ 11101“, zu, der vermutlich mit dem gleichnamigen Gefangenen des Konzentrationslagers Auschwitz mit der Häftlingsnummer 11121 identisch ist.[21]
Toegels Zeichnungen haben, wie anhand der Folge „Hitleriada furiosa“ gezeigt werden konnte, nicht nur einen engen Bezug zur internationalen Karikaturszene der Zeit. Sie stehen durch den Beginn der Arbeit daran im Zwangsarbeitslager Göttingen-Weende und den konkreten, erlebnisnahen Bezug der Zeichnungen in der Folge „Hitleriada macabra“ auch jenen Konvoluten von Zeichnungen nahe, die in den Konzentrationslagern entstanden, von Häftlingen gerettet wurden und teilweise erst Jahrzehnte später von Angehörigen oder auf anderen Wegen in Museen und Gedenkstätten gelangten. Seit langem bekannt sind die viertausend Kinderzeichnungen aus dem Ghetto und Konzentrationslager Theresienstadt, aber auch die Arbeiten der dort inhaftierten Künstler, die sich heute im Jüdischen Museum in Prag, im Ghettomuseum Theresienstadt, im Leo-Baeck-Institut in New York, im United States Holocaust Memorial Museum in Washington und an vielen anderen Orten befinden.[22] Zuletzt bekannt wurden die über zweihundertfünfzig Zeichnungen des französischen Künstlers Paul Goyard (1886-1980), die im Konzentrationslager Buchenwald entstanden und die sich seit 1998 in der Gedenkstätte Buchenwald befinden,[23] ein Album mit dreißig Zeichnungen des polnischen Künstlers Michael Porulski (1910-1989) aus dem KZ Dachau, das 2007 in den USA auftauchte,[24] zweiunddreißig postkartengroße Skizzen, auf denen ein unbekannter Häftling den Massenmord im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau dokumentierte, die 1947 in den Fundamenten einer Baracke aufgefunden und 2012 vom Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau (Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau w Oświęcimiu) publiziert wurden,[25] sowie die einhundertfünfzig Zeichnungen des Franzosen Camille Delétang (1886-1969) aus dem Lager Holzen, einem Außenlager des KZs Buchenwald, die 2013 in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora abgegeben wurden,[26] und die naturgemäß alle ähnlich drastische Darstellungen enthalten wie Toegels Mappe „Hitleriada macabra“.[27]
Eine weitere Besonderheit stellen Toegels Karikatur-Zyklen durch den Zeitpunkt ihres Erscheinens dar. Da Karikaturen ein tagesaktuelles Medium sind, gab es zu diesem Zeitpunkt so gut wie keine Karikaturen mehr auf Hitler und die Nazis in der deutschen Tagespresse. Der Wiederaufbau, das „kollektive Vergessen“ sowie neu beziehungsweise wieder auf den Plan tretende Politiker und Parteien standen nun im Mittelpunkt des Interesses. „Wo wieder anfangen?“ fragte die Schriftleitung der Satirezeitschrift Der Simpl, die am 28. März 1946 in München erstmals erschien, und brachte auf dem Titelblatt unter der Überschrift „Auf geht’s!“ eine Karikatur auf die im Jahr zuvor neu gegründete SPD als aufgeputztes Schlachtross für die „Wiedergeburt der Demokratie“.[28] Einzelne Künstler, die wie Toegel von Nationalsozialismus und Krieg hart getroffen worden waren, oder die die „alten Kameraden“ wieder an der Macht sahen, arbeiteten sich jedoch auch weiterhin an den Nationalsozialisten ab. Der bereits erwähnte Karikaturist Herbert Marxen, in dessen Flensburger Atelier die Gestapo 1938 zweihundert Zeichnungen beschlagnahmt hatte und der von 1948 bis zu seinem Tod 1954 gerichtlich um Wiedergutmachung kämpfte, schuf während dieser Zeit einen rund siebzig Karikaturen umfassenden Zyklus mit dem bissigen Titel „Mein Dank an das Dritte Reich“ (Abb. 9/19).[29] Der in Breslau geborene Maler Max Radler (1904-1971), der 1945 bei einem Bombenangriff sein gesamtes Werk verloren hatte,[30] veröffentlichte 1946 im Simpl Karikaturen auf Hitler als ewig wiederkehrenden „Fliegenden Holländer“, auf die angeblich „geheime Wahl vor 13 Jahren“ unter dem Titel „Das Lachkabinett“ und auf die „Mechanische Entnazifizierung“ der Nachkriegszeit, aus der die Deutschen als „Unschuldslämmer“ hervorgingen.[31]
[21] Toegel schreibt auf der Zeichnung „8 dni Jana Błażejewskiego“ (dt. Die 8 Tage des Jan Błażejewski), in der englischen und französischen Übersetzung auf dem Passepartout falsch: Blazejowski. - Gefangene des KZs Auschwitz (http://auschwitz.org/en/museum/auschwitz-prisoners/): Błażejewski, Jan (prisoner number 11121) born: 1908-02-01, place of birth: Zamłynie. Fate: 1. 1941-03-29, Auschwitz, arrived to camp. Sources: 1. Memorial Book Silesia, 2. Bunkerbuch, 3. Haeftlings-Krankenbau Auschwitz I - block 28, 4. Photo, 5. Zugangsliste (2).
[22] Ruth Křížková und andere (Herausgeber): Ist meine Heimat der Ghettowall? Gedichte und Zeichnungen der Kinder von Theresienstadt, Hanau 1995; Axel Feuß: Das Theresienstadt-Konvolut, Ausstellungs-Katalog Altonaer Museum, Hamburg 2002 (Literaturübersicht).
[23] Paul Goyard. 100 Zeichnungen aus dem Konzentrationslager Buchenwald, herausgegeben von Volkhard Knigge, Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, 2002
[24] Album mit Zeichnungen aus KZ Dachau entdeckt, Die Welt vom 28.9.2007; http://www.dachaualbum.org/
[25] Katja Iken: Auschwitz-Zeichnungen. Skizzen des Schreckens, auf: Spiegel online, 20.1.2012; Agnieszka Sieradzka: The Sketchbook from Auschwitz, Auschwitz-Birkenau State Museum, Oswiecim 2011
[26] Jens-Christian Wagner (Herausgeber): Wiederentdeckt. Zeugnisse aus dem Konzentrationslager Holzen, Göttingen 2013
[27] Toegels Folgen „Hitleriada furiosa“ und „Hitleriada macabra“ befinden sich heute in der Polnischen Nationalbibliothek in Warschau, im dortigen Jüdischen Historischen Institut (Żydowski Instytut Historyczny im. Emanuela Ringelbluma), im United States Holocaust Memorial Museum in Washington, der British Library, St. Pancras, London, der Bibliothèque de documentation internationale contemporaine in Nanterre und der Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky in Hamburg.
[28] Der Simpl. Kunst - Karikatur - Kritik, 1. Jahrgang, Heft 1, München 28.3.1946, Heidelberger historische Bestände digital (http://digi.ub.uni-heidelberg.de/)
[29] Ausstellungs-Katalog Politisch inkorrekt. Der Flensburger Karikaturist Herbert Marxen (1900-1954), bearbeitet von Axel Feuß, Museumsberg Flensburg 2014, Seite 50-55
[30] Von Chodowiecki bis zur Gegenwart. Eine Auswahl aus der Graphiksammlung, bearbeitet von Ingrid Stilijanov-Nedo und anderen, Museum Ostdeutsche Galerie, Regensburg 1993, Seite 190, 221
[31] Der Simpl. Kunst - Karikatur - Kritik, 1. Jahrgang, Hefte 1, 2, 6, München 1946, Heidelberger historische Bestände digital (http://digi.ub.uni-heidelberg.de/)