Stanisław Toegel
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Stanisław Toegel - Hörspiel von "COSMO Radio po polsku" auf Deutsch
Stanisław Toegel wurde am 20. August 1905 in Jaworów (heute Jaworiw), fünfzig Kilometer westlich der Bezirkshauptstadt Lemberg geboren. An der Universität Lemberg studierte er Rechtswissenschaften und machte sich schon zu dieser Zeit einen Namen als Karikaturist. Bogusław Bakuła, Literaturwissenschaftler am Institut für Polnische Philologie der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań, berichtet, dass Toegel regelmäßig in der Lemberger Kneipe Pod Gwiazdką (dt. Zum Sternchen) verkehrte, in der sich die „linke“ polnische, ukrainische und jüdische Jugend traf, „die mehr oder minder einträchtig die künstlerischen Autoritäten in Lemberg bekämpfte“. Dorthin gingen auch „polnische Intellektuelle wie Karol Kuryluk oder Stanisław Piętak aus dem Umfeld der Lemberger Zeitung Sygnały und ukrainische Literaten linker Orientierung wie Jaroslav Halan und Stepan Tudor. Aber es gab auch Hinweise, die besagten, dass in der Kneipe Aktivisten der verbotenen Kommunistischen Partei der Westukraine und vielleicht sogar Mitglieder von Kampfverbänden verkehrten.“ Toegel, so Bakuła, zeichnete hier „wunderbare Karikaturen der Besucher der Kneipe, die brechend voll war, da es sich beim Hausherrn gut anschreiben ließ.“[1]
Als Künstler war Toegel ein begabter Autodidakt. Das Zeichnen von Karikaturen war in der Bohème der Maler und Literaten jedoch keine Seltenheit. Im Restaurant Atlas, in dem die Lemberger Maler verkehrten und von dem die „linke Jugend“ zum Sternchen umgezogen war, waren die Wände mit Karikaturen und Gedichten der Stammgäste übersät. Toegel verfasste während seiner Studienzeit, also ab Mitte der Zwanzigerjahre, Feuilleton-Beiträge für die Lemberger Zeitungen Dziennik Polski und Kurjer Lwowski, in denen auch seine ersten satirischen Zeichnungen erschienen.[2] 1932 gab er eine Mappe mit sechzehn in Grautönen gedruckten Karikaturen heraus, die im beeindruckenden Format von 42 Zentimetern Höhe alle bedeutenden Politiker der Zweiten Polnischen Republik zeigen, darunter Ignacy Jan Paderewski, August Zaleski, Wincenty Witos, Roman Dmowski sowie die Generäle Władysław Sikorski und Bolesław Wieniawa-Długoszewski. Marschall Józef Piłsudski, der seit 1926 aus dem Hintergrund regierte, zeichnete er über dem Bildtitel „ON“ (dt. „ER“) schlafend, den Marschallstab in der rechten Hand, auf einem schwarzen Thron, in dem sich unten ein winziger Eingang zum Sejm, dem polnischen Parlament, öffnet (Abb. 1).
Irgendwann in den Dreißigerjahren zog Toegel dann mit seiner Frau Olga nach Warschau, um bei einer Versicherung zu arbeiten. Aus den spärlichen Informationen über seine Biografie ist bekannt, dass er 1939 als Reserveoffizier an der Septemberkampagne, dem Verteidigungskrieg der polnischen Armee gegen den Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen, teilnahm und in Gefangenschaft geriet. Er konnte jedoch fliehen und in Warschau untertauchen. Er wurde Soldat der im Untergrund tätigen Heimatarmee (Armia Krajowa) und nahm angeblich an Sabotageaktionen teil.[3] Für die Untergrund-Presse zeichnete er 1943/44 bissige Karikaturen auf die Nazis.[4] Im August 1944 nahm er am Warschauer Aufstand teil und geriet wieder in deutsche Gefangenschaft. Nach der Kapitulation der Aufständischen am 1. Oktober 1944 wurde er in ein Lager für Zwangsarbeiter vermutlich in Göttingen-Weende deportiert, in dem Polen interniert waren und von dem aus er, so wird angenommen, Zwangsarbeit in der Pergamentpapierfabrik Rube & Co in Weende leisten musste.[5]
Toegel konnte dort offenbar Zeichenpapier beiseiteschaffen. „In einem Versteck, geheim und in Eile, mit einer Feder […] entstanden freche Skizzen, das Notizbuch eines satirischen Reporters. Sie zirkulierten im Untergrund, gelangten auch in die Hände von Nazis, die bereits auf ihre Niederlage blickten.“[6] Einige dieser Zeichnungen, in der Mehrzahl Karikaturen auf Adolf Hitler, Josef Goebbels, Heinrich Himmler und Hermann Göring, vor allem aber auf die Überheblichkeit und den Fall der Nazigrößen, wurden später Teil der Zyklen „Hitleriada furiosa“ und „Hitleriada macabra“ und tragen dort noch die Datierung „Göttingen 1945“ (Abb. 9/2, 9/3, 9/5, 9/8, 9/10, 9/11, 9/12, 10/2). Eine kleine, stark beschädigte Skizze in Toegels Nachlass im Oberschlesischen Museum in Bytom (Muzeum Górnośląskie w Bytomiu) trägt den Titel „Volkssturm in Weende“ (Abb. 2).
[1] Bogusław Bakuła: Eine Welt zwischen Wissenschaft und Kunst. Lemberger Kneipen der 1930er Jahre, in: Osteuropa 3/2004, Seite 3-15 (http://www.zeitschrift-osteuropa.de/hefte/2004/3/eine-welt-zwischen-wissenschaft-und-kunst/)
[2] Ausstellungs-Katalog Hitleriada Furiosa 2005, Seite 5
[3] Ausstellungs-Katalog Hitleriada Furiosa 2005, Seite 5
[4] Vorwort zur Folge „Hitleriada furiosa“, 1946 (polnisch), übersetzt und abgedruckt in: Ausstellungs-Katalog Hitleriada Furiosa 2005, Seite 6 f.
[5] Stadtarchiv Göttingen Cordula Tollmien Projekt NS-Zwangsarbeiter, http://www.zwangsarbeit-in-goettingen.de/frames/fr_lager.htm
[6] Vorwort zur Folge „Hitleriada furiosa“, 1946 (polnisch), übersetzt und abgedruckt in: Ausstellungs-Katalog Hitleriada Furiosa 2005, Seite 7
Nach dem Ende des Krieges kam Toegel nach Osnabrück in eines der von der britischen Besatzungsmacht eingerichteten Auffanglager für Displaced Persons, also für Zivilpersonen, die sich aufgrund des Krieges und der NS-Gewaltherrschaft außerhalb ihres Heimatlandes aufhielten, ohne Hilfe nicht dorthin zurückkehren oder sich in einem anderen Land ansiedeln konnten. Hierzu gehörten in der Mehrzahl ehemalige Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und Häftlinge von Konzentrationslagern. In Osnabrück gab es drei DP Camps, die man im September/Oktober 1945 eingerichtet hatte und in denen Polen untergebracht waren: das DP-Assembly Center, das DP-Camp „Fernblick“ und der Polish Collection and Repatriation Point.[7] In einem dieser Lager arbeitete Toegel an der Lagerzeitung Słowo Polskie (dt. Polnisches Wort) mit, für die er (erkennbar an der Signatur „S“) das Titelsignet (Abb. 3), eine Hitler-Karikatur (Abb. 4) sowie Karikaturen auf den Vize-Kommandanten des Lagers, Fabian Zajdel (Abb. 5), die Malerin Halina Zaniewska (Abb. 6) und auf sich selbst (Abb. 7) zeichnete. Für die Titelseite der Lagerzeitung Nasze Życie (dt. Unser Leben) - Polish Weekly, die im Februar 1946 im DP Camp in Lippstadt erschien, entwarf er eine Karikatur, die vermutlich den britischen Lagerkommandanten zeigt und die er jetzt selbstbewusster mit „SToegel“ signierte (Abb. 8).
Vor allem aber komplettierte er in Osnabrück die Folge „Hitleriada furiosa“, in der jene Blätter, die nicht im Zwangsarbeitslager in Göttingen entstanden waren, die Datierung „Osnabrück 1945“ tragen (Abb. 9/4, 9/6, 9/7, 9/13). In der Folge „Hitleriada macabra“ ist nur das erste Blatt nach „Göttingen“ datiert (Abb. 10/2), während bei allen anderen Blättern die Ortsbezeichnung fehlt. Es ist kaum anzunehmen, dass es sich bei den mit „Göttingen“ datierten Karikaturen tatsächlich um die „geheim und in Eile“ gezeichneten und dann erst später aquarellierten originalen Vorlagen handelt. Den gedruckten Karikaturen beider Folgen liegen vielmehr sorgfältig mit Feder und Aquarell ausgeführte Reinzeichnungen zugrunde, in denen die Datierung „Göttingen 1945“ nur den Ort der Idee und der ersten schnellen Skizze bezeichnet.
Beide Folgen wurden in Auflagen von 1.450 Stück als Offset-Lithographien in der Graphischen Kunstanstalt und Offsetdruckerei Emil Falke[8] in Hamburg gedruckt und von dem alteingesessenen Drucksachen-Handel F. W. Döbereiner[9] in Hamburg-Groß Flottbek vertrieben. Als Verleger und Inhaber des Copyrights fungierte Antoni Markiewicz in Celle (Abb. 9/1, 10/1).[10] Vermutlich war Markiewicz ebenfalls ehemaliger Insasse eines der DP-Lager in Osnabrück. Sein Verlag in Celle war offenbar einer jener zahlreichen polnischen Verlage und Buchhandlungen, die ab Mai 1945 aus dem Kreis der polnischen DPs heraus gegründet wurden, um bei den etwa 1.200.000 Polen, die sich nach Kriegsende in Deutschland aufhielten, das Bedürfnis nach Büchern zu stillen.[11] Markiewicz verlegte neben drei Karikatur-Werken von Toegel nur noch eine englische Sprachlehre und das Buch „Rzeczpospolita“ von Julian Suski (1896-1978) und trat nach 1946 nicht mehr in Erscheinung.[12]
In der Folge „Hitleriada furiosa“ feiert Toegel den Sieg über die Nazidiktatur, indem er mit den Mitteln von Karikatur und Satire den Größenwahn der deutschen Führung aufs Korn nimmt. So tanzt die Personifizierung Deutschlands, „Germania furiosa“ (also die unsinnig rasende Germania), als leicht bekleidetes, fettes Revuegirl mit Stahlhelm und blutigem Dolch auf einem „V“ für „Victory“, während Granaten einschlagen und „Volksverräter“ oder „Deserteure“ der eigenen Truppen an Galgen vor einer zerstörten Stadt hängen (Abb. 9/2). Hitler übt als gealtertes und abgemagertes Männchen den Stechschritt (Abb. 9/3) und ein zwergenhafter Goebbels deklamiert als „großer Josef“ Durchhalteparolen, während ein Vogel seine Notdurft auf dem Hakenkreuz verrichtet (Abb. 9/4). Geifernd und mit schlotternden Knien verkündet Goebbels schließlich: „Deutschland kapituliert nie!“ (Abb. 9/10). Hitler erhält zweifelnd und zaudernd auf dem Schoß von Gevatter Tod die Nachricht vom „Tag der Abrechnung“ (Abb. 9/5), während er und Himmler auf einem Fass mit der Aufschrift „Deutsches Reich“ in stürmischer See und mit zerfetzter Reichskriegsflagge dem Untergang entgegen segeln (Abb. 9/6). Als vermeintlicher Friedensengel schwebt Hitler über der mit Konzentrationslagern übersäten Weltkugel (Abb. 9/7) und hält, geschmückt mit einer Narrenkappe, eine Mai-Ansprache vor den als Schweinsköpfe charakterisierten Braunhemden der NSDAP (Abb. 9/9). Hitler, Himmler und Göring verteidigen mit Schwert, Keule und Streitaxt als „germanische Götter“ Berlin vor der Kulisse der eigenen kapitulierenden Truppen, während die skelettierte „Germania“ im Blut zerfließt (Abb. 9/11). Schließlich sitzt Hitler weinend auf den Trümmern der Berliner Reichskanzlei (Abb. 9/12). Göring, von den Deutschen als „Hermann Meier“ verspottet, wird mit der für ihn typischen weißen Uniform und dem ihm zugeschriebenen Ausspruch aufs Korn genommen: „Ich will Meier heißen, wenn auch nur ein feindliches Flugzeug über Deutschland erscheint.“ (Abb. 9/8) Als „Unschuldslamm“ ist er schließlich vor dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozess zu sehen, weil „ein anderer“, nämlich Hitler, die alleinige Schuld trage (Abb. 9/13).
[7] ITS International Tracing Service / Internationaler Suchdienst, Arolsen, Britische Zone, DP Camps, http://dpcampinventory.its-arolsen.org
[8] Adressbuch Hamburg 1947: Falke, Emil, gegründet 1892, Graphische Kunstanstalt, Offsetdruckerei, Große Reichenstraße 47. – Dieser Betrieb war über Jahrzehnte durch den Druck der Hamburger Stadtpläne bekannt.
[9] Adressbuch Hamburg 1947: Döbereiner, F.W., Druckereifachmann, Drucksachen-Großhandel u. Bürobedarf, Dahlmannstr. 1 (heute: Hammerichstraße). F.W. Döbereiner existierte als Verlag bereits am Beginn des 19. Jahrhunderts und verlegte in den 1890er-Jahren das Altonaer Adressbuch.
[10] Die Folge „Hitleriada furiosa“ trägt auf dem hinteren Vorsatzpapier den Druckvermerk „Wszelkie prawa autorskie zastrzeżone / All rights reserved / Copyright 1946 by Antoni Markiewicz / Printed in Germany by Emil Falke, Hamburg II / for F.W. Döbereiner, Hamburg-Groß Flottbek“.
[11] Agnieszka Łakomy: Der Buchhandels- und Verlagsmarkt für polnische Displaced Persons nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland und die Verbreitung polnischer Literatur durch Bibliotheken, in: Bibliotheksdienst, 48. Jahrgang, Heft 11, 2014, Seite 881-894. Vergleiche die Dissertation von Agnieszka Łakomy: Polska książka na obczyźnie. Niemcy Zachodnie (1945–1950) (Nauka - Dydaktyka - Praktyka, 129), Warschau 2011. – Jeweils ein Exemplar von Toegels „Hitleriada furiosa“ und „Hitleriada macabra“, die 2009 im Auktionshaus Dreweatts & Bloomsbury in London angeboten wurden (https://www.liveauctioneers.com/item/6173361_toegel-s-hitleriada-furiosa-and-macabra), tragen den Stempel „Polski Związek“, der auf den Polnischen Verband der Zwangsausgesiedelten (Polski Związek Wychodźstwa Przymusowego) hinweist. Diese Organisation, so Łakomy (2014), betrieb „den am besten funktionierenden polnischen Verlag im Nachkriegsdeutschland“.
[12] T.W. Mac Callum: Nauka angielskiego szybko, łatwo i przyjemnie, Celle: Antoni Markiewicz 1946 (Biblioteka Polska POSK w Londynie); Jerzy Pomian (= Julian Suski): Rzeczpospolita, Celle: Antoni Markiewicz 1946 (Polnische Nationalbibliothek / Biblioteka Narodowa, Warschau: 307.266) – Über den weiteren Verbleib von Antoni Markiewicz ist trotz intensiver Suche nichts bekannt (freundliche Mitteilung von Dr. Agnieszka Łakomy vom 5.3.2016).
Einen Vergleich mit Künstlern der internationalen Karikatur-Szene braucht Toegel nicht zu scheuen. Seine Entwürfe sind, weil sie zu einem geschlossenen Zyklus gehören, in der Bildgestaltung aufwändiger, in den Porträts ausgefeilter und in der Kolorierung ambitionierter als Hitler-Karikaturen berufsmäßiger Zeichner, wie sie bis 1933 in deutschen Zeitschriften oder während der gesamten Hitler-Herrschaft in der internationalen Tagespresse erschienen. In Deutschland waren gezeichnete Satiren auf Hitler und die Nazibewegung bereits seit 1923 in der Münchner Satirezeitschrift Simplicissimus zu finden, unter anderem von Thomas Theodor Heine, Karl Arnold, Erich Schilling und Olaf Gulbransson. Schilling (1885-1945) wagte sich erstmals 1929 unter dem Titel „Adolf, ein verhinderter Diktator“ an eine ganzfigurige Karikatur Hitlers in Form eines Hakenkreuzes.[13] In der Münchner Literatur- und Kunstzeitschrift Jugend erschienen seit 1929 Karikaturen auf Hitler und die Nazis unter anderem von Erich Wilke („Hakenkreuzzug ins Heilige Land“, 1929), Josef Geis („Der Duce Adolf vor Gericht“, 1930) und in größerer Anzahl von dem Karikaturisten Herbert Marxen (1900-1954, „Legaler Hochverrat“, 1930; „Auf Posten vor dem Braunen Haus“, 1931).[14] Die weitaus schärfsten Hitler-Karikaturen waren in der sozialdemokratischen Satirezeitschrift Der wahre Jakob zu sehen. So erschienen im Heft vom 27. Februar 1932 allein acht großformatige Karikaturen auf die Nationalsozialisten, darunter auf dem Titelblatt „Schlächter Hitler“ von Karl Holtz (1899-1978, Abb. 9/14) und auf der Rückseite ein verfremdetes Hitler-Porträt des russischen Malers Jacobus Belsen (1870-1937, Abb. 9/15).[15] Der Zeichner Erich Ohser (1903-1944) veröffentlichte zwischen 1929 und 1933 in der sozialdemokratischen Zeitung Vorwärts zahlreiche Karikaturen auf Hitler und die nationalsozialistischen Schlägerbanden.[16]
Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten und der „Gleichschaltung“ der deutschen Presse erschienen im Simplicissimus und in der Jugend Hitler-Porträts nur noch in realistischer und übertrieben heroischer Form. Thomas Theodor Heine floh aus München und emigrierte, Arnold und Gulbransson arrangierten sich mit den neuen Machthabern, Schilling zeichnete fortan Propagandablätter im Sinne der Nazis.[17] Die Zeitschrift Jugend gab bereits Ende 1931 aus Rücksicht auf ihre Anzeigenkunden alle Angriffe auf die Nationalsozialisten auf. In der Folge wurde der Karikaturist Herbert Marxen im August 1932 entlassen.[18] Der wahre Jakob und der Vorwärts wurden 1933 verboten. Gleichzeitig entwickelten die Nationalsozialisten ein ganz besonderes Verhältnis zur Karikatur: 1933 gab der Auslandspressechef der NSDAP, Ernst Hanfstaengl, ein „vom Führer genehmigtes“ Buch mit dem Titel „Hitler in der Karikatur der Welt. Tat gegen Tinte“ heraus, in dem satirische Zeichnungen aus der deutschen und internationalen Presse auf 174 Seiten wieder abgedruckt und im Sinne Hitlers kommentiert, umgedeutet oder „richtiggestellt“ wurden. In diesem Buch erschien unter anderem eine Karikatur aus der 1933 in Amsterdam erschienenen jüdischen Zeitung Waak!, in der Hitlers Pakt mit dem Tod, den Toegel später umdeutete (Abb. 9/5), bereits vorformuliert wurde (Abb. 9/16). Hanfstaengl, der wegen kritischer Äußerungen 1937 liquidiert werden sollte, gelang die Flucht nach Großbritannien. Aber auch andere von Toegels Entwürfen haben Vorläufer wie beispielsweise Hitler als Friedensengel (Abb. 9/7): Anlässlich des Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieges steht dieser in einer Karikatur von Vaughn Shoemaker (1902-1991), die am 6.11.1937 in der Chicago Daily News erschien, auf dem asiatischen Teil der Weltkugel (Abb. 9/17). Bruce Russell (1903-1963), wie Shoemaker einer von zahlreichen Pulitzer-Preisträgern, die Hitler-Karikaturen veröffentlichten,[19] zeichnete am Ende des Krieges einen gealterten und erschöpften Hitler, der auf einem Vertreter des geknechteten deutschen Volks reitet (Abb. 9/18), und publizierte diese Karikatur im Juni 1945 in der Los Angeles Times. In Buchform veröffentlichten 1941 die britischen Zeichner Robert und Philip Spence eine Hitler-Parodie auf Grundlage des weithin bekannten „Struwwelpeter“ mit dem Titel „Struwwelhitler. A Nazi Story Book by Dr. Schrecklichkeit“, das neben Hitler-Karikaturen auch solche auf Goebbels, Göring, Stalin und Mussolini enthält.[20]
In Toegels zweiter Folge, „Hitleriada macabra“, kann nur das erste Blatt (Abb. 10/2) im strengen Sinn als Karikatur bezeichnet werden. Es zeigt Heinrich Himmler, welcher als Reichsführer SS durch die SS-Totenkopfverbände die Kontrolle über die Konzentrationslager hatte, als Henker (in der englischen und französischen Übersetzung als Schlachter) mit blutbesudelter Hose, Henkerbeil und Richtklotz vor dem Hintergrund eines KZs mit Schädelberg und Gehenkten. Vor ihm hängt die Schlinge, durch die er in Kürze seinen eigenen Kopf stecken wird, rechts steht bereits sein Denkmal mit der Überschrift „H. Himmler oprawca“ (dt. Folterknecht) und den Namen der Konzentrationslager. Karikaturen arbeiten, so die gängige Definition, mit den Mitteln der Vereinfachung und Übertreibung, also der Satire, menschliche Schwächen heraus, geben sie der Lächerlichkeit preis und fordern zum Lachen auf. In den folgenden Blättern, in denen Toegel mit den Mitteln der satirischen Zeichnung die Folter-, Mord- und Raubtaktiken der Nazischergen schildert, erkennt der Betrachter jedoch unmittelbar, dass es sich keineswegs um Satire, sondern um die ungeschönte Darstellung von Naziverbrechen handelt. Vernehmungen mit vorgehaltenem Gewehr und der Androhung des Schlagstocks (Abb. 10/3), Prügel-, Erschießungs- und Folterszenen gehören ebenso dazu wie das medizinische Experiment an einer Gefangenen. Satirische Elemente treten durch Beischriften hinzu, wenn Toegel das Erpressen eines Geständnisses durch die prügelnde Gestapo mit dem Slogan „Kraft durch Freude“, dem Namen der offiziellen NS-Freizeitorganisation, kommentiert (Abb. 10/4), wenn er das Erschießungskommando als „Scharfschützen“ (Abb. 10/5), die SS-Männer als „Rittertum und Stolz des deutschen Volkes“ (Abb. 10/8) persifliert oder wenn er dem „SS-Sadisten“ unterstellt, das Foltern bringe ihn zu Lachen (Abb. 10/6). Karikaturhafte Züge tragen hingegen die als „Komplizen der Deutschen“ bezeichneten ukrainischen Soldaten an der Mauer des Warschauer Ghettos (Abb. 10/7), der Wissenschaftler, der sich beim medizinischen Experiment als „Folterknecht“ entpuppt (Abb. 10/10) und die „Eroberer von Warschau“, die sich geraubte Kunstwerke als „Trophäen“ präsentieren lassen (Abb. 10/11).
[13] Erich Schilling: Adolf, ein verhinderter Diktator, in: Simplicissimus, 22. April 1929, Titelblatt (http://www.simplicissimus.info)
[14] http://www.jugend-wochenschrift.de
[15] Der wahre Jacob: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/wj1932?sid=70a81f212972cb3deef9461ecaf25dc6. Jacobus Belsen: http://library.fes.de/library/html/galerie/fesgalerie-kampf-brosch18.html
[16] Ausstellungs-Katalog Erich Ohser - e.o.plauen (1903-1944). Der politische Zeichner, Vogtlandmuseum Plauen 2004, Seite 15-22
[17] Zu Erich Schilling vergleiche Axel Feuß: Karikatur und Propagandablatt. Darstellungsformen im Grenzbereich zweier Bildgattungen, in: Klaus Herding, Gunter Otto (Herausgeber): „Nervöse Auffangsorgane des inneren und äußeren Lebens“. Karikaturen, Gießen 1980, Seite 318-336
[18] Ausstellungs-Katalog Politisch inkorrekt. Der Flensburger Karikaturist Herbert Marxen (1900-1954), bearbeitet von Axel Feuß, Museumsberg Flensburg 2014, Seite 41
[19] Erika J. Fischer / Heinz-D. Fischer: Die Entlarvung Hitler-Deutschlands. Das Dritte Reich in Karikaturen von Pulitzer-Preisträgern, Berlin 2008
[20] Struwwelhitler. A Nazi Story Book by Dr. Schrecklichkeit. Eine Parodie des Original-Struwwelpeter von Robert und Philip Spence. Mit einem Vorwort von Joachim Fest, Reprint Berlin 2005, Nachdruck 2014 (Erstausgabe 1941)
Der Betrachter wird diese Szenen mit dem heutigen Wissen als symptomatisch für das gesamte Gebiet der nationalsozialistischen Terrorherrschaft werten. Toegel bezog sie – nicht nur bei Ghettomauer und Kunstraub – jedoch auf konkrete Geschehnisse in Polen. Die „‚Untersuchungen‘ an einem 16 Jahre alten Mädchen“ erhalten durch den polnischen Titel „Gefangene Kurierin der Untergrundarmee in Warschau“ (Abb. 10/8) den direkten Bezug. Die Foltermethoden „Aufhängen an der Nase“ und ein „8-tägiges Martyrium“ (Abb. 10/9) ordnete Toegel in der Beischrift einem tatsächlich existierenden KZ-Gefangenen, „Jan Błażejewski KZ 11101“, zu, der vermutlich mit dem gleichnamigen Gefangenen des Konzentrationslagers Auschwitz mit der Häftlingsnummer 11121 identisch ist.[21]
Toegels Zeichnungen haben, wie anhand der Folge „Hitleriada furiosa“ gezeigt werden konnte, nicht nur einen engen Bezug zur internationalen Karikaturszene der Zeit. Sie stehen durch den Beginn der Arbeit daran im Zwangsarbeitslager Göttingen-Weende und den konkreten, erlebnisnahen Bezug der Zeichnungen in der Folge „Hitleriada macabra“ auch jenen Konvoluten von Zeichnungen nahe, die in den Konzentrationslagern entstanden, von Häftlingen gerettet wurden und teilweise erst Jahrzehnte später von Angehörigen oder auf anderen Wegen in Museen und Gedenkstätten gelangten. Seit langem bekannt sind die viertausend Kinderzeichnungen aus dem Ghetto und Konzentrationslager Theresienstadt, aber auch die Arbeiten der dort inhaftierten Künstler, die sich heute im Jüdischen Museum in Prag, im Ghettomuseum Theresienstadt, im Leo-Baeck-Institut in New York, im United States Holocaust Memorial Museum in Washington und an vielen anderen Orten befinden.[22] Zuletzt bekannt wurden die über zweihundertfünfzig Zeichnungen des französischen Künstlers Paul Goyard (1886-1980), die im Konzentrationslager Buchenwald entstanden und die sich seit 1998 in der Gedenkstätte Buchenwald befinden,[23] ein Album mit dreißig Zeichnungen des polnischen Künstlers Michael Porulski (1910-1989) aus dem KZ Dachau, das 2007 in den USA auftauchte,[24] zweiunddreißig postkartengroße Skizzen, auf denen ein unbekannter Häftling den Massenmord im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau dokumentierte, die 1947 in den Fundamenten einer Baracke aufgefunden und 2012 vom Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau (Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau w Oświęcimiu) publiziert wurden,[25] sowie die einhundertfünfzig Zeichnungen des Franzosen Camille Delétang (1886-1969) aus dem Lager Holzen, einem Außenlager des KZs Buchenwald, die 2013 in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora abgegeben wurden,[26] und die naturgemäß alle ähnlich drastische Darstellungen enthalten wie Toegels Mappe „Hitleriada macabra“.[27]
Eine weitere Besonderheit stellen Toegels Karikatur-Zyklen durch den Zeitpunkt ihres Erscheinens dar. Da Karikaturen ein tagesaktuelles Medium sind, gab es zu diesem Zeitpunkt so gut wie keine Karikaturen mehr auf Hitler und die Nazis in der deutschen Tagespresse. Der Wiederaufbau, das „kollektive Vergessen“ sowie neu beziehungsweise wieder auf den Plan tretende Politiker und Parteien standen nun im Mittelpunkt des Interesses. „Wo wieder anfangen?“ fragte die Schriftleitung der Satirezeitschrift Der Simpl, die am 28. März 1946 in München erstmals erschien, und brachte auf dem Titelblatt unter der Überschrift „Auf geht’s!“ eine Karikatur auf die im Jahr zuvor neu gegründete SPD als aufgeputztes Schlachtross für die „Wiedergeburt der Demokratie“.[28] Einzelne Künstler, die wie Toegel von Nationalsozialismus und Krieg hart getroffen worden waren, oder die die „alten Kameraden“ wieder an der Macht sahen, arbeiteten sich jedoch auch weiterhin an den Nationalsozialisten ab. Der bereits erwähnte Karikaturist Herbert Marxen, in dessen Flensburger Atelier die Gestapo 1938 zweihundert Zeichnungen beschlagnahmt hatte und der von 1948 bis zu seinem Tod 1954 gerichtlich um Wiedergutmachung kämpfte, schuf während dieser Zeit einen rund siebzig Karikaturen umfassenden Zyklus mit dem bissigen Titel „Mein Dank an das Dritte Reich“ (Abb. 9/19).[29] Der in Breslau geborene Maler Max Radler (1904-1971), der 1945 bei einem Bombenangriff sein gesamtes Werk verloren hatte,[30] veröffentlichte 1946 im Simpl Karikaturen auf Hitler als ewig wiederkehrenden „Fliegenden Holländer“, auf die angeblich „geheime Wahl vor 13 Jahren“ unter dem Titel „Das Lachkabinett“ und auf die „Mechanische Entnazifizierung“ der Nachkriegszeit, aus der die Deutschen als „Unschuldslämmer“ hervorgingen.[31]
[21] Toegel schreibt auf der Zeichnung „8 dni Jana Błażejewskiego“ (dt. Die 8 Tage des Jan Błażejewski), in der englischen und französischen Übersetzung auf dem Passepartout falsch: Blazejowski. - Gefangene des KZs Auschwitz (http://auschwitz.org/en/museum/auschwitz-prisoners/): Błażejewski, Jan (prisoner number 11121) born: 1908-02-01, place of birth: Zamłynie. Fate: 1. 1941-03-29, Auschwitz, arrived to camp. Sources: 1. Memorial Book Silesia, 2. Bunkerbuch, 3. Haeftlings-Krankenbau Auschwitz I - block 28, 4. Photo, 5. Zugangsliste (2).
[22] Ruth Křížková und andere (Herausgeber): Ist meine Heimat der Ghettowall? Gedichte und Zeichnungen der Kinder von Theresienstadt, Hanau 1995; Axel Feuß: Das Theresienstadt-Konvolut, Ausstellungs-Katalog Altonaer Museum, Hamburg 2002 (Literaturübersicht).
[23] Paul Goyard. 100 Zeichnungen aus dem Konzentrationslager Buchenwald, herausgegeben von Volkhard Knigge, Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, 2002
[24] Album mit Zeichnungen aus KZ Dachau entdeckt, Die Welt vom 28.9.2007; http://www.dachaualbum.org/
[25] Katja Iken: Auschwitz-Zeichnungen. Skizzen des Schreckens, auf: Spiegel online, 20.1.2012; Agnieszka Sieradzka: The Sketchbook from Auschwitz, Auschwitz-Birkenau State Museum, Oswiecim 2011
[26] Jens-Christian Wagner (Herausgeber): Wiederentdeckt. Zeugnisse aus dem Konzentrationslager Holzen, Göttingen 2013
[27] Toegels Folgen „Hitleriada furiosa“ und „Hitleriada macabra“ befinden sich heute in der Polnischen Nationalbibliothek in Warschau, im dortigen Jüdischen Historischen Institut (Żydowski Instytut Historyczny im. Emanuela Ringelbluma), im United States Holocaust Memorial Museum in Washington, der British Library, St. Pancras, London, der Bibliothèque de documentation internationale contemporaine in Nanterre und der Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky in Hamburg.
[28] Der Simpl. Kunst - Karikatur - Kritik, 1. Jahrgang, Heft 1, München 28.3.1946, Heidelberger historische Bestände digital (http://digi.ub.uni-heidelberg.de/)
[29] Ausstellungs-Katalog Politisch inkorrekt. Der Flensburger Karikaturist Herbert Marxen (1900-1954), bearbeitet von Axel Feuß, Museumsberg Flensburg 2014, Seite 50-55
[30] Von Chodowiecki bis zur Gegenwart. Eine Auswahl aus der Graphiksammlung, bearbeitet von Ingrid Stilijanov-Nedo und anderen, Museum Ostdeutsche Galerie, Regensburg 1993, Seite 190, 221
[31] Der Simpl. Kunst - Karikatur - Kritik, 1. Jahrgang, Hefte 1, 2, 6, München 1946, Heidelberger historische Bestände digital (http://digi.ub.uni-heidelberg.de/)
Toegels Karikatur-Zyklen waren sicher nicht für das deutsche Publikum gedacht, denn das Vorwort ist in polnischer Sprache abgefasst, und auch bei den Bildtiteln auf den dunkelgrauen Passepartouts dominiert neben Englisch und Französisch das Polnische – ein weiterer Beleg dafür, dass als hauptsächliche Adressaten die polnischen Leser des in Deutschland neu entstandenen Vertriebssystems aus polnischen Verlagen und Buchhandlungen anzusehen sind. Die Zyklen waren als Kunstmappen konzipiert, denn es existieren zwei Auflagen A und B, wobei die Serie A vermutlich vom Künstler handsigniert werden sollte. Jedes Exemplar ist nummeriert.[32] Ebenfalls 1946 und im Verlag von Antoni Markiewicz gab Toegel eine Mappe mit vier farbig gedruckten Karikaturen unter dem Titel „Polski wojak na obczyźnie“ (dt. Der polnische Soldat in der Fremde) heraus, die er schon im Jahr zuvor gezeichnet hatte und in denen er offenbar Kameraden aus dem DP-Lager in Osnabrück aufs Korn nahm (Abb. 11/1-11/5). Die Folge erschien nur in polnischer Sprache und ist bislang in einem einzigen Exemplar in der Polnischen Nationalbibliothek (Biblioteka Narodowa) in Warschau überliefert. 2008 tauchte im Auktionshandel in den USA eine Folge mit acht gezeichneten und aquarellierten Karikaturen von Toegel aus dem Jahr 1946 auf, die polnische und amerikanische Soldaten mit ihren Damen zeigt und die persönliche Widmungen trägt.[33]
Ab 1947 arbeitete Toegel mit einem neuen Verleger in Celle zusammen, Tadeusz Starczewski, der ebenfalls aus dem Kreis der polnischen DPs kam. Starczewski war, so die Überlieferung, während der deutschen Besetzung Polens ab 1939/40 in Łódź Kopf der im Untergrund tätigen Gruppe Szaniec (dt. Die Schanze), die zu der im Oktober 1939 in Warschau gegründeten nationalradikalen Untergrundorganisation Eidechsenbund (Związek Jaszczurczy) gehörte. Student und bekannt unter dem Spitznamen „Stary“ (dt. der Alte), gab Starczewski seit dem Sommer 1940 die gleichnamige Untergrundzeitschrift Szaniec heraus, die sich im Dezember in Pochodnia (dt. Die Fackel) umbenannte. Starczewski und die Druckerei der Zeitschrift, welche in der Wohnung der Haushälterin des Pfarrers der Gemeinde Św. Jana Chrzciciela (dt. St. Johannes der Täufer) in Nowe Złotno eingerichtet worden war, wurden im März 1941 von der Gestapo aufgespürt, sämtliche Geistlichen der Gemeinde verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt, während Starczewski Ostern 1941 die Flucht aus dem Gefängnis in der ul. Sterlinga gelang.[34] Starczewski, geboren 1911 in Łódź, war nach eigenen Angaben[35] zuvor von 1934 bis 1939 Hauptschriftleiter beim Zeitungsverlag ABC in Łódź gewesen. Von 1941 bis 1943 arbeitete er als Buchhändler und Verleger mit eigener Druckerei weiter. 1943 wurde er erneut verhaftet, kam ins Konzentrationslager Auschwitz,[36] dann in das KZ-Außenlager Salzgitter-Drütte und schließlich vom 8.7.1943 bis zum 15.4.1945 als politischer Häftling („roter Winkel“) in das KZ Bergen-Belsen. Seit dem 1.11.1945 war Starczewski in Celle gemeldet und stellte dort wenig später einen Konzessionsantrag für den „Verlag und den Verkauf von Büchern und Zeitschriften in polnischer Sprache an Displaced Persons in den Lagern“.[37]
Seine erste Verlagspublikation, die er herausgab und als Redakteur betreute, war eine Zeitschrift für die polnischen Insassen der DP-Lager, die 1945 unter dem Titel Strażnica. Czasopismo dla harcerzy (dt. Wachturm. Zeitschrift für Pfadfinder) – The Boy Scouts Weekly für die Polnische Pfadfinder-Vereinigung im Ausland – Kommando Pfadfindergruppe Celle (Związek Harcerstwa Polskiego poza Granicami Kraju – Komenda Hufca Harcerzy [Celle]) erschien.[38] Strażnica wurde auch der Name des Verlags, den Starczewski in Celle betrieb und in dem 1947 mehrere Broschüren erschienen, unter anderem die Gedichtsammlung „Szlak tęsknoty“ (dt. Die Spur der Sehnsucht) des polnischen Piloten Zygmunt Witymir Bieńkowski (1913-1979), der 1945 über Wesel abgeschossen und in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten war, „Partyzanckim szlakiem“ (dt. Die Route der Partisanen) von Jerzy Szczepańczyk, „Skarb śląski“ (dt. Der schlesische Schatz) der Schriftstellerin und Widerstandskämpferin Zofia Kossak-Szczucka (1889-1968), „O zmierzchu nowele“ (dt. Geschichten bei Einbruch der Dunkelheit) von Zbigniew Topór-Krygler, einem Soldaten der Polnischen Heimatarmee, „Nowele wybrane“ (dt. Ausgewählte Kurzgeschichten) des polnischen Schriftstellers Bolesław Prus (1847-1912), aber auch 1948 eine 68-seitige Broschüre in deutscher Sprache, „Der kleine Betriebsberater in Organisationsfragen“ von Erich Gammelin.[39] 1948 stellte Starczewski erneut einen Lizenzantrag „für die Zeitschrift Strażnica (Zeitschrift in polnischer Sprache für Displaced Persons)“, die bis 1949 erschien.[40] Im selben Jahr meldete sich Starczewski in Celle mit unbekanntem Ziel ab, danach verliert sich seine Spur.[41]
[32] “Printed 1450 numbered copies of each, each series A and B” (Sammlung des United States Holocaust Museum, Washington, http://collections.ushmm.org/search/catalog/bib245657)
[33] PBA Galleries, San Francisco, Auktion vom 20.3.2008 (https://www.liveauctioneers.com/item/5017650_8-caricatures-by-stani)
[34] Widerstandsbewegung in der Kolonie Nowe Złotno. Informationen von Jacek Wystop, auf: Nasze Złotno (http://nasze-zlotno.strefa.pl/jacek-wystop.html). Ich danke Frau Brigitte Nenzel, Übersetzerin und Dolmetscherin, Bonn, für die Übersetzung ins Deutsche.
[35] Stadtarchiv Celle, Findbuch. Ich danke der Archivarin, Frau Sabine Maehnert, für die Auskunft.
[36] Starczewski, Tadeusz (prisoner number: 131167), born: 1911-08-09. Fate: 1. 1943-07-27, Auschwitz, arrived to camp. Sources: 1. Memorial Book Silesia, 2. Arbeitseinsatz (Gefangene des KZs Auschwitz, http://auschwitz.org/en/museum/auschwitz-prisoners/). Die von Starczewski genannte Häftlingsnummer stimmt mit dieser überein.
[37] Meldekarte, Findbuch, Stadtarchiv Celle.
[38] http://www.worldcat.org; http://katalog.nukat.edu.pl
[39] http://www.worldcat.org, Suchwort: Strażnica
[40] Dokument im Niedersächsischen Landesarchiv, Hannover: NLA HA Nds. 53 Nr. 299 (https://www.arcinsys.niedersachsen.de/arcinsys/detailAction.action?detailid=v3000228)
[41] Meldekarte, Stadtarchiv Celle. – Über den weiteren Verbleib von Tadeusz Starczewski ist trotz intensiver Suche nichts bekannt (freundliche Mitteilung von Dr. Agnieszka Łakomy vom 5.3.2016).
Toegel gab 1947 in Starczewskis Verlag Strażnica einen weiteren Zyklus von fünfzehn Karikaturen heraus, diesmal im Schwarzweißdruck, in Heftform und mit Kapitelband unter dem Titel „Olymp of Today“, dessen einziges heute bekanntes Exemplar in der Polnischen Nationalbibliothek den Stempel der Polish Combatants' Association (Stowarzyszenie Polskich Kombatantów) – Branch in the British Zone trägt. Die Folge zeigt Karikaturen internationaler politischer Führungspersönlichkeiten der Zeit, denen er Namen aus der griechisch-römischen Mythologie gab und die er in antike Phantasiekostüme kleidete. Beschäftigt sind sie mit der Errichtung einer friedlichen neuen Welt (Abb. 12/1-12/4).
Als letztes Werk von Toegel in Deutschland erschien ebenfalls 1947 im Verlag Strażnica ein Heft für Kinder mit dem Titel „Przygoda Kosmatki“ (dt. Zottelchens Abenteuer) mit Text von Rozmaryna Łozińska[42] und Illustrationen von Stanisław Toegel (siehe PDF). Die Titelfigur Zottelchen (Kosmatka) ist wie ihre Schwestern Streifelchen, Flügelchen, Dickbäuchlein und Honigbienchen, die im polnischen Original Pasiatka, Skrzydlatka, Gruby Brzuszek und Mioduszka heißen, eine Biene, die meint alles zu können: auf das Haus aufzupassen, Gefahren abzuwehren und erfolgreich zu arbeiten. Als die diebische Wespe Osa-Złodziejosa das Haus angreift und Regen die Honigernte verhindert, versagen die Schwestern kläglich und werden von Zottelchen verspottet. Den Angriff der kleinen schwarzen Ameise Mrówka-Czarnówka kann jedoch auch Zottelchen nicht abwehren, verliert ihren Honig, wird von den Schwestern aber nicht gescholten, sondern getröstet und verspricht: „Nie wieder werde ich jemanden necken. Ich will gut zu allen sein.“[43]
Es ist offensichtlich, dass das Heft den erstmals 1912 veröffentlichten Roman „Die Biene Maja und ihre Abenteuer“ von Waldemar Bonsels zum Vorbild hat, der in Polen den Titel „Pszczółka Maja i jej przygody“ trägt und auch dort seit den 1920er-Jahren in verschiedenen Ausgaben erschien. Nicht nur geben die Bienen als Hauptdarsteller und das Titelwort „przygoda“ einen ersten Hinweis. Auch andere Figuren aus Bonsels Roman wie die alles wissende Erzieherin Kassandra, die Räuberbande der Ameisen und das kriegerische Volk der Hornissen haben Łozińska und Toegel im Sinne einer sehr viel kürzeren Fassung umgedeutet. Toegel vermenschlichte in seinen leuchtend farbigen Illustrationen die Insekten, indem er sie nicht nur mit weiblichen Köpfen und Frisuren der Zeit, sondern sogar mit Stahlhelm und Gewehr ausstattete, als der Angriff der diebischen Wespe zu illustrieren war. Es sind ähnlich sorgfältig geschminkte Damen, wie er sie für seine Folge „Polski wojak na obczyźnie“ (Abb. 11/4) und für die privaten Karikaturen mit polnischen und amerikanischen Soldaten porträtierte. Die übergroße Darstellung von Gräsern, Sträuchern und Blumen, die allgemein bei Kinderbüchern geläufig ist, hat Toegel aus keiner der bis zu diesem Zeitpunkt erschienenen Ausgaben des originalen Biene-Maja-Romans übernommen.[44] Sie ähnelt jedoch auffällig einem in den 1920er-Jahren entstandenen Brettspiel mit dem Titel „Die Biene Maja“, das die Kinderbuchillustratorin Else Wenz-Viëtor (1882-1973) mit fünfundvierzig Bildern illustrierte (Abb. 13),[44] und das vielleicht irgendwo in Toegels Umgebung vorhanden war.
Bei Strażnica erschien auch eine deutsche Ausgabe des Kinderhefts, deren Titel „Ein Märchen von dem Bienchen ‚Meja‘“ noch deutlicher auf Bonsels‘ Vorbild verweist (siehe auch PDF). Sie verschweigt die Namen der beiden Urheber Łozińska und Toegel aus welchen Gründen auch immer, wobei Toegel als Illustrator jedoch leicht aus den Signaturen der Bilder zu entschlüsseln ist. Bei geringfügig anderer Textverteilung sind die Unterschiede zum polnischen Original gering. Mejas Schwestern heißen nun Zottelchen, Stockelchen, Honiglein, Dickelchen und Nickelchen, und Meja resümiert am Ende: „Nie wieder will ich die anderen plagen oder etwas Böses sagen!“
1948 ging Toegel nach Polen zurück, blieb für einige Zeit in Breslau und siedelte sich dann in Bytom an. Dort starb er 1953 im Alter von nur achtundvierzig Jahren an einer Krebserkrankung. Drei Monate vor seinem Tod wurde sein erster und einziger Sohn geboren. 2015 ehrten Ausstellungen im Oberschlesischen Museum in Bytom (Muzeum Górnośląskie w Bytomiu, Abb. 14) und im Warschauer Museum für Karikatur (Muzeum Karykatury im. Eryka Lipińskiego w Warszawie) das Lebenswerk des Künstlers.
Axel Feuß, April 2016
[42] Ob es sich bei Rozmaryna Łozińska um die Soldatin der Polnischen Heimatarmee Maria Bronisława Łozińska mit dem Decknamen Rozmaryna handelt (1944 Chefin der VI. Abteilung des Biuro Informacji i Propagandy [dt. Büro für Information und Propaganda] bei der Bezirkskommandantur Kielce, Redakteurin der Zeitschriften Prawda Polska [dt. Die Polnische Wahrheit] und Prawda Polska. Komunikat [dt. Die Polnische Wahrheit. Kommuniqué]), bleibt Spekulation (http://akokregkielce.pl/lozinska-maria-bronislawa-rozmaryna.html).
[43] Die polnischen Namen der Insekten sind von ihren Eigenschaften abgeleitet: kosmaty (dt. zottelig), pasiaty (dt. gestreift), skrzydlaty (dt. geflügelt), gruby brzuszek (dt. dickes Bäuchlein) und so weiter. Übersetzungen von Brigitte Nenzel, Übersetzerin und Dolmetscherin, Bonn.
[44] Illustrierte Ausgaben des Romans „Die Biene Maja und ihre Abenteuer“ erschienen seit den 1920er-Jahren mit Illustrationen von Fritz Franke, Franziska Schenkel, Ottmar Frick und Waltraut Frick-Kirchhoff, die alle einen völlig anderen Charakter als Toegels Illustrationen haben. Ähnlich wie Toegel illustrierte der Künstler Anton Kolnberger (1906-1976) die Pflanzenwelt des Romans. Die von ihm illustrierte Ausgabe erschien jedoch erst 1953.
[45] Brettspiel „Die Biene Maja“, 1920er-Jahre. Einzig autorisierte Ausgabe nach dem Märchen von Waldemar Bonsels, mit 45 Bildern von Else Wenz-Viëtor, Verlag Otto und Max Hausser, Ludwigsburg, um 1921-1930. Exemplare im Spielzeugmuseum Nürnberg und im Museum Europäischer Kulturen, Berlin, sowie im Handel.
Veröffentlichte Werke von Stanisław Toegel:
Album karykatur politycznych. Vorwort von Mirosław Ogórek, Lwów (Lemberg): Druk. Narodowa, 1932 (Polnische Nationalbibliothek / Biblioteka Narodowa, Warschau: A.5779/Repr.XX/IV-352)
Hitleriada furiosa, Celle: Antoni Markiewicz, 1946 (Polnische Nationalbibliothek / Biblioteka Narodowa, Warschau: A.2176/Repr.XX/IV-67)
Hitleriada macabra, Celle: Antoni Markiewicz, 1946 (Polnische Nationalbibliothek / Biblioteka Narodowa, Warschau: A.2174/Repr.XX/IV-65)
Polski wojak na obczyźnie, Celle: Wydawnictwo Antoniego Markiewicza, 1946 (Polnische Nationalbibliothek / Biblioteka Narodowa, Warschau: A.2195/Repr.XX/IV-77)
Olymp of Today, Celle: Strażnica, 1947 (Polnische Nationalbibliothek / Biblioteka Narodowa, Warschau: A.4932/Repr.XX/II-376)
Rozmaryna Łozińska: Przygoda Kosmatki. Illustrationen von Stanisław Toegel, Celle: Wydawnictwo „Strażnicy“, 1947 (Polnische Nationalbibliothek / Biblioteka Narodowa, Warschau: 1.980.926 A Cim.)
Ein Märchen von dem Bienchen „Meja“, Celle: Verlag „Strażnica“, 1947 (Privatbesitz)
Literatur:
Ausstellungs-Katalog Hitleriada Furiosa. Hitleriada Macabra. Karikaturzyklen von Stanisław Toegel, Deutsches Polen-Institut, Darmstadt 2005
Marcin Hałaś: Karykaturzysta odkryty na nowo, in: Życie Bytomskie, 18.5.2015, Seite 13
Maciej Droń: Stanisław Toegel. Karykatury wojenne i polityczne, auf: silesiakultura.pl, 18.5.2015, http://www.silesiakultura.pl/r/miasta/bytom/bytom/stanislaw-toegel-karykatury-wojenne-i-polityczne
Marcin Hałaś: Zapomniany karykaturzysta ze Lwowa, in: Polska Niepodległa, 30.8.2015
Webseite „Stanisław Toegel private Memorial Exhibition”, Regina Zienczyk, Bad Dürkheim: www.art-division.de