Momente dessen, was wir Geschichte und Momente dessen, was wir Gedächtnis nennen
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Momente dessen, was wir Geschichte und Momente dessen, was wir Gedächtnis nennen
Das Vernichtungslager Sachsenhausen in den Fotografien von Marian Stefanowski
Leere, aufgeräumte, gepflegte Flächen gibt es im Übermaß. Ohne Menschen. Gewiss taucht gelegentlich eine anonyme Person oder eine Gruppe von Besuchern auf, festgehalten bei der Besichtigung eines Teils der Ausstellung, die sehr sachverständig zusammengestellt wurde und die − wie in allen Reiseführern nachzulesen ist − umfassende Informationen vermittelt. Doch dies alles stellt einen unkonkreten Hintergrund dar. Es sind Gäste aus einer anderen Welt, Fremde. Silhouetten oder Geisterschatten der Hauptverantwortlichen für das schreckliche Drama gibt es nicht. Diese Abwesenheit verblüfft und beunruhigt zugleich. Je länger ich von Bild zu Bild schreite, desto mehr bin ich der Überzeugung, dass diese Abwesenheit kein Zufall ist. Sie verdankt sich irgendeiner Absicht des Fotografen. Zumindest stellt sie irgendeine Fährte dar, auf die der Betrachter gelockt wird.
Ich war noch nie in Sachsenhausen und ich habe noch nie ein Konzentrationslager besucht. Ich verspürte kein Bedürfnis, mich dort aufzuhalten, nicht, weil mir die Existenz der KZs und ihre Geschichte unbedeutend wären. Ganz im Gegenteil. Für mich warfen Lagererlebnisse schon seit meiner Schulzeit − und ich gehöre der Generation an, die mit Büchern und Wissen über den letzten Weltkrieg reichlich gefüttert wurde − Fragen auf: nach dem Menschen, nach seiner Kultur und Geschichte, nach seinem Selbstverständnis, nach der moralischen und der gesellschaftlichen Ordnung, die der Mensch erzeugt, und zwar auf eine kompromisslose, verdichtete und sogar brutale Art und Weise. Das waren keine historischen, sondern rein anthropologische Fragen. Die Lagererlebnisse stellen eine beispiellose Grenzerfahrung dar, nicht die erste und nicht die einzige, jedoch extrem und zeitlich nah genug, um sie nicht einfach als historisches Fossil zu verdrängen, das den Seelenfrieden stört. Beim Lesen von Büchern und beim Anschauen von Filmen war mir all das bewusst. Was hätten die Besuche also Neues hinzufügen können, außer einem emotionalen Schauer auf den Pfaden des Verbrechens, an den Orten der Folter? Dies gilt umso mehr, als die Begegnungen mit der Vergangenheit an solchen Orten nicht unmittelbar sind: das Lager, das wir besuchen ist kein wirkliches Lager, unsere Situation entspricht keineswegs der Situation der Opfer. Auch nicht der Situation der Henker. Die Mühe kann man sich sparen.
War das meinerseits ein typischer Versuch, um meine Angst zu rationalisieren? Mit Sicherheit, ja. Marian Stefanowskis Fotografien vom Lager Sachsenhausen habe ich mir mit zunehmend großem Interesse angesehen. Möglicherweise deswegen, weil wir in diesem Fall mit einer Erkenntnis zu tun bekommen, die sukzessive vermittelt wird: die Spuren der empirisch unzugänglichen Vergangenheit nehmen wir durch den Blick, die Perspektive und die Auswahl eines Anderen wahr. Außer der Frage nach dem Gegenstand stellt sich auch die Frage nach dem Medium, das in diesem Fall die Rolle eines emotionalen Puffers übernimmt. In meinem Empfinden erwies sich Stefanowski als diskretes, transparentes Medium. Verborgen hinter seinem Thema hat er einen Zyklus vollkommen neutraler, distanzierter und kühler Fotos geschaffen, bei denen er auf aufgesetzte Expressionen und Kommentare verzichtet, die den Betrachter zu irgendetwas verleiten könnten. Seine fotografische Dokumentation ordnet sich dem besagten Ort vollkommen unter, ist fachkundig und systematisch. Sie bietet Gedächtnisorte, allgemeine Skizzen, einzelne Exponate, Gedenktafeln, sporadische Besuchergruppen und... sehr viel freie Fläche. Geordnete, saubere, gepflegte Fläche, die trotz alledem und trotz der Stille wie ehedem von Stacheldraht und Wachtürmen eingeschlossen ist. Eine aufgeräumte Bühne, die auf den nächsten Aufzug eines Dramas wartet? Für mich persönlich ist dies keine Metapher, eher ein gewollter Gedächtnismoment, in dem wir uns im Hier und Jetzt befinden. Die letzten Zeugen sterben aus, die generationsbedingte emotionale und kognitive Entfernung wächst. Schließlich weicht die Erinnerung an das Erlebte vor unseren Augen der nur noch konstruierten Erinnerung. Es liegt an uns, mit wem, womit und in welcher Konfiguration wir diesen menschenleeren Ort füllen. Es liegt an uns, den rätselhaften Besuchern, die, je nachdem wie groß die eigene Neugierde und wie stark die moralischen Grundsätze sind, dieser Erinnerung eine endgültige Gestalt verleihen, wenn sie mit dieser Flut an dramatischen Informationen konfrontiert und damit zugleich aus der Alltagsroutine herausgerissen werden. In seiner Konfrontation mit dem Problem überlässt Marian Stefanowski die letzte Entscheidung darüber dem Betrachter.