Veränderungen auf dem Ozean. Über die Kunst von Agata Madejska
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Die bereits angesprochene Symmetrie der Spannungen der Gegenwart, der schmerzhaften Fragmentierung der Welt empfunden heute bei jedem Update einer – nomen est omen – „wall“ (Pinnwand in sozialen Netzwerken), und der Brüche im politischen Raum, auf die die Künstlerin ihre Suche richtet, gibt der Zyklus „Tender Offer“ (2017) sehr gut wieder. Die Londoner City wird seit der Mitte des 20. Jahrhunderts von Drachenskulpturen geschützt, die den Stadtteil begrenzen sowie seine Autonomie und deren Bedeutung symbolisieren. Madejska schaut sich diese Installationen jedoch nicht als Touristin an. Sie interpretiert sie als Zeichen und wählte daher die spezifische Perspektive auf den Genitalbereich/Geschlechtsteile/Intimbereich der Fabelwesen. Die Bilder dieses Zyklus, die der Fotokunst von [Robert] Mapplethorpe nahestehen, zielen erstaunlicherweise nicht auf eine erotische Botschaft ab, wenn man unterstellt, dass Sex nichts mit Gewalt und Dominanz zu tun hat. Doch die emotionale Aufladung mythischer Raubtiere ist nachvollziehbar und mit der Übermacht der Männer, die die Finanzmärkte steuern, zu assoziieren.
Madejskas verhaltene Sichtweise, die durch die Formate der Arbeiten und die starken Kontraste sehr physisch ist, spricht auch dafür, wie sie den Raum vermisst. Für die meisten Menschen, die ihre Köpfe recken, um die Londoner Drachen zu sehen, entstehen nur flüchtige Bilder, die im Akt der Betrachtung nicht abzuspeichern sind. Bei Madejska werden sie zur einzigen greifbaren Aufnahme verdichtet.
Der mit Hilfe der Drachen – der Grenzwächter – kartierte Raum des Finanzzentrums Europas ist ein Ort, an dem, wie Anna Gritz schreibt[6], die unsichtbare Macht des Geldes wirkt. Obwohl heutzutage meistens virtuell (womit sich Tolkiens “Smaug” sicherlich nicht abfinden würde) beeinflußt sie das Stadtbild auf eine den Großstadtlegenden würdige Art und Weise. Das voll verglaste Hochhaus in der Fenchurch Street 20, das angesichts seiner spezifischen, nach oben hin immer breiter werdender Form im Volksmund Walkie-Talkie genannt, wirkt [unter Sonneneinstrahlung, Anm. d. Übers.] wie ein Brennglas und stellt eine Gefahr für seine Umgebung dar, in dem es Teile der Fahrzeuge zum Schmelzen bringt.
Ein solches Ereignis ist für Madejska ein weiterer Bruch von vielen, ein Detail, mit dem sie arbeiten kann. Im Zeichen ihrer Leidenschaft für Alchemie schuf sie die Arbeiten „Technocomplex“ (2017)[7], mit denen sie die Grenzen zwischen Fotografie und Skulptur überschreitet. Aus der Verbindung der lichtempfindlichen Emulsion mit einer Fläche aus geschmolzenem Zinn, deren Form von archaischen Kräften (vielleicht der Drachen?) beeinflusst zu sein scheint, entstehen abstrakte, lebendige Reliefs, die an etwas aus einer Stahlhütte stammenden erinnern, an etwas schweres und hartes, auch wenn sie zugleich, wie so oft bei Madejska, außerdem immer noch zarte, fließende Flecken sein können.
„Technocomplex“ ist ein Artefakt, das unmittelbar aus einem sich verändernden Raum ausgetragen wurde. Zum einen, weil die Globalisierung die Funktion des Geldes verändert hat, zum anderen, weil die Digitalisierung (die nächsten Magmaströme) dazu beitrug, Geld als Äquivalent für Arbeit und Zeit zu deformieren. Im Übrigen sind die Drachen erwacht, die die Grenzen des Raums, den sie schützen, mit dem bevorstehenden Brexit weiterhin markieren. Fragt sich nur: schützen vor wem?
Auf der einen Seite ist Agata Madejska die Künstlerin, die sich mit der Untersuchung von Spalten, von Veränderungsschüben und mit der Unvollkommenheit des politischen Raums befasst, was dazu führt, dass dieser Raum vital bleibt, während er im Laufe der Zeit den Veränderungen durch menschlichen Druck und Konflikte unterliegt.[8] Auf der anderen Seite stellt sie Allgemeineres dar, indem sie versucht, das fragmentierte Hier und Jetzt zu verlassen. Diese Pendelbewegung auf der Skala ist ein dialektisches hin und her. Beide miteinander zusammenhängenden Aktivitäten schaffen ein neues Bild, das irgendwo dazwischen existiert und oft wie die Prozesse selbst in Grautönen versinkt. Die Dominanz dieser Farbe scheint zwei Ursachen zu haben, deren erste in der Fotografie selbst aufzusuchen ist, nämlich in ihrem System der Belichtungsmessung, das die Welt zu einem achtzehnprozentigen Grauton reduziert, der idealerweise zwischen reinem Weiß und reinem Schwarz liegt. Der Künstlerin erlaubt diese Reduktion des Systems, überflüssige Details, die auch Momente der Gegenwart sind, zu eliminieren. Der zweite Grund für diese Dämpfung von Farbe verdankt sich der Fokussierung auf die Modalität an sich. In einem Grauton können sich verschiedene Farbstiche, also verschiedene Ereignisse, verbergen.
In diesem Grau verschwindet nichts, sondern es entwickelt sich etwas Neues. Der Ozean arbeitet und verarbeitet ständig, er schlägt neue Formen vor, die bei anhaltender Betrachtung erste Verallgemeinerungen liefern, auch wenn sie weiterer Anmerkungen bedürfen.
Die Künstlerin bedient sich der fotografischen Metapher, wobei sie die Belichtungszeit maximal verlängert, so dass die Details verwischen und die Farben verschwimmen. Um dies zu belegen, sind die großformatigen Textilien in der Ausstellung des Warschauer Jüdischen Historischen Instituts oder die ebendort gezeigte Arbeit „Every City Has Its Echo“ (2017) zu zitieren, die in Grautönen mit dem architektonischem Element des Blue Tower Plaza (Błękitny Wieżowiec) spielt, das an der Stelle der von den Nazis gesprengten Großen Synagoge steht. Alles Überflüssige, was zu einem gehetzten Ich gehört, wurde hier entfernt. Ähnlich ist es mit der Wahrnehmung der Arbeit „25-36“ (2010), die dem kanadischen Monument für im Ersten Weltkrieg gefallene Soldaten gewidmet ist. Sie wurde in der berühmten Ausstellung „Conflict, Time, Photography“ (2014) in der Tate Modern gezeigt und beschäftigt sich wie viele der dort präsentierten Werke mit dem schwierigen Verhältnis der Erinnerung an das Ereignis und an die vorübergehende Zeit. Die Zeit ist wie ein Dschungel, in dem selbst die solidesten Konstruktionen zerfressen werden können, wenn nicht an der Wahrung ihres Zustands gearbeitet wird. Aus diesem Grund ist das Monument wie von Nebel verhüllt und nur in Umrissen zu erkennen.[9]
[6] Anna Gritz, Ballsy w Technocomplex, Stuttgart, 2017, http://www.madejska.eu/images/Ballsy_PDF_web.pdf
[7] Ursprünglich zusammen mit dem Zyklus „Tender Offer“ präsentiert, anlässlich der Ausstellung „Technocomplex“, Parrotta Contemporary Art, Stuttgart, 2017.
[8] In diesem Ansatz macht sich Agata Madejskas Erfahrung als Leserin bemerkbar. Dabei geht es um „Die Bienenfabel“ von Bernard Mandevill, eine Satire auf das England der Aufklärungszeit, die den Staat mit der Metapher eines Bienenstocks beschreibt, der sich dem Diktat der vollkommenen Tugenden unterwirft, und zwar dem Verzicht auf Faulheit, Verbrechen und Habgier. Alle, die sich den strengen Regeln des Staates nicht unterwerfen wollen, können darin nicht funktionieren. Bei Mandeville führt dieses Diktat letztlich zum Aussterben des Staats und der Gesellschaft. Für den Philosophen ist die menschliche Unvollkommenheit ursächlich für die Unvollkommenheit des Systems, doch gerade dank ihrer, wie er sagt, können sich der Staat und die Gesellschaft entwickeln und ein besseres Miteinander bewirken. Menschliche Laster erweisen sich damit als Urkraft des Staats.
[9] Der Ansatz der Künstlerin erinnert nicht nur an Stanisław Lems Solaris-Forscher, sondern auch an die Einstellungen von Jed Martin aus Michel Houellebecqs Roman „Karte und Gebiet“, und zwar vor allem im Hinblick auf die spürbare Skepsis. Auch er zog es vor zu beobachten, wie die Dinge dauern und was die Zeit mit ihnen macht, um immer wieder die abstrakte Essenz aus ihnen herauszufiltern.