Veränderungen auf dem Ozean. Über die Kunst von Agata Madejska
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„Die entstehenden Perturbationen kürzen und längen abwechselnd die Bahn des Planeten, und sollten Urkeime von Leben entstehen, so unterliegen sie der Zerstörung durch glutheiße Strahlung oder auch durch eisige Kälte. Diese Änderungen vollziehen sich im Zeitraum von Jahrmillionen, also der astronomischen oder biologischen Größenordnung nach (da die Evolution hunderte Millionen, wenn nicht eine Milliarde von Jahren erfordert) – in sehr kurzer Zeit.”[1]
In einer in Fragmente zerfallenen Welt, in der einzelne Lebensgeschichten nur in der Gegenwart beginnen und sich ereignen, wird es immer schwieriger, sich zu erinnern und Elemente der Ganzheit aufzufinden. Genau genommen ist dies ein Widerspruch in sich und unerträglich unfruchtbar. Jeder Versuch, über die Betrachtungsweise einer einzigen Lebensspanne hinauszublicken, wird von der Last der Zweifel und den verworrenen Handlungssträngen, von möglichen Neudeutungen und von Entlehnungen niedergedrückt. Simulakren füllen Alben und Erinnerungen, Worte bleiben als mehrstufige Metaphern, die Faktenlage wird auf ihre Medienwirksamkeit und kurze Halbwertzeiten reduziert.
In einer Welt, in der die Gravitation immer noch gilt, können sich selbst Beton, Stein und Stahl ihrer Lebensdauer nicht mehr sicher sein. Bauten verfallen und werden aus den Landschaften retuschiert. An ihrer Stelle entstehen unmittelbar neue Objekte; Denkmäler werden gestürzt, versetzt und mitunter verhüllt oder nachgearbeitet. Bei all der Elastizität und Dehnbarkeit der neuen Wirklichkeit beeinflusst sie die unlängst noch soliden, von Menschenhand geschaffenen Objekte ganz entschieden und aggressiv.
Der Raum, der einem so dynamischen Wandel unterliegt, hat selbst dort, wo er ursprünglich grün war, schon lange seine Natürlichkeit eingebüßt. Längst gehört er dem Menschen. Das ganze Arsenal technischer Instrumente, das diese Transformation unterstützt, bestätigt nur dieses Dominium [Herrschaftsbesitz, Anm. d. Übers.] wie eine Art ewige Folter.
Diese Verfügung über die Dinge ist in ihrem Ausmaß insofern bemerkenswert, weil man aus diesem Zustand nicht aussteigen kann. Er weist einen totalitären Charakter auf, obwohl auf Grund der aufklärerischen Ideale: der Kontrolle, der Erkenntnis und der Vervollkommnung, so scheint es, nicht viel oder nur so viel übriggeblieben sei, wie von der um sich greifenden Entropie zugelassen wird. Dadurch wird selbst die panoptische Vision auf einem Auge blind.
Bei alle dem verlangt dieser Hyperraum nach genauer Bezeichnung, wenngleich man wohl sagen kann, dass er die menschliche Wirklichkeit ist. Dennoch fehlt in dieser Definition die Einbeziehung der Dynamik, die die heutige Disparität und die Ängste so sehr prägt, und welche die wachsende Entropie als solche die ihre eigene Quelle hat, betrachten läßt. Es ginge also um eine Kraft, die jeden und alles berührt. Diese Kraft könnte die Politik sein – im weitesten Sinne begriffen als ein Katalog von Maßnahmen, die das Leben der Menschen organisieren, es in einem Netz sich überschneidender Interessen verstricken und die zulassen, die individuelle Existenz des Menschen zugunsten der Masse und der Verallgemeinerung zu abstrahieren. Hinter dieser Kraft, die alles Menschliche absorbiert, vor dem Hintergrund und ihrem Ausmaß, steckt der Urmechanismus des menschlichen Handelns: die Notwendigkeit durch Gruppenbildung zu überleben, um die Chancen der Arterhaltung zu steigern.
Es ist aber kein homogener Raum, keiner, der vollständig verplant und mustergültig entwickelt wäre. An vielen Stellen scheint er zu bersten, neu zu entstehen, an seinen Krümmungen zu implodieren. Für Agata Madejska stellt dieser so vitale Ozean ein Objekt ständiger künstlerischer Auseinandersetzung dar. Die schon angedeuteten Risse, Spalten und Schwankungen interessieren sie am meisten und werden von ihr mit allen Ängsten, die an der Gegenwart zerren, zusammengestellt. Bestes Beispiel dieser Praxis ist ein Werkzyklus ohne Titel, der aus einer Reihe abstrakter, großformatiger Fotografien besteht, die fast organische, zellenartige schwarz-weiße Strukturen zeigen. Eben dieser erste Eindruck spricht für das Magma, für die Orientierungsprobleme im Hier und Jetzt. Erst bei näherer Betrachtung, wenn sich der Blick beruhigt hat, tauchen aus dem Magma Formen Anordnungen und Details auf. Die schwarz-weißen Punkte gewinnen an Wert, indem kleine Muscheln und Fossilien, also in Steinen eingeschlossene prähistorische Organismen, sichtbar werden und es dauert einige Zeit, bis die Titel der Arbeiten wie „DeBeers“ (2017), „London Stock Exchange“ (2017) und „The Economist“ (2015), den weiteren Teil der Geschichte erzählen. Diese minimalistischen Arbeiten sind Collagen von Kalksteinfotografien, aus denen die Gebäude der einst größten Handelsfirma für Diamanten der Welt sowie der Londoner Börse bestehen. Jeder Abzug entsteht als einmalige Aufzeichnung – eine Montage verschiedener Aufnahmen und bildet dadurch die in den Steinen enthaltene und im Laufe der Zeit zersetzte Modalität ab.
Madejska wählt ganz bewusst Objekte aus, die Schnittpunkte im politischen Raum, quasi dialektische Bereiche der Macht, darstellten, kartierte sie jedoch unterhalb des Horizonts des aktuellen öffentlichen Diskurses.[2] Mit diesem archäologischen, die Fundamente freilegenden Konzept fragt sie nach der Dauerhaftigkeit der Objekte. Die sichtbaren Versteinerungen, die unter dem Druck der Zeit Verwandlungen unterlagen, lieferten unter anderem die Materialien für die Bauwerke menschlicher Macht. So dargelegt wird Madejskas Einstellung zum untersuchten Raum und seiner Ordnung deutlich, die ihr gesamtes Werk betrifft. Sie nimmt den Dingen ihr Pathos und ihre grandiose, postaufklärerische Herausforderung einer unbekannten Zukunft. Madejska nimmt an, dass der Raum, den sie von innen betrachtet, ebenfalls Metamorphosen und der Zerlegung in kleinste Partikeln unterliegt. Auch deshalb ist die Selbstsicherheit, von der die Architektur der Macht begleitet wird, Erosionen ausgesetzt. Sogar die Institutionen haben zu bedenken, dass sie von ihren toten Ahnen gestiftet worden sind.
[1] Stanisław Lem, Solaris, aus dem Polnischen übersetzt von Irmtraud Zimmermann-Göllheim, Suhrkamp Taschenbuch, Hamburg, 1978, S. 22.
[2] Ähnlich verfährt die Künstlerin in dem Zyklus „Ideogram“ (2007-2009), der verschiedenen Bauwerken der scheinbaren Macht gewidmet ist – gläsernen, generischen Hochhäusern, in denen anonyme Marktprozesse vor sich gehen.
An dieser Stelle lohnt es sich, kurz vor einer Entdeckung innezuhalten, die im Erleben der Arbeiten von Agata Madejska bedeutsam sein kann. Sie trifft sowohl auf Projekte zu, die die Künstlerin für die Ausstellung „Miejsce. Tłomackie 3/5“ (Ort. Tłomackie 3/5; 2017)[3] im Auftrag des Jüdischen Historischen Instituts (Żydowski Instytut Historyczny) durchgeführt hat, indem sie die komplizierte Geschichte des Institutsgebäudes erkundete[4], als auch auf den Zyklus „Tender Offer“ (2017) über die Londoner City, oder auf den Fotoessay „Temporary or Permanent“ (2011) für das Museum Folkwang sowie auf die bereits erwähnten Arbeiten: „DeBeers“, „London Stock Exchange“ und „The Economist“. Alle befassen sich mit dem Thema Architektur, was vor allem eine konsequente Strategie der Künstlerin zeigt. In diesem schwer zu erfassenden politischen Raum nimmt sie seine Ausblühungen und Ausbuchtungen auf. In dieser Haltung geht sie ähnlich wie die ersten Solaristen vor, indem sie sich auf die Aktivität der komplexen Struktur konzentriert um sie zu offenbaren und bestätigen.
Dies ist jedoch noch nicht die Entdeckung an sich, sondern erst die Verbindung von Architektur und Fotografie. Während diesem Medium historisch eine große Nähe zur Malerei zugeschrieben wird, verdeutlicht sich bei Madejska die Anpassung der Kamera an Körper und Raum mit aller Kraft. Dies geschieht auf eine besondere Art und Weise, die dem Denken und Erkennen der Betrachter dieser Objekte den Vorrang gibt. Die Künstlerin stellt diese Objekte in den sich verändernden politischen Hyperraum, als ob sie versuchte, die sich überschneidenden Vektoren der diversen Interessen hervorzuheben. In diesen Unterfangen folgt sie den Details, den Unebenheiten und den Spalten, als ob sie die einzelnen Inhalte dieses Raums den Aussagen von Mildred und Edward Hall zufolge, mit ihrem eigenen Körper vermessen würde. Sie selbst äußert sich dazu in ihrem Briefwechsel mit Johanna Jaeger anlässlich der Ausstellung „Johanna Jaeger & Agata Madejska“[5], in dem sie schreibt, dass sie den Raum nicht nur mit den Augen wahrnehme, sondern dass sie ihr Wirkungsfeld, den Raum, der optozentrischen Wahrnehmung trotzend mit ihrem ganzen Ich erfahre.
Was Agata Madejska aus dem so vermessenen Raum dann hervorholt, ist nicht so sehr eine nachträgliche Erinnerung als vielmehr die Visualisierung ihrer Aufschiebung. Als Beispiele sind hier Raumarbeiten aufzuführen, die eine Mischung aus fotografischer Lichtempfindlichkeit und ungewöhnlichen Medien wie Betonzylinder (For Now [Folly]), 2015), glatte Tafeln, fast spiegelartige Materialien (From Now On [Folly], 2014) und schließlich frei hängende Textilien, die langsam auf das in den Saal einfallende Licht reagieren (Near Here, Not Here, Come Here, Over Here, Right Here, Here We Are, 2017). Diese Arbeiten streben keine figurative Aufzeichnung, sie dienen nicht der Indexierung oder dem Aufruf historischer Fakten, sondern sie gestatten dem Betrachter eher, für einen Moment in den Raum sowohl als Magma als auch als Form einzutauchen. Madejskas Arbeiten sind als Stichproben aus dem Urstrom zu sehen, der fortwährend in seinem Bett fließt.
Es ist durchaus möglich, dass die Künstlerin zumindest noch einen weiteren Grund für diese starke Verbindung von Architektur und Fotografie hat. Wie bei dem Medium, das man als Erinnerungsprothese verstanden hat, können Bauwerke ähnliche Konnotationen erzeugen. Man sah in ihnen bis zu den totalitären Erfahrungen im 20. Jahrhundert seit jeher etwas Beständigeres als das menschliche Leben selbst, da sie das Schicksal, die Funktion und die Spuren der Veränderungen im politischen Raum in sich trugen, und dessen Horizont füllten. Beide Erscheinungsformen liefern sich einen Wettlauf mit der Zeit, sowohl rückwärts in die Vergangenheit, die von Ruinen, alten Karten und Denkmälern gekennzeichnet ist, die mit der sentimentalen Umarmung durch Fotografien verschmolzen, als auch Vorwärts in die Zukunft, im Sinne der Bewahrung vor dem Vergessen. Wenn Bauwerke niedergerissen werden, bleiben vielleicht wenigstens Bilder von ihnen erhalten?
Zu beachten ist auch, dass Madejska nicht einfach als Künstlerin nur eines Mediums einzuordnen ist, wenngleich die Fotografie ihr durchaus entspricht. In dem Briefwechsel mit Johanna Jaeger erzählt sie an anderer Stelle über ihre frühe Erfahrung mit der Malerei. Die Fotografie trat erst in ihrem Studium in Essen in ihr Leben, wobei sie gerade die Unvollkommenheit der Kunstform interessiert. Die Spalten, die sie als Künstlerin zeigt und zu vertiefen versucht, haben ihren Ursprung in der zweifelhaften Vollkommenheit der Abstimmung dessen, was beabsichtigt ist, festzuhalten, und dem, was im Akt der Fotografie tatsächlich abgebildet wird. Die Differenz zwischen dem Ausgangszustand und dem Endzustand nährt die Skepsis der Künstlerin; nimmt dem Medium seine Finalität sowie die Kraft, etwas gültig zu benennen und zu manifestieren. Es geht nur um Annäherungen und Modalitäten.
Diesen Ansatz verfolgt Agata Madejska zum ersten Mal in ihrer Arbeit „Factum“ aus dem Jahr 2014. Sie besteht aus sechzehn kleinen Tischen mit abstrakten, stereographischen Bildern, die auf mehreren Plexiglasschichten gedruckt wurden. Diese Hybride aus Fotografie, Objekt und Skulptur sind Zeugnisse des Studiums eines außergewöhnlichen Raums um das Sowjetische Ehrenmal in Berlin-Treptow, dessen Einzigartigkeit in der Fixierung eines Spiegelbildes in Stein wiedergegeben wird, das die eigentliche Form des Monuments ausmacht, da die Anlage an ihren beiden Längsseiten von sechzehn Sarkophagen mit der Asche sowjetischer Soldaten eingerahmt ist. Alle Sarkophage wurden mit jeweils zwei Reliefs versehen, in die Zitate von Josef Stalin eingemeißelt wurden, auf der einen Seite auf Russisch und auf der anderen Seite auf Deutsch. Diese Bildtafeln sind als Bühnenelemente zu verstehen, die den Blick des Betrachters nachhaltig auf sich ziehen.
Diese Formen, die in der Wiederholung identisch sein sollten, waren von Anfang an fehlerbehaftet, was einerseits von Menschenhand verursacht wurde, andererseits in der Unzulänglichkeit der Sprache begründet ist, was bei den Übersetzungen deutlich wird. Diese monumentale Spiegelung ist für Madejska der Raum, den sie erforscht. Auf den Tischen werden aufeinandergelegte, hoch kontrastreiche Zusammenstellungen von Spalten in Spiegelblöcken gezeigt, die eben nicht miteinander identisch sind. Dies erinnert an Effekte, die bei elliptischen Spiegeln entstehen, die das Abbild verzerren, mit dem Unterschied, dass bei Madejskas „Factum“ das, was der Betrachter zu sehen bekommt, außerhalb der künstlichen Bildfläche gar nicht existiert. Der Künstlerin gelingt es damit erstmals, etwas hervorzubringen, was sich zwischen zwei Aggregatzuständen bewegt.
Diese Arbeit, die die Einstellung der Künstlerin zur Materie der Fotografie dokumentiert, ist auch im Hinblick auf den Raum des Monuments interessant. Schließlich stellt er einen Erinnerungsort dar, dessen Semantik die Geschichte eines Konflikts enthüllt, wobei das langsam schwindende Verständnis für den Ort, das Madejska mit den auseinander driftenden Schichten darstellt, die eigentliche Wirkung der Zeit in ihren Zwischenräumen zeigt, die sich verändert, die verschwimmt und die zu etwas Neuem wird. Es ist die Eröffnung des in der Post-Erinnerung festgeschriebenen Missverständnispotenzials, der Atrophie der Verbindungen und zugleich eine ironische Darstellung ungehorsamer Dinge, die sich der menschlichen Kontrolle leicht entziehen können, obwohl sie entworfen wurden um zu erinnern.
[3] [Tłomackie ist eine Straße im Zentrum Warschaus, in der sich unter der Nummer 3/5 der Sitz des Jüdischen Historischen Instituts befindet. - Anm. d. Übers.]
[4] http://www.madejska.eu/images/Miejsce%20book%20ENG%20002%202017-11-12-1.pdf
[5] Kunstraum Griffelkunst, Hamburg, 2016.
Die bereits angesprochene Symmetrie der Spannungen der Gegenwart, der schmerzhaften Fragmentierung der Welt empfunden heute bei jedem Update einer – nomen est omen – „wall“ (Pinnwand in sozialen Netzwerken), und der Brüche im politischen Raum, auf die die Künstlerin ihre Suche richtet, gibt der Zyklus „Tender Offer“ (2017) sehr gut wieder. Die Londoner City wird seit der Mitte des 20. Jahrhunderts von Drachenskulpturen geschützt, die den Stadtteil begrenzen sowie seine Autonomie und deren Bedeutung symbolisieren. Madejska schaut sich diese Installationen jedoch nicht als Touristin an. Sie interpretiert sie als Zeichen und wählte daher die spezifische Perspektive auf den Genitalbereich/Geschlechtsteile/Intimbereich der Fabelwesen. Die Bilder dieses Zyklus, die der Fotokunst von [Robert] Mapplethorpe nahestehen, zielen erstaunlicherweise nicht auf eine erotische Botschaft ab, wenn man unterstellt, dass Sex nichts mit Gewalt und Dominanz zu tun hat. Doch die emotionale Aufladung mythischer Raubtiere ist nachvollziehbar und mit der Übermacht der Männer, die die Finanzmärkte steuern, zu assoziieren.
Madejskas verhaltene Sichtweise, die durch die Formate der Arbeiten und die starken Kontraste sehr physisch ist, spricht auch dafür, wie sie den Raum vermisst. Für die meisten Menschen, die ihre Köpfe recken, um die Londoner Drachen zu sehen, entstehen nur flüchtige Bilder, die im Akt der Betrachtung nicht abzuspeichern sind. Bei Madejska werden sie zur einzigen greifbaren Aufnahme verdichtet.
Der mit Hilfe der Drachen – der Grenzwächter – kartierte Raum des Finanzzentrums Europas ist ein Ort, an dem, wie Anna Gritz schreibt[6], die unsichtbare Macht des Geldes wirkt. Obwohl heutzutage meistens virtuell (womit sich Tolkiens “Smaug” sicherlich nicht abfinden würde) beeinflußt sie das Stadtbild auf eine den Großstadtlegenden würdige Art und Weise. Das voll verglaste Hochhaus in der Fenchurch Street 20, das angesichts seiner spezifischen, nach oben hin immer breiter werdender Form im Volksmund Walkie-Talkie genannt, wirkt [unter Sonneneinstrahlung, Anm. d. Übers.] wie ein Brennglas und stellt eine Gefahr für seine Umgebung dar, in dem es Teile der Fahrzeuge zum Schmelzen bringt.
Ein solches Ereignis ist für Madejska ein weiterer Bruch von vielen, ein Detail, mit dem sie arbeiten kann. Im Zeichen ihrer Leidenschaft für Alchemie schuf sie die Arbeiten „Technocomplex“ (2017)[7], mit denen sie die Grenzen zwischen Fotografie und Skulptur überschreitet. Aus der Verbindung der lichtempfindlichen Emulsion mit einer Fläche aus geschmolzenem Zinn, deren Form von archaischen Kräften (vielleicht der Drachen?) beeinflusst zu sein scheint, entstehen abstrakte, lebendige Reliefs, die an etwas aus einer Stahlhütte stammenden erinnern, an etwas schweres und hartes, auch wenn sie zugleich, wie so oft bei Madejska, außerdem immer noch zarte, fließende Flecken sein können.
„Technocomplex“ ist ein Artefakt, das unmittelbar aus einem sich verändernden Raum ausgetragen wurde. Zum einen, weil die Globalisierung die Funktion des Geldes verändert hat, zum anderen, weil die Digitalisierung (die nächsten Magmaströme) dazu beitrug, Geld als Äquivalent für Arbeit und Zeit zu deformieren. Im Übrigen sind die Drachen erwacht, die die Grenzen des Raums, den sie schützen, mit dem bevorstehenden Brexit weiterhin markieren. Fragt sich nur: schützen vor wem?
Auf der einen Seite ist Agata Madejska die Künstlerin, die sich mit der Untersuchung von Spalten, von Veränderungsschüben und mit der Unvollkommenheit des politischen Raums befasst, was dazu führt, dass dieser Raum vital bleibt, während er im Laufe der Zeit den Veränderungen durch menschlichen Druck und Konflikte unterliegt.[8] Auf der anderen Seite stellt sie Allgemeineres dar, indem sie versucht, das fragmentierte Hier und Jetzt zu verlassen. Diese Pendelbewegung auf der Skala ist ein dialektisches hin und her. Beide miteinander zusammenhängenden Aktivitäten schaffen ein neues Bild, das irgendwo dazwischen existiert und oft wie die Prozesse selbst in Grautönen versinkt. Die Dominanz dieser Farbe scheint zwei Ursachen zu haben, deren erste in der Fotografie selbst aufzusuchen ist, nämlich in ihrem System der Belichtungsmessung, das die Welt zu einem achtzehnprozentigen Grauton reduziert, der idealerweise zwischen reinem Weiß und reinem Schwarz liegt. Der Künstlerin erlaubt diese Reduktion des Systems, überflüssige Details, die auch Momente der Gegenwart sind, zu eliminieren. Der zweite Grund für diese Dämpfung von Farbe verdankt sich der Fokussierung auf die Modalität an sich. In einem Grauton können sich verschiedene Farbstiche, also verschiedene Ereignisse, verbergen.
In diesem Grau verschwindet nichts, sondern es entwickelt sich etwas Neues. Der Ozean arbeitet und verarbeitet ständig, er schlägt neue Formen vor, die bei anhaltender Betrachtung erste Verallgemeinerungen liefern, auch wenn sie weiterer Anmerkungen bedürfen.
Die Künstlerin bedient sich der fotografischen Metapher, wobei sie die Belichtungszeit maximal verlängert, so dass die Details verwischen und die Farben verschwimmen. Um dies zu belegen, sind die großformatigen Textilien in der Ausstellung des Warschauer Jüdischen Historischen Instituts oder die ebendort gezeigte Arbeit „Every City Has Its Echo“ (2017) zu zitieren, die in Grautönen mit dem architektonischem Element des Blue Tower Plaza (Błękitny Wieżowiec) spielt, das an der Stelle der von den Nazis gesprengten Großen Synagoge steht. Alles Überflüssige, was zu einem gehetzten Ich gehört, wurde hier entfernt. Ähnlich ist es mit der Wahrnehmung der Arbeit „25-36“ (2010), die dem kanadischen Monument für im Ersten Weltkrieg gefallene Soldaten gewidmet ist. Sie wurde in der berühmten Ausstellung „Conflict, Time, Photography“ (2014) in der Tate Modern gezeigt und beschäftigt sich wie viele der dort präsentierten Werke mit dem schwierigen Verhältnis der Erinnerung an das Ereignis und an die vorübergehende Zeit. Die Zeit ist wie ein Dschungel, in dem selbst die solidesten Konstruktionen zerfressen werden können, wenn nicht an der Wahrung ihres Zustands gearbeitet wird. Aus diesem Grund ist das Monument wie von Nebel verhüllt und nur in Umrissen zu erkennen.[9]
[6] Anna Gritz, Ballsy w Technocomplex, Stuttgart, 2017, http://www.madejska.eu/images/Ballsy_PDF_web.pdf
[7] Ursprünglich zusammen mit dem Zyklus „Tender Offer“ präsentiert, anlässlich der Ausstellung „Technocomplex“, Parrotta Contemporary Art, Stuttgart, 2017.
[8] In diesem Ansatz macht sich Agata Madejskas Erfahrung als Leserin bemerkbar. Dabei geht es um „Die Bienenfabel“ von Bernard Mandevill, eine Satire auf das England der Aufklärungszeit, die den Staat mit der Metapher eines Bienenstocks beschreibt, der sich dem Diktat der vollkommenen Tugenden unterwirft, und zwar dem Verzicht auf Faulheit, Verbrechen und Habgier. Alle, die sich den strengen Regeln des Staates nicht unterwerfen wollen, können darin nicht funktionieren. Bei Mandeville führt dieses Diktat letztlich zum Aussterben des Staats und der Gesellschaft. Für den Philosophen ist die menschliche Unvollkommenheit ursächlich für die Unvollkommenheit des Systems, doch gerade dank ihrer, wie er sagt, können sich der Staat und die Gesellschaft entwickeln und ein besseres Miteinander bewirken. Menschliche Laster erweisen sich damit als Urkraft des Staats.
[9] Der Ansatz der Künstlerin erinnert nicht nur an Stanisław Lems Solaris-Forscher, sondern auch an die Einstellungen von Jed Martin aus Michel Houellebecqs Roman „Karte und Gebiet“, und zwar vor allem im Hinblick auf die spürbare Skepsis. Auch er zog es vor zu beobachten, wie die Dinge dauern und was die Zeit mit ihnen macht, um immer wieder die abstrakte Essenz aus ihnen herauszufiltern.
Der Künstlerin Madejska bedeuten Worte viel. Ihre Suche nach den richtigen Worten ist nicht nur Ausdruck einer gut durchgeführten Recherche, an die zeitgenössische Künstler gewöhnt sind, sondern sie ist ihr eigentliches Arbeitsfeld. Man kann fast sagen, dass ihre Werke ihren Ursprung in Worten haben, da der politische Raum an sich aus ihnen erschaffen wird – sie gehören zu den Hauptmaterialien.
Diese starke Beziehung des Worts zum Werk manifestiert sich bei Madejska auf mehreren Ebenen. Die erste Ebene betrifft die Titel selbst. Sie sind entweder beschreibend und ausschweifend, als würden sie eine Leitmelodie für den Empfänger vorbereiten, wie bei der Arbeit „Near Here, Not Here, Come Here, Over Here, Right Here, Here We Are“ (2017) oder kurz und trocken, wie mit der Präzision eines Apothekers abgemessen - etwa die, die sich auf Entstehungsdaten des Monuments beziehen: „25-36“ (2010), „46-48“ (2010), „81-86“ (2010), „1906“ (2012). Die Titel leiten insofern den Wahrnehmungsprozess der Arbeit ein. Mal, wie im Fall des ersten, setzen sie den Betrachter gewissermaßen in Bewegung, mal geben sie nur einen Hinweis auf die Zeit, also auf seine Auswirkungen.
Eine weitere Beziehungsebene stellt die Verwendung der Werkzeuge dar, die der Künstlerin für ihre Arbeit mit dem Wort – die Beobachtung, wie es seine überflüssigen Präfixe, seine Ergänzungen, seine zeitweiligen Einzelheiten verliert – zur Verfügung stehen. In dieser Hinsicht ist die Arbeit „Mistakes Were Made“ (2018) als Erfüllung dieser Praxis zu sehen. Es handelt sich um bearbeitete, faktenreduzierte Reden von Politikern, vorgetragen von professionellen Schauspielern.
Madejska gelingt es hier, etwas nicht Offensichtliches/Naheliegendes zu berühren. Die Aufzeichnungen der Reden sind eine Art Exposé oder einer Regierungserklärung. Durch gezielte Eingriffe wie Kürzungen und Bearbeitungen mutieren die Reden zu Eingeständnissen von Schwäche, zu Liebeserklärungen und bieten Reflexionen über die Gemeinschaft. Auf der Bedeutungsebene sind diese bewegenden Monologe Laienbeichten vor einer geliebten Person. Im Zeitalter der Post-Wahrheit sind eine größere Aufwertung von Worten und eine stärkere Verknüpfung von ihnen mit Emotionen und Werten, die kennzeichnend für Liebes- und Familienbeziehungen sind, schwer zu finden.
Diese Aufwertung der Worte trägt gleichzeitig dazu bei, dass ihre politische Wirkung universaler wird, so dass sie auf mythische Wurzeln der Abreden zwischen den Regierenden und den Regierten verweist. Madejska arbeitet aus den Winkeln der zersplitterten Geschichte eine auf Worten basierende Gemeinschaft hervor und verleiht ihr neue emotionale Qualität.
In „Mistakes Were Made“ ist diese mythologische Gemeinschaft rau und sehr weich zugleich. Diese Widersprüchlichkeit entsteht in Folge der Bekenntnisse, die letztlich nichts anderes sind, als Geständnisse von Niederlagen, Sünden und von Schwächen der Menschen, die führen und anführen sollen.
Eine so einfühlsame Einstellung zur Gemeinschaft ist wie eine Neubetrachtung des Gesellschaftsvertrags [des Philosophen, Anm. d. Übers.] Thomas Hobbes, in dem das Überleben unter dem Anführer Leviathan als wichtigstes Hauptziel gesetzt wird. In „Mistakes Were Made“ scheint das Überleben keine ausreichende Voraussetzung für die Einhaltung des Vertrags zu sein. Der Augenblick, in dem die Niederlage eingestanden wird und den der Zuschauer in einem durch ein schwarzes Zelt abgetrennten intimen Raum erfährt, ist wie ein Versprechen, den Vertrag umzuschreiben und dabei die neue Forderung zu berücksichtigen, die Gesellschaft zu den gleichen Bedingungen, die für ein Gespräch zweier Menschen in einer engagierten Beziehung gelten, zu subjektivieren.
Agata Madejska versteht das Politische, das den menschlichen Lebensraum organisiert, vor allem als Dynamik menschlichen Handelns. Spannungen und Ausbuchtungen des Raums, der jedenfalls auf der Organisationsebene verschieden sein kann, wie auch der stets aus demselben Stoff bestehender Boden, schreiten voran, solange die Geschichte nicht endet – wie noch vor kurzem Fukuyama glauben wollte. Die Künstlerin ist darum bemüht, die besonderen Augenblicke der Aktivitäten dieses Ozeans an Beispielen aus der Vergangenheit ans Tageslicht zu bringen, in der sie Bilder und eigenartige Genreszenen findet, die helfen, die Kraft des Politischen besser wahrzunehmen; was jedoch nicht heißt, sie besser zu verstehen.
Eine solche Szene ist der Kieler Matrosenaufstand, der 1918 die Novemberrevolution in Deutschland auslöste. Anlässlich des 100. Jahrestags dieses Ereignisses konzipierte Agata Madejska die Ausstellung “Modified Limited Hangout” in Wilhelmshaven, wo seinerzeit die ersten Funken des Aufstands auf die Flotte übersprungen sind.
Es war die bisher größte Einzelausstellung der Künstlerin, in der ihre früher geübten künstlerischen Maßnahmen und Methoden zahlreich zu besichtigen waren. Zugleich wurde, nicht zuletzt wegen dem großen Format der Ausstellung, die Summe der Gesten verstärkt, was dazu führte, dass eine sehr aufgeladene, beklemmende Atmosphäre entstand. Im Grunde genommen war die Ausstellung ein Psychothriller ohne erkennbaren Widersacher und kein Historiendrama mit bekannten Darstellern. Die Künstlerin verzichtete wie immer auf dekorative und figurative Elemente sowie auf einfache Indexierung, so dass vielleicht gerade deshalb im dominierenden Grau kein Gedanke an die Vergangenheit aufkommt, die als nüchterne Beschreibung der Fakten den Grund des Aufstands, die Verweigerung des Gehorsams gegenüber Leviathan, erklären würde. Was hervortritt, ist die Energie zwischen dem Bewusstsein der Ausstellungsbesucher für diese historischen Fakten und dem Jetzt – der in Fragmente zerbröckelten Welt.
Wie bei der früheren Arbeit „Tender Offer“ mit dem bevorstehenden Brexit im Hintergrund, scheint hier der Aufstand in der Vergangenheit eine Art Matrix für etwas Neues zu sein, für etwas, was erst noch erscheinen kann. Indem die Künstlerin auf verschiedenen Ebenen alle zuvor schon probierten Mittel verwendet, unternimmt sie den Versuch, ihre unscharfen Formen zu vermessen. In ihr kann man alle Ängste wie Populismen, Post-Wahrheit, fortschreitende Technologien und das Auseinanderdriften der Gesellschaft finden, einschließlich dem Verlust der Bindungen und dem schwindenden Vertrauen in die Institutionen.
Aus diesem Grund wird in der Ausstellung in der Kunsthalle Wilhelmshaven „Mistakes Were Made“ ausgestellt zusammen mit einer neuen Arbeit, die an die Die gläserne Kette erinnert – einen 1919 von Bruno Taut initiierten Gedankenaustausch unter Visionären und Architekten über die Zukunft der Architektur, die aus der Novemberrevolution hervorgehen könnte. Diesen utopischen Dialog läßt Madejska wieder in “Wohin sollen wir uns wenden, um wohin zu gelangen?” (2018) –einer niedergeschriebenen Diskussion zwischen Nina Franz, Rebekka Ladewig und Eva Wilson neu aufleben. Es is ein weiteres Beispiel für Madejska’s Interesse für das Wort, für den Prozess der Benennung von etwas Neuem sowie für die Suche nach Verständigung und Unterstützung der Annahmen durch Diskurs.
Zur Utopie und zu ihren falschen Hoffnungen kehrt die Künstlerin auch in der Arbeit „Voyage, Voyage“ (2018) zurück, für die sie die Form eines Teppichs mit geometrischem Muster wählte. bezieht sich auf ein Stück Land im nordamerikanischen Texas, das der radikale Sozialist Etienne Cabet 1848 für seine Gemeinschaft der Ikarier erwarb. Die spezifischen Formen der Parzellen wurden durch den Vertrag zwischen der Verwaltung des Bundesstaats und der Firma, die den Grund und Boden verkaufte, vorgegeben. Die Aufteilung des Grundstücks lähmte das Gedeihen der jungen Kolonie und ließ sie fast untergehen. Diese Arbeit wurde mit dem Zyklus „Technocomplex“ zusammengestellt, einem Beispiel für die Brutalität der Entropie, die in einem entworfenen Raum herrscht.
Madejska schuf für diese Ausstellung auch eine Arbeit, mit der sie, wie es scheint, ihre solaristischen Beobachtungen prolongiert, wobei sie sich diesmal mathematischer Formeln bedient. „Simon says“ (2018) ist ein Zyklus, der sich auf das Josephus-Problem[10] im Bereich der Kombinatorik bezieht. Diese theoretische Aufgabe, die in der Informatik häufig gestellt wird, gibt der Künstlerin die Gelegenheit, über die Zufälligkeit der Ausbuchtungen und Spannungen im politischen Raum nachzusinnen oder sogar den Versuch zu unternehmen, diese vorherzusehen – vor allem i rassistisch und religiös motivierten Konflikten oder in solchen, die aus Mangel an Empathie entstehen.[11] Dabei bleibt der Ozean, wie bei den Solaristen und bei Madejska üblich, auch hier unberührt und in diesem besonderen Fall – grau.
Ein weiterer Zyklus mit dem Titel „RISE“ (2018) entstand in derselben Farbgebung für die Ausstellung „Modified Limited Hangout“. Diese besonderen Arbeiten in der Ausstellung erwecken den Anschein, als kämen sie direkt aus dem Labor von Stanisław Lem, da sie Aufzeichnungen eines photochemischen Smogs sind, der entsteht, wenn ultraviolette Sonnenstrahlen mit hohen Konzentrationen von Abgasen und Industriegasen in der Luft reagieren. Der „RISE“-Zyklus stellt eine extreme Aufzeichnung der Entropie dar, die sich im heutigen öffentlichen Raum materialisiert. Das Phänomen betrifft vor allem große Städte. In Madejskas Version sind das Proben von Veränderungen, von Faktoren, auf die Leviathan noch keine Antwort gegeben hat, wobei möglich ist, dass er sie noch gar nicht sah.
Mit dem Zyklus „RISE“ überschreitet Madejska eine Grenze, hinter der sich die unsichtbare Ausfüllung des politischen Raums, also das, was uns alle betrifft, in ein sichtbares Hyperobjekt verwandelt. Seit dem Zyklus „Factum“, in dem die Künstlerin erstmalig versuchte, ein neues Bild zu erschaffen, gelang Madejska dank ihrer alchemischen Werkstatt eine absolut einzigartige Leistung: Die von ihr ausgesandten Sonden brachten eine neue Entität zum Vorschein.
Jakub Śwircz, November 2019
[10] Das Problem wurde nach dem römisch-jüdischen Geschichtsschreiber Flavius Josephus benannt, der im ersten Jahrhundert nach Christus lebte. Er wurde bei der Eroberung der Stadt Jotapata gemeinsam mit anderen Aufständischen in einer Höhle umzingelt. Als ihnen die Festsetzung drohte, beschlossen sie, sich selbst zu töten. Da der Suizid jedoch nach jüdischem Recht streng verboten ist, entschieden sie zu losen, wer wen töten sollte, und zwar bis zum letzten, der sich schließlich selbst töten sollte. Flavius und einer seiner Begleiter überlebten diesen Akt zufällig und beschlossen, sich den Römern zu stellen.
[11] Eine Version des Josephus-Problems befasst sich mit der Frage, wie auf einem sinkenden Schiff nur die türkischen Matrosen (Moslems) abgezählt werden können, um sie über Bord zu werfen, um die anderen [die Christen; Anm. d. Übers.] zu retten.