Monika Czosnowska
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Immer dann, wenn die Namen der Porträtierten verloren gegangen, verschwiegen worden sind und auch sonst keine Hinweise auf ihre Identität wie Insignien, Uniformen oder physiognomische Eigenheiten zu finden sind, gerät die kunsthistorische Deutung ins Schlingern. Das berühmteste Beispiel ist Leonardo da Vincis Porträt der „Mona Lisa“ (oder „La Gioconda“, um 1503/06), bei dem bis heute strittig ist, ob wir ein Idealbildnis oder das Porträt einer existierenden Person vor uns sehen. Ähnlich verhält es sich bei Vermeers „Mädchen mit dem Perlenohrgehänge“, bei dem unbekannt ist, ob es sich um eine Charakterstudie nach einem bezahlten Modell, vielleicht um das Bildnis einer besonders schönen jungen Frau aus der Nachbarschaft des Malers oder um ein bestelltes Porträt gehandelt hat. Gerade diese Ungewissheit reizte in neuester Zeit Autorin Tracy Chevalier zu einem Roman und Filmregisseur Peter Webber zu einem vielfach ausgezeichneten Kinofilm.[18] Die Frage „Porträt oder Menschenbild“ stellt sich bis heute beispielsweise bei der großen Zahl an Köpfen und Büsten im Werk des Bildhauers Wilhelm Lehmbruck (1881-1919), zu denen die Wissenschaft bis heute zu klären versucht, welche Werke Porträtcharakter haben und welche ein spezifisches, allgemeines Menschenbild zum Ausdruck bringen sollen.[19]
Die fotografischen Arbeiten von Czosnowska nehmen eine Zwischenposition ein. Alltagstauglich ist der Begriff Porträt für sie allemal, da die abgebildeten Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sie als Wiedergabe der eigenen Person empfinden dürften. Diese hätten aber vermutlich auch nichts dagegen, wenn man ihre Bildnisse im Sinne der Kunstwissenschaft als Personifikationen eines allgemein gültigen Menschenbildes kategorisiert, mit dem sie zum Zeitpunkt der Entstehung gar nicht so viel zu tun haben möchten. Im Laufe der Zeit werden sich die Grenzen erneut verschieben. Im Alter werden die Porträtierten vielleicht froh sein, ein „authentisches“ Porträt aus ihrer Kindheit zu besitzen. Jahrzehnte später, wenn niemand die wirklichen Namen und die Umstände der Entstehung mehr kennt, dürfte dann erneut die Diskussion aufkommen, ob es sich um Porträts oder eventuell um Allegorien eines längst vergangenen Menschenideals gehandelt haben mag.
[18] Tracy Chevalier (*1962): Das Mädchen mit dem Perlenohrring (1998), München 2000/2001; Das Mädchen mit dem Perlenohrring (Girl with a Pearl Earring), Film des britischen Regisseurs Peter Webber (*1968), 2003, mit Scarlett Johansson, Colin Firth
[19] Lehmbruck-Symposium „Porträt oder conditio humana? Das Menschenbild im Werk von Wilhelm Lehmbruck“, Lehmbruck-Museum Duisburg, 18. April 2015. Zusammenschnitt der Redebeiträge auf youtube: https://www.youtube.com/watch?v=DY-XxYuYYgo (aufgerufen am 10.10.2017)