Monika Czosnowska
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Monika Czosnowska – Porträt oder Menschenbild
„Die machtvolle Bilderflut des Informationszeitalters überschwemmt die Wahrnehmungskapazität des Einzelnen in einem Ausmaß, dass der Fähigkeit zur Imagination kein ruhender Ort mehr gegeben ist“, schrieb Paolo Bianchi 2008 in der Zeitschrift Kunstforum international in einem Essay über die „Ästhetik der Fotografie“.[1] Wollte man dieselbe Situation heute, neun Jahre später, beschreiben, dann sind alle Superlative bereits ausgereizt. Zwischen den Bildnissen von Politikern und Prominenten aus aller Welt, die die Medien mehrmals am Tag in unser trautes Heim transportieren, und der rund eine Million Selfies, die täglich weltweit mit Digitalkameras, Smartphones und Tablets hergestellt werden, scheint es keinen Platz mehr für ein künstlerisches Bildnis des Menschen zu geben. Kaum einer, der nicht auf Facebook oder Twitter sein Porträt als „Profilbild“ gepostet hätte, wobei die jeweilige Art der Verfremdung über Herkunft, soziale Stellung und Persönlichkeit Auskunft zu geben scheint. Darüber hinaus verfügt heute jedes Land der Erde mit den Bildern in Personalausweisen und Reisepässen theoretisch über eine Gesamtphysiognomie seiner Bürger.
Hinzu kommt im Bereich des Porträts und des Menschenbildes eine gewisse Unschärfe von der künstlerischen zur handwerklichen Fotografie, zur Prominenten- und zur Modefotografie ebenso wie zur Fotoreportage und zum Bildjournalismus, die ja alle ebenfalls einen künstlerischen Anspruch erheben. Schon bald nach Erfindung der Fotografie wurde das Porträt zunächst in Form der Daguerreotypie, ab 1860 in Gestalt der Carte de Visite zum wichtigsten Thema des neuen Bildmediums. Es löste das von Hand gemalte oder gezeichnete Porträt ab und machte das unverwechselbare Bildnis auch für Menschen mit kleinem Geldbeutel verfügbar.
Der schon damals neuen Flut an Porträtaufnahmen begegneten die Künstler unter den Fotografen mit der Erfindung der Dokumentarfotografie. Der berühmte August Sander (1876-1964) fotografierte seit Ende des 19. Jahrhunderts Hunderte von Einzel-, Familien- und Gruppenbildnissen, nicht um bestellte Porträts anzufertigen, sondern um typische Vertreter verschiedener Berufe und Gesellschaftsschichten und damit einen „Aufriss der damals in Deutschland bestehenden Gesellschaftsordnung“ zu dokumentieren.[2] Am Ende der „goldenen“ und „wilden“ Zwanzigerjahre, als Sanders Fotografien erstmals im Druck erschienen, feierte die Filmstar-, Prominenten- und Modefotografie mit den Aufnahmen von Edward Steichen (1879-1973), die in gefeierten Magazinen wie der Vogue erschienen, erste Höhepunkte. Andere fotografierten Sportler, Arbeiter, Anhänger der Freikörperkultur oder „Köpfe des Alltags“ wie der polnisch-jüdische Fotograf Helmar Lerski (1871-1956), teils aus forschendem Interesse, teils zur Untermauerung jeweiliger Ideologien oder aus Interesse an der Entwicklung dieses Bildmediums. Während des „Dritten Reiches“ erschienen fotografierte Bildwerke wie „Das deutsche Volksgesicht“ mit angeblich rassischen und typologischen Charakteristiken der verschiedenen „Volksstämme“ von Erna Lendvai-Dircksen (1883-1962), die den Nationalsozialisten zuarbeitete.[3]
[1] Paolo Bianchi: Ästhetik der Fotografie. Typologie von sechs Wahrnehmungsformen von Fotografen und Fotografien, in: Kunstforum international, Band 192, August 2008, Seite 122
[2] August Sander. Menschen des 20. Jahrhunderts. Portraitphotographien 1892-1952, herausgegeben von Gunther Sander, Text von Ulrich Keller, München 1994, Seite 9
[3] Falk Blask/Thomas Friedrich (Herausgeber): Menschenbild und Volksgesicht. Positionen zur Porträtfotografie im Nationalsozialismus = Berliner Blätter, Sonderheft 36, Münster 2005, Seite 44
Nach dem Krieg dokumentierten Fotojournalisten wie Will McBride (1931-2015) oder René Burri (1933-2014) mit seinem Fotoessay „Die Deutschen“ das Lebensgefühl der Generationen des Wiederaufbaus und der neu entstehenden Jugendkultur. Von den Sechziger- bis in die Achtzigerjahre porträtierten Fotografen wie Diane Arbus (1923-71), Larry Clark (*1943) oder Nan Goldin (*1953) Menschen in ihrem sozialen Umfeld und am Rand der Gesellschaft. In den Aufnahmen der Street Photography von Garry Winogrand (1928-1984) bis Beat Streuli (*1957) verwandelte sich die Straße zur Bühne. Thomas Ruff (*1958) machte in seinen überdimensionalen Porträts im Passbildausschnitt und mit hoher Detailschärfe Seelenlandschaften sichtbar. Seit der Jahrtausendwende begegnet Lukas Einsele (*1963) dem Katastrophenjournalismus mit Porträts von Landminenopfern in allen Gegenden der Welt, mit denen er den Porträtierten Selbstbewusstsein und Zuversicht zurückzugeben versucht.
Gegenüber dieser schier unerschöpflichen Vielfalt an historischen und zeitgenössischen Kategorien und Positionen in der Porträtfotografie vertritt Monika Czosnowska seit dem Beginn des neuen Jahrtausends eine unverwechselbare Bildsprache. Sie wurde 1977 in Szczecin/Stettin geboren, kam als Kind nach Deutschland und ging in Braunschweig zur Schule. Ab 1997 studierte sie an der Folkwang Universität der Künste in Essen Grafikdesign und Fotografie. Nach einer Grundausbildung in Malerei, Grafik und Zeichnung spezialisierte sie sich auf die künstlerische Fotografie. Sie studierte bei Bernhard Prinz, Professor für Künstlerische Fotografie, und bei Herta Wolf, Professorin für Geschichte und Theorie der Fotografie. Im Jahr 2000 lebte sie für einige Monate in Krakau und war an der Jagiellonen-Universität als Gasthörerin im Fach Kunstgeschichte eingeschrieben, wo sie sich intensiv mit dem Porträt in der Malerei der vergangenen Jahrhunderte beschäftigte. 2002 studierte sie mit einem Erasmus-Stipendium an der Hochschule für Gestaltung in Zürich. 2004 legte sie dann mit der Serie „Novizen“ (Abb. 9-17), die sie in polnischen Klöstern fotografierte, in Essen ihr Diplom ab. Im selben Jahr wurde sie mit dieser Serie in dem neu initiierten Hochschulwettbewerb gute aussichten – junge deutsche fotografie[4] von einer Jury, bestehend aus der Gründerin Josefine Raab, dem international renommierten Fotografen Andreas Gursky und Mario Lombardo, Art Director des Musik- und Popkulturmagazins Spex, zu einer der zehn Preisträger*innen gewählt. Seitdem ist sie auf den jährlichen und weltweiten Ausstellungen dieses Nachwuchs-Förderprojekts vertreten, zuletzt von April bis Juni 2017 auf der Ausstellung gute aussichten deluxe – junge deutsche Fotografie nach der Düsseldorfer Schule im Museo de la Cancilleria in Mexico City. Die Ausstellung wird von Januar bis Mai 2018 auch im Haus der Photographie in den Hamburger Deichtorhallen zu sehen sein. Czosnowska lebte während ihres Studiums in Köln und ist heute in Berlin ansässig. Sie ist mit dem Schauspieler Jens Münchow verheiratet und hat zwei Kinder.
[4] http://www.guteaussichten.org/index.php (aufgerufen am 9.10.2017)
Ihre Bildnisse von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, aufgenommen als Büste, Halb- oder Dreiviertelfigur, sitzend oder stehend vor neutralem Hintergrund, scheinen, darauf ist mehrfach hingewiesen worden,[5] von Porträtgemälden vergangener Jahrhunderte beeinflusst. Das eingängigste Beispiel ist sicher die Aufnahme „Larissa“ (Titelbild, Abb. 9) aus der 2004 entstandenen Serie „Novizen“, die in Sitzhaltung, Kleidung, Blickrichtung, ja sogar Teilen der Physiognomie wie Nase und Mund dem berühmten Bildnis „Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge“ (um 1665, Mauritshuis, Den Haag) von Jan Vermeer (1632-1675) nachempfunden zu sein scheint. Das ist in Teilen Zufall, denn der Habit der fotografierten Novizin aus einem polnischen Kloster und natürlich ihr Aussehen sind authentisch, und Czosnowska erläutert in einem Interview, dass die Inszenierung ihrer Fotografie nicht bewusst geschehen sei: „Ich wollte Larissa nicht von vornherein in der Haltung des ‚Mädchens mit dem Perlenohrring‘ fotografieren. Aber Jan Vermeer ist einer meiner Lieblingsmaler und ich denke, dass mich die Haube der Novizin zu dieser Fotografie inspiriert haben könnte. Es könnte auch sein, dass ich die Fotografie dann [später] aufgrund der Komposition ausgewählt habe“.[6]
Kongruenzen ihrer fotografischen Porträts zu weiteren der nur 37 bekannten Gemälde von Vermeer sind denn auch nicht zu entdecken, wohl aber zu anderen Werken der älteren Malerei. „Monika“ (Abb. 1), das früheste, 2001 entstandene Bildnis aus Czosnowskas Reihe der Einzelporträts, ähnelt mit der auffälligen Haartracht, der Kopfhaltung und dem Spiel der Hände in den weiten Ärmeln dem Gemälde „The Woman’s Window (La Donna della Finestra)“ (1879, Fogg Art Museum, Cambridge, MA) des britischen Symbolisten Dante Gabriel Rossetti (1828-1882). Auch „Clara“ von 2007 (Abb. 8) scheint sich an diesem Vorbild zu orientieren, wobei hier ein Efeuzweig ins Spiel kommt, während Rossetti Bauernrosen zu beiden Seiten der Porträtfigur arrangiert hat. Auch Bildnisgemälde eines anderen Symbolisten, John Everett Millais (1829-1896), wie dessen „Bridesmaid“ (1851, Fitzwilliam-Museum, Cambridge) oder „The Martyr of the Solway“ (1871, Walker Art Gallery, Liverpool) kämen als Vorbilder infrage. Millais‘ „Sweetest eyes that were ever seen“ (1881, National Gallery of Scotland, Edinburgh) ist Czosnowskas „Lea“ (Abb. 45) aus der 2017 entstandenen Serie „Eliten“ in Blickrichtung, Haartracht, Körper- und Armhaltung nicht unähnlich.
[5] Michael Stoeber: Ideal und Wirklichkeit, in: Eleven. Monika Czosnowska, Ausstellungs-Katalog ZF-Kunststiftung, Friedrichshafen 2008, Seite 5
[6] Eleven. Regina Michel im Gespräch mit Monika Czosnowska, in: Eleven. Monika Czosnowska, Ausstellungs-Katalog ZF-Kunststiftung, Friedrichshafen 2008, Seite 17
Natürlich muss erwähnt werden, dass in den Gemälden der Symbolisten den Protagonistinnen zahlreiche Attribute, also symbolisch zu verstehende Gegenstände, und üppige Bildhintergründe zugeordnet sind, während die Modelle von Czosnowska ohne diese Symbole, in ausgesprochen einfacher Kleidung, meist ohne Schmuck und vor einfarbigem Hintergrund daherkommen. Wer lange genug sucht, würde sicher weitere Vorbilder aus anderen Epochen der Porträtmalerei finden. Darum kann es aber nicht gehen. Denn Czosnowska hat nach eigener Aussage niemals konkrete Werke der Malerei im Blick, wenn sie ihre fotografischen Bildnisse arrangiert. Jedoch wähle sie in der Regel, wie sie zu Protokoll gibt, das Halbprofil, wobei Kopfneigung und Schulterhaltung klassischen, ruhigen Posen entsprächen.[7] Das Halbprofil ist seit der Renaissance die gängige Form des Bildnisses, wobei zu dieser Zeit Kopf und Körper noch gleich ausgerichtet waren, man denke an Beispiele von Hans Holbein (1497/98-1543) oder Lucas Cranach (1515-1586). Erst im Barock werden Körper und Kopf gegeneinander verdreht, wobei der Blick eine weitere Drehung, meist am Betrachter vorbei, vollzieht. So ist es bei Vermeer und in der Folge bei Czosnowska der Fall. Auch Rembrandts jugendliches „Selbstbildnis mit Halsberge“ (um 1629, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg) wäre ein treffendes Beispiel, dessen gesamte Haltung in den fotografischen Porträts von „Jan“ (Abb. 22) aus der 2008 entstandenen Serie „Eleven“ (Abb. 18-27), bei „August“ (Abb. 18) sogar mit der Form der Nase, der Augenbrauen und einem Ansatz der Stirnlocke wiederkehrt.
Czosnowska findet ihre Modelle in geschlossenen sozialen Verbänden wie Schulklassen, Knabenchören, Pfadfindergruppen oder Klostergemeinschaften, aus denen sie einzelne Protagonisten auswählt. In der Regel fährt sie dazu nach Polen. Die neue Serie „Eliten“ (Abb. 40-47) ist an einem Sportgymnasium in Berlin entstanden. Einzelmodelle (Abb. 1-8) findet sie aber auch auf der Straße: „Ich halte die Augen ständig offen, scanne Gesichter, bin permanent auf der Suche nach der richtigen Physiognomie, dem richtigen Ausdruck, der richtigen Haltung, die genau in meine Bilder passt. Wenn der Funke dann überspringt, wenn ich das richtige, das noch fehlende Gesicht sehe, verdichtet es sich für mich, vor meinem inneren Auge, bereits zu dem späteren Bild.“[8] Nicht nur ihre Reisen nach Polen gelten Gesichtern, die sie aus ihrer frühen Kindheit kennt. Auch in Deutschland spreche sie unbewusst, so Czosnowska, immer wieder slawisch aussehende Typen an. Diese Physiognomien würden sie an ihren Ursprung erinnern, sagt sie, mit ihnen verbinde sie innere menschliche Werte wie Unberührtheit, Unschuld oder Reinheit. Die Darstellung dieser Werte, nicht die konkreten Personen, würden sie bei ihrer fotografischen Arbeit interessieren. Makellosigkeit und Unversehrtheit, so möchte man ergänzen, ja innere Schönheit sprechen aus ihren Bildern.
Um diese Wirkung zu erzielen und die Persönlichkeit der Porträtierten zurücktreten zu lassen, wählt sie ihre Modelle aus Gruppen mit einheitlicher Kleidung wie Schuluniformen, Chorhemden (Abb. 18-27), Klosterhabit, Pfadfinderkluft (Abb. 28-39) oder Sportdress. Bei Personen, die sie auf der Straße findet, sucht sie zuhause aus deren Kleiderschrank zurückhaltende, eher unmodern gewordene Kleidungsstücke aus oder hat für den Notfall ein neutrales Hemd oder Blüschen dabei. Der Blick ihrer Modelle geht nicht nur, wie wir es aus der älteren Porträtmalerei kennen, am Betrachter vorbei, sondern ist verhalten, unbeteiligt und in sich gekehrt. Was Erwachsene von sich aus vermögen, den Blick nach innen zu wenden, wenn sie nachsinnen oder dem Gesprächspartner unaufdringlich gegenübertreten wollen, erreicht sie bei Kindern, indem sie sie in Gedanken das Einmaleins aufsagen lässt. Gerade bei der Serie „Novizen“ spielt der in sich gekehrte Blick eine besondere Rolle und erfährt durch die mal verwegene, mal demütige Kopfhaltung wie bei „Adrian“ (Abb. 11), „Agnes“ (Abb. 15) oder „Justus (Abb. 16) eine zusätzliche Prägnanz. In der Malerei ist diese Art des Blicks vor allem bei Heiligendarstellungen zu finden, dann aber in den populären Chromolithografien des späten 19. Jahrhunderts, die für Heiligenbilder oder Wandbilddrucke mit Familienidyllen vor allem in katholischen Gegenden Verwendung fanden.[9] Vielleicht sind auch von dort her Kindheitseindrücke für Czosnowska prägend geworden.
Die Fotografin arbeitet mit einer Pentax-Mittelformatkamera, analogem Filmmaterial von Kodak und fotografiert ausschließlich mit Tageslicht, das von vorn kommt und die Gesichter gleichmäßig ausleuchtet. Das mache ihre Arbeiten weicher, sagt sie, vielleicht sogar malerischer. Sie zieht ihre Bilder selbst in professionellen Labors ab, beeinflusst dabei die Farbigkeit und den Helldunkel-Kontrast möglicherweise hin „zu einem Hauch Verklärtheit“. Zuletzt ändert sie die Namen der Porträtierten und gibt ihnen Vornamen, die „keinem Modetrend unterworfen sind und die Fotografie zum endgültigen Bild verdichten.“ Alle Einzelmerkmale und Gestaltungsschritte zusammen, die Auswahl der Modelle, Physiognomie, Ausdruck, Haltung, Pose, Blickrichtung, Kleidung, Lichtführung und schließlich die Technik des Abzugs, führen zum Ausdruck und zur Wirkung jedes einzelnen Porträts: „Ich inszeniere meine Fotoarbeiten, um genau diesen Ausdruck zu erzielen.“[10]
Das wirft natürlich die Frage auf, ob es sich bei ihren Bildnissen im engeren Sinn um Porträts, also um Wiedergaben von bestimmten Personen, oder nicht vielmehr um allgemein gültige Bilder des Menschlichen, der Conditio humana, handelt. Ein Porträt oder ein Bildnis, wie man früher in der Kunstwissenschaft sagte, ist nach gängiger Definition „das Bild eines Menschen, das eine bestimmte Persönlichkeit wiedergeben soll“ (Percy Ernst Schramm). Entscheidend ist danach die Absicht, so das Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, „einen bestimmten Menschen darzustellen, nicht der Grad der erreichten Ähnlichkeit, die zu gewissen Zeiten nur mit Einschränkung erstrebt worden ist“.[11]
[9] Christa Pieske: Wandbilder für jedermann. Wandbilddrucke 1840-1940, Ausstellungs-Katalog Museum für Deutsche Volkskunde SMPK Berlin, 1988
[10] Regina Michel im Gespräch mit Monika Czosnowska (siehe Anmerkung 6), Seite 17-19
[11] Paul Ortwin Rave: Bildnis, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Band 2, 1939, Spalte 639-680; online: RDK Labor, http://www.rdklabor.de/w/?oldid=92360 (aufgerufen am 9.10.2017)
Die verschiedenen Mittel der Inszenierung, wie Czosnowska sie verwendet, sprechen keineswegs gegen die Gattung des Porträts, sondern sind von jeher von den Porträtisten gewinnbringend für beide Seiten, für die Porträtierten wie für den Künstler selbst, eingesetzt worden. Jeder, der ein Bildnis von sich anfertigen ließ – in der Malerei ist das seit Mitte des 14. Jahrhunderts der Fall – wollte mit bestimmter Kleidung, Haltung und Pose, also inszeniert, dargestellt werden. Die Künstler bemühten sich darum, die Abzubildenden „ins rechte Licht zu rücken“, deren Haltung und Posen den gesellschaftlichen Normen anzupassen und ein handwerklich vollkommenes „Portrait“ (lat. protractum, hervorgezogen) oder „Konterfei“ (lat. contrafactum, nachgemacht), wie man zu Dürers Zeit sagte, abzuliefern. Zur Entstehung eines Porträts gehörten nahezu zwingend ein Auftrag von den Porträtierten selbst, von ihren Verwandten oder ein öffentliches Interesse. Im Bereich des repräsentativen und öffentlich sichtbaren Bildnisses konnte eine Person nur dann damit rechnen, dass Porträts von ihr angefertigt wurden, wenn sie Bedeutung erlangt hatte: durch ihre gesellschaftliche Stellung, ihren Reichtum, ihren öffentlichen Einfluss, als Verbrecher oder im schlimmsten Fall als missgestaltete Kreatur.[12] In der Regel sind also die Namen der Porträtierten bekannt, es sei denn, die Überlieferung wäre im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen.
Vom Reformator Martin Luther beispielsweise, der 1517 durch den Anschlag seiner 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg berühmt, für manche berüchtigt geworden war, den man im Jahr darauf auf den Reichstag zu Augsburg zitierte und der im Juni 1519 seine Thesen in Leipzig zu verteidigen hatte, sind rund fünfhundert Porträts bekannt, während von seinen Vorgängern, John Wyclif oder Johannes Hus, kein einziges überliefert ist.[13] Schon in dieser Zeit war man sich der psychologischen Wirkung von Bildnissen bewusst und legte auf eine entsprechende Gestaltung Wert. Lucas Cranach etwa stach Luthers erbitterten Widersacher, Kardinal Albrecht von Mainz, mit müdem Blick, hängenden Schultern und schlampig geknöpfter Jacke in Kupfer, während er Luther als Gegenstück dazu mit scharfkantigem Profil, wachem Gesicht und gestärkter Kutte wiedergab.[14] Schon wenig später, 1521, erschienen Holzschnitte und Kupferstiche, die den Reformator mit einer Taube und einer bildfüllenden Gloriole als Heiligen zeigten – natürlich aus der Hand von Künstlern, die Luther wohlgesonnen waren wie Baldung Grien oder Hieronymus Hopfer. Im Gedächtnis ist er uns aber bis heute als „Junker Jörg“ mit erhobenem Kinn, kräftig gezwirbeltem Bart, kühnem Blick und schmissig angelegtem Gewand geblieben, wie Cranach ihn zu Propagandazwecken für Luthers Landesherrn, Kurfürst Friedrich den Weisen von Sachsen, 1522 in Holz geschnitten hat.[15]
[12] Martin Warnke: Cranachs Luther. Entwürfe für ein Image, Frankfurt am Main 1984, Seite 6 f.
[13] Ebenda, Seite 6
[14] Ebenda, Seite 19-25
[15] Ebenda, Seite 32, 33, 50
Etliche der genannten Merkmale für ein Porträt, ein privater Auftrag oder öffentliches Interesse, die Kenntnis des wirklichen Namens, aber auch das Mitwirken der Porträtierten an der Kleidung oder anderen erkennbaren Kennzeichen ihrer Persönlichkeit sind bei Czosnowska außer Kraft gesetzt. Ihre Bilder sind für den außenstehenden Betrachter nicht Bildnisse einer „bestimmten Persönlichkeit“ wie Schramm definiert, sondern allesamt Bilder des allgemein Menschlichen, eines Ideals an traditionellen Werten wie „Unberührtheit, Anmut und Reinheit“: „Ich möchte diese Werte, die meine Kindheit geprägt haben“, sagt Czosnowska, „in meinen Bildern festhalten, zumal ich denke, dass sie in den letzten Jahren ein wenig aus der Mode gekommen sind.“[16] Nur für die Porträtierten selbst, für ihre Verwandten und Freunde, sind diese Aufnahmen, die sie in einem Exemplar besitzen und das die meisten von ihnen in einem flüchtigen Stadium der Entwicklung zeigt, echte Porträts, und zwar Porträts, die sie vielleicht nicht einmal mögen, weil sie darauf nicht fröhlich und nicht in ihren „Lieblingsklamotten“ zu sehen sind.
Auch bei dem ungewissen Status von Czosnowskas Bildnissen gibt es Berührungspunkte mit der Malerei. Seit der Renaissance haben Künstler Porträts wirklich existierender Personen zur Darstellung von Allegorien und Personifizierungen, von Berufen, in Liebes- ebenso wie in Massenszenen eingesetzt, indem sie bezahlte Modelle Porträt sitzen ließen oder früher gezeichnete Porträtskizzen aus Blättern und Heften als Vorlagen für repräsentative Gemälde verwendeten. In der Zeit des niederländischen Barocks, als sich fast jeder Bürger Gemälde zur Befriedigung seiner Liebe zur Kunst und zur Ausgestaltung der eigenen Wohnräume leisten konnte, entwickelte sich parallel zum Porträt die Genredarstellung. Das sind Bilder von Menschen, meist Frauen, in Wohnräumen, bei einfachen Tätigkeiten, der häuslichen oder bäuerlichen Arbeit oder beim Warten auf ein Schiff. „Alle diese unbedeutenden Figuren“, schreibt Johan Huizinga in seiner berühmten Studie über die niederländische Kultur des 17. Jahrhunderts, „scheinen weit aus der gewöhnlichen Wirklichkeit entrückt zu sein in eine Sphäre von Klarheit und Harmonie, wo das Wort nicht mehr klingt und der Gedanke keine Form annimmt. Ihr Tun ist voll Geheimnis, wie man in einem Traum wahrzunehmen glaubt.“[17] Huizinga schreibt hier über Vermeer, bei dem sich – denken wir an „Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge“ – ein Porträt, vermittelt durch die Darstellung des Alltags und des Genres, offenbar zu einer Allegorie allgemein gültiger, innerer menschlicher Werte verdichten kann.
[16] Regina Michel im Gespräch mit Monika Czosnowska (siehe Anmerkung 6), Seite 19
[17] Johan Huizinga: Holländische Kultur im siebzehnten Jahrhundert (1961), Frankfurt am Main 1977, Seite 114
Immer dann, wenn die Namen der Porträtierten verloren gegangen, verschwiegen worden sind und auch sonst keine Hinweise auf ihre Identität wie Insignien, Uniformen oder physiognomische Eigenheiten zu finden sind, gerät die kunsthistorische Deutung ins Schlingern. Das berühmteste Beispiel ist Leonardo da Vincis Porträt der „Mona Lisa“ (oder „La Gioconda“, um 1503/06), bei dem bis heute strittig ist, ob wir ein Idealbildnis oder das Porträt einer existierenden Person vor uns sehen. Ähnlich verhält es sich bei Vermeers „Mädchen mit dem Perlenohrgehänge“, bei dem unbekannt ist, ob es sich um eine Charakterstudie nach einem bezahlten Modell, vielleicht um das Bildnis einer besonders schönen jungen Frau aus der Nachbarschaft des Malers oder um ein bestelltes Porträt gehandelt hat. Gerade diese Ungewissheit reizte in neuester Zeit Autorin Tracy Chevalier zu einem Roman und Filmregisseur Peter Webber zu einem vielfach ausgezeichneten Kinofilm.[18] Die Frage „Porträt oder Menschenbild“ stellt sich bis heute beispielsweise bei der großen Zahl an Köpfen und Büsten im Werk des Bildhauers Wilhelm Lehmbruck (1881-1919), zu denen die Wissenschaft bis heute zu klären versucht, welche Werke Porträtcharakter haben und welche ein spezifisches, allgemeines Menschenbild zum Ausdruck bringen sollen.[19]
Die fotografischen Arbeiten von Czosnowska nehmen eine Zwischenposition ein. Alltagstauglich ist der Begriff Porträt für sie allemal, da die abgebildeten Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sie als Wiedergabe der eigenen Person empfinden dürften. Diese hätten aber vermutlich auch nichts dagegen, wenn man ihre Bildnisse im Sinne der Kunstwissenschaft als Personifikationen eines allgemein gültigen Menschenbildes kategorisiert, mit dem sie zum Zeitpunkt der Entstehung gar nicht so viel zu tun haben möchten. Im Laufe der Zeit werden sich die Grenzen erneut verschieben. Im Alter werden die Porträtierten vielleicht froh sein, ein „authentisches“ Porträt aus ihrer Kindheit zu besitzen. Jahrzehnte später, wenn niemand die wirklichen Namen und die Umstände der Entstehung mehr kennt, dürfte dann erneut die Diskussion aufkommen, ob es sich um Porträts oder eventuell um Allegorien eines längst vergangenen Menschenideals gehandelt haben mag.
[18] Tracy Chevalier (*1962): Das Mädchen mit dem Perlenohrring (1998), München 2000/2001; Das Mädchen mit dem Perlenohrring (Girl with a Pearl Earring), Film des britischen Regisseurs Peter Webber (*1968), 2003, mit Scarlett Johansson, Colin Firth
[19] Lehmbruck-Symposium „Porträt oder conditio humana? Das Menschenbild im Werk von Wilhelm Lehmbruck“, Lehmbruck-Museum Duisburg, 18. April 2015. Zusammenschnitt der Redebeiträge auf youtube: https://www.youtube.com/watch?v=DY-XxYuYYgo (aufgerufen am 10.10.2017)
Die Arbeiten von Czosnowska behaupten eine Sonderstellung in der zeitgenössischen Fotografie. Blättert man durch die einschlägigen Kompendien,[20] dann sind Bildnisse von Kindern und Jugendlichen, noch dazu in ganzen Serien, selten. Die Niederländerin Rineke Dijkstra (*1959) suchte seit Ende der Achtzigerjahre Modelle ohne gekünstelte Posen und mit natürlicher Ausstrahlung, die sie dann am Strand mit Kindern in Badekleidung fand und über ein Jahrzehnt lang fotografierte. Die US-Amerikanerin Sally Mann (*1951) wurde mit Bildern von Kindern in traumartig inszenierten Familienidyllen bekannt. Der russisch-ukrainische Fotograf Sergey Bratkov (*1960) dokumentierte obdachlos und straffällig gewordene Jugendliche neben anderen sozialen Randgruppen in der Umbruchphase zwischen Sozialismus und neuem Kapitalismus. Ein Menschenbild jenseits des Dokumentarischen wie das von Czosnowska, das, wie sie selbst sagt, „ein wenig aus der Mode gekommen“ ist, wird man in der zeitgenössischen künstlerischen Fotografie kaum ein zweites Mal finden. Selbst wenn man Dokumentationen über die „Schönheit“ in der zeitgenössischen Kunst zurate zieht,[21] wird man viele Kategorien vor allem über die Abwesenheit der Schönheit und den Widerstand gegen das Schöne finden, jedoch kaum eine Position, die wie Czosnowska versucht, innere Schönheit als Wesen des allgemein Menschlichen zu inszenieren.
Axel Feuß, Oktober 2017
Literatur:
Eleven. Monika Czosnowska, herausgegeben von der Kunststiftung der ZF Friedrichshafen AG, Ausstellungs-Katalog Zeppelin-Museum Friedrichshafen, 2008
Die beste aller Welten, herausgegeben von Thomas Niemeyer, Ausstellungs-Katalog Städtische Galerie Nordhorn, 2014
Webseite der Künstlerin: www.monika-czosnowska.de mit Listen der Einzel- und Gruppenausstellungen
[20] Ein Forum mit Bildbeispielen, Kurzbiographien, Texten und Ausstellungslisten bietet die Webseite der Zeitschrift photography now, die unter dem Menü „Contemporary Photography“ 23.020 zeitgenössische Fotograf*innen dokumentiert, http://www.photography-now.com/artist/?nationality=
[21] Schönheit I / II, herausgegeben von Martin Seidel und Jürgen Raap, in: Kunstforum international, Band 191, Mai-Juli 2008, und Band 192, Juli-August 2008