Generationsübergreifend. Polnische Kunst in Marl 6. März bis 12. Juni 2016
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Von diesem zum benachbarten Objekt, dem nur ein Jahr später entstandenen ebenfalls aufrecht stehenden und in Epoxidharz gegossenen Handschuh („Objekt 3“) der neunzehn Jahre jüngeren Teresa Murak (*1945), zeigte sich der Ausstellung der Sprung zur mittleren Generation (Abb. 6). Anders als das Stück von Szapocznikow ist die Arbeit von Murak eigentlich kein künstlerisch gestaltetes Objekt mehr, sondern das konservierte Dokument eines Prozesses. Murak, die von 1970 bis 1976 an der Akademie in Warschau unter anderem bei Jan Tarasin studiert hatte, begann 1972 mit Kressesamen zu arbeiten, die sie auf Kleidungsstücken an ihrem eigenen Körper – oder eben auf dem für „Objekt 3“ verwendeten Handschuh – zum Keimen brachte und damit der Natur zu einer neuen Ausdrucksform verhalf. Murak repräsentiert für Polen den Übergang von der Objekt- zur Prozesskunst und die Einführung neuer Materialien am Beginn der Siebzigerjahre.
Die mittlere Generation der Ausstellung wurde auch durch die Experimentalfilm‑ und Videokünstler Józef Robakowski (*1939) und Ryszard Waśko (*1947) repräsentiert, die am Anfang der 1970er-Jahre gemeinsam in der Filmklasse der Staatlichen Hochschule für Film, Fernsehen und Theater in Łódź (Państwowa Wyższa Szkoła Filmowa, Telewizyjna i Teatralna im. Leona Schillera w Łodzi) studierten. Robakowski, eine der Schlüsselfiguren der osteuropäischen Videokunst und in Deutschland mit Arbeiten unter anderem im Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe und im Neuen Berliner Kunstverein vertreten, analysiert in seinen Werken die Sprache der Medienkunst. Sein künstlerischer Zugang ist vom Konstruktivismus und von der Neo-Avantgarde der Sechzigerjahre geprägt. Zu sehen war einer seiner bekanntesten Filme, „From My Window“, eine filmische Chronik, in der er seit 1978 Alltagsszenen aus dem Küchenfenster seiner Wohnung im Zentrum von Łódź aufnahm, die durch das Spannungsverhältnis zwischen dem konstanten Ort und dem kontinuierlichen Wechsel der politischen und sozialen Ereignisse absurd erscheinen. Er beendete die Aufnahmen 1999, als die Stadtverwaltung beschloss, dass auf dem bislang gefilmten Platz ein Fünf-Sterne-Hotel errichtet werden sollte (Abb. 7). Von ihm war außerdem eine 35mm-Film-Installation zu sehen, bei der eine auf das Filmmaterial aufgebrachte Linie sich in der Projektion über die Leinwand schlängelt, während sich auch der Film selbst, mehrfach umgeleitet, schlangenförmig durch den Raum bewegt (Abb. 8a, b). Diese und auch die Arbeit „Termogram“ (2001) aus einer Serie über mehrere Jahre entstandener Werke auf wärmeempfindlichem Papier (Abb. 9) dokumentieren Robakowskis zugleich konstruktiven und spielerischen Umgang mit der Medienkunst.
Waśko war mit dreizehn Arbeiten, die eine große Bandbreite seines Schaffens abdeckten, einer der zentralen Künstler der Ausstellung. Die frühesten Arbeiten, die zu sehen waren, stammen noch aus seiner Zeit an der Staatlichen Filmhochschule in Łódź 1970-1975, während der er auch Mitglied der Werkstatt für Filmform (Warsztat Formy Filmowej) wurde –eine der wichtigsten polnischen Künstlergruppen in den Siebzigerjahren, in der Maler, Filmemacher, Kritiker, Schriftsteller, Philosophen und Wissenschaftler sich mit Experimentalfilm und Multimedia beschäftigten. Die ab 1972 entstandenen Filme „Space out of“, „A Corner 1-2“, „?????“ und „Soundline“, alles Leihgaben der polnischen Galerie Żak|Branicka in Berlin, waren auf historischen Röhrenbildschirmen zu sehen. In ihnen lotet der Künstler das Verhältnis zwischen Raum und Zeit, Kamera und Bildschirm, Film und Gefilmtem, der eigenen Person und dem Betrachter in minimaler räumlicher Distanz aus (Abb. 10). In der ebenfalls frühen Fotoarbeit „Cut-up Portrait 4“ (1973) überwindet er in zusammengeschnittenen Fotostreifen die Distanz zwischen Fernsichten und Nahaufnahmen des eigenen Bildnisses (Abb. 11).