Generationsübergreifend. Polnische Kunst in Marl 6. März bis 12. Juni 2016
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Unter den Arbeiten der älteren Generation, die alle aus der Sammlung Jerke stammten und die in dieser Ausstellung die inhaltlichen und künstlerischen Entwicklungslinien für die nachfolgenden Generationen vorgaben, bildeten zwei weibliche „Akte“ von Katarzyna Kobro (1898-1951), Gipsplastiken von 1948 mit einer Höhe zwischen zwanzig und dreißig Zentimetern (Abb. 1), mindestens für den deutschen Besucher eine Sensation. Denn Kobro ist international eigentlich für ihre konstruktivistischen, vom russischen Suprematismus abgeleiteten „Raumkompositionen“ (Kompozycje Przestrzenne) der 1920er-Jahre aus geschweißtem und bemaltem Stahl bekannt. Seit 1925 schuf sie jedoch auch eine Serie kubistischer Kleinplastiken, sämtlich Akte, über die ihr Ehemann Władysław Strzemiński (1893-1952) urteilte, sie stünden Arbeiten von August Zamoyski nahe, „nur seien sie besser“. Einige von ihnen sind im Kunstmuseum in Łódź (Muzeum Sztuki w Łodzi) erhalten. 1948, kurz bevor Kobro ihre künstlerische Arbeit aufgab, entstand noch einmal eine Serie solcher „Akte“, die expressive Kraft und Dynamik, aber auch noch die kubistischen Wurzeln erkennen lassen. Zu ihnen gehören die beiden Stücke aus der Sammlung Jerke. Von Strzemiński selbst waren in der Ausstellung zwei figürliche Zeichnungen vom Ende der Dreißigerjahre zu sehen, als er den „Unismus“ schon lange aufgegeben hatte und sich auf biomorphe Formen mit festen Umrissen konzentrierte. Sein „Gelber Stuhl“ von 1948 wirkt wie eine Hommage an die konstruktivistischen Arbeiten seiner Frau (Abb. 2).
Obwohl in dieser Ausstellung zum Kern der älteren Künstlern gerechnet, gehören Edward Krasiński (1925-2004) und Alina Szapocznikow (1926-1973) eigentlich schon der nächsten Generation an. Denn beide konnten ihr Studium erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beginnen. Krasiński „ist einer der wenigen authentischen Neuerer in Polen“, urteilte Wojciech Skrodzki 1977 in einem Standardwerk über die „Polnische Bildhauerkunst der Gegenwart“. Bis heute gilt Krasiński als einer der wichtigsten Protagonisten der polnischen Neo-Avantgarde der Sechziger- und Siebzigerjahre. Seine künstlerischen Wurzeln liegen einerseits im polnischen Konstruktivismus, den Henryk Stażewski (1894-1988) mit begründete und mit dem er bis zu dessen Tod zusammen wohnte, andererseits gehörte er zur 1948 gegründeten Krakauer Gruppe (Grupa Krakowska II) um Tadeusz Kantor (1915-1990), an dessen Happenings er Mitte der Sechzigerjahre teilgenommen hatte. Sein international bekanntes Markenzeichen wurde das hellblaue Scotch-Klebeband, das er seit 1968 auf Wänden, Objekten und in Ausstellungen montierte oder bei künstlerischen Aktionen um Menschen und Bäume wickelte. Mit ihm gestaltete er aber auch konstruktivistische Objekte wie die aus der Sammlung Jerke (Abb. 3). Seine Plastik „Kreuz“ wirkt zwar ebenfalls streng konstruktivistisch, gehört aber zu einer Gruppe von Objekten, die die „Speere“ der Sechziger‑ und die „Kreuze“ vom Beginn der Achtzigerjahre umfasst. Sie sind wie die Objekte und Installationen von Kantor mit Bedeutungen aufgeladen und sollen „Energien freisetzen“ (Abb. 4). Alina Szapocznikow, die fünf Ghettos und Konzentrationslager überlebte, studierte Bildhauerei in Prag und an der Ecole des beaux-arts in Paris. Seit 1951 in Polen, schuf sie stark abstrahierte figürliche Skulpturen. Seit ihrer Rückkehr nach Paris 1963 schloss sie sich dem Nouveau Réalisme um den Kunstkritiker Pierre Restany und die Künstler Arman, Daniel Spoerri und Niki de Saint Phalle an. Seitdem beschäftigte sie sich mit Abgüssen von Körperteilen in Polyurethan, in die sie Alltagsobjekte einfügte und die sich seit ihrer Krebserkrankung 1968 auf Krankheitssymptome und Relikte ihres eigenen Körpers bezogen. Kurz vor ihrem Tod entstand 1973 das Objekt „Fajrant“ (dt. Feierabend) aus der Sammlung Jerke (Abb. 5).