Dora Diamant. Aktivistin, Schauspielerin und Franz Kafkas letzte Lebensgefährtin
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Ein neues Leben in Berlin
1920 ging Dora Diamant nach Berlin, wo sie sich der jüdischen Gemeinde anschloss. Sie fühlte sich, wie sie später in ihren „Tagebüchern“ schrieb, „von Deutschland berauscht“.[38] Nelken, der inzwischen als Assistenzarzt am Jüdischen Krankenhaus in Berlin angestellt war, erinnerte sich später, dass Diamant als Kinderfrau im Haushalt des aus Breslau stammenden preußischen Ministerialrats Hermann Badt (1887–1946) gearbeitet habe.[39] Badt war im Ministerium des Innern tätig, saß ab 1922 für die SPD im preußischen Landtag und engagierte sich seit der Vorkriegszeit in der zionistischen Bewegung. Später arbeitete Diamant als Näherin in einem Waisenhaus in Charlottenburg, wo sie auch wohnte.[40] Sie habe, so Nelken weiter, auf einer „linken“ Kundgebung im Gebäude des vormaligen Preußischen Herrenhauses gesprochen, auf der auch die in Italien lebende sozialistische Politikerin Angelica Balabanova (1869–1965) geredet habe. Diamant sei jedoch hauptsächlich an jüdischen Fragestellungen interessiert gewesen und habe eine Aufgabe als Sozialarbeiterin in dem als Zuflucht für Kinder jüdischer Immigranten aus Osteuropa fungierenden Jüdischen Volksheim übernommen. Eines von Diamants Vorbildern in Berlin, so heißt es, sei die kommunistische Reichstagsabgeordnete und Frauenrechtlerin Clara Zetkin (1857–1933) gewesen,[41] mit der Balabanova Frauenkongresse organisierte.
Bereits kurz nach ihrer Ankunft in Berlin hatte Diamant von den Aktivitäten des Volksheims erfahren und bot ihre Mithilfe als Kindergärtnerin oder „Fröblerin“ an. Sie orientierte sich dabei an den erzieherischen Grundsätzen des deutschen Pädagogen Friedrich Fröbel (1782–1852), die sie während ihrer Ausbildung in Krakau erlernt hatte und die in Österreich-Ungarn für den Betrieb von Kindergärten galten.[42] Ihr eigentliches Interesse widmete sie aber dem Vorhaben, die Kinder auf eine Übersiedlung nach Palästina vorzubereiten: „Sie glaubte mit Leidenschaft an die Notwendigkeit einer jüdischen Heimat in Palästina, in Eretz Israel, dem Gelobten Land. In ihren Tagträumen sah sie sich oft, wie sie sagte, ‚in den Feldern Galiäas‘, in einem Kibbutz, Seite an Seite mit anderen freien Juden arbeiten und leben, Männern und Frauen aus allen Ländern, die Moore und Brachland urbar machten, Gärten bepflanzten und für ihre zukünftigen Kinder und Enkelkinder eine sichere und gerechte Welt erschufen.“[43]
Das Jüdische Volksheim (Abb. 3 . ) war 1916 von dem Berliner Arzt und Pädagogen Siegfried Lehmann (1892–1958) in der Dragonerstraße 22 gegründet worden[44] und wurde von Max Brod, dem Religionsphilosophen Martin Buber (1878–1965), dem anarchistischen Schriftsteller Gustav Landauer (1870–1919 ermordet), dem Kaufmann, Fabrikanten und Kunstsammler Siegbert Samuel Stern (1864–1935) und dem Berliner Rabbiner Malwin Warschauer (1871–1955) gefördert. Es sollte Kindern und Jugendlichen aus den mit jüdischen Flüchtlingen aus Galizien und Schlesien überfüllten Elendsquartieren des Berliner Scheunenviertels eine Heimstatt, jüdische Erziehung, Fort- und Allgemeinbildung, Sportveranstaltungen und Musikunterricht bieten, hielt aber auch Mütterabende ab und öffnete für medizinische und rechtliche Beratungen.[45]
Der Tagesablauf im Volksheim gliederte sich in Kinderspielstunden am Vormittag gefolgt von nachmittäglichen Knaben- und Mädchenkameradschaften sowie Klubs junger Mädchen und mit männlichen Jugendlichen besetzten Lehrlingsklubs am Abend. Kinder- und Jungengruppen wurden mit Fröbelarbeiten wie Flecht-, Papp- und Tonbasteleien, aber auch mit hebräischen Kinderliedern und Tanzspielen beschäftigt. Andere Tage waren „dem Lesen und Erzählen von Märchen, Sagen und Erlebnissen gewidmet“. Ältere Jungen erhielten Unterricht im Tischlern, Buchbinden und in Metallarbeiten, die Mädchen in Näh- und Handarbeiten und einmal wöchentlich im Chorsingen.[46] Das Volksheim gab Diamant, so heißt es, „ein Gefühl von Gemeinschaft und Familie“.[47] Mit den „chassidischen Überlieferungen und Erzählungen der ostjüdischen Mystik“ war sie aufgewachsen, „ihre Sprache und Ausdrucksweise war geprägt von den Sprichwörtern und den alten jüdischen Gleichnissen ihrer Großmütter“. Später würde sie Kafka allabendlich mit den „bubbe meises“, den Märchen und Volkssagen der alten jüdischen Frauen, bezaubern.[48]
Als Kafka (Abb. 4 . ) und Diamant sich am 13. Juli 1923, am Vorabend des Schabbats, erstmals im Müritzer Ferienheim trafen, wurde schnell klar, dass die junge Frau für den Prager Schriftsteller zahlreiche Aspekte des jüdischen Lebens verkörperte, für die er sich seit längerem interessierte. Während sie sich das Hebräische schon seit Kindertagen angeeignet hatte, indem sie ihren Bruder beim Cheder-Unterricht belauscht hatte, erlernte Kafka die Sprache mühsam erst seit 1917, dem Jahr, als seine Tuberkulose diagnostiziert wurde. Brod und er lernten im Folgejahr dann auch zusammen mit dem Journalisten Felix Weltsch (1884–1964), dem seit 1904 gemeinsamen Freund im literarischen Prager Kreis,[49] während Diamant schon in der Lage war, Bibelstellen im Urtext zu rezitieren. Sie kam aus der Będziner Theatergruppe, während er 1910 mit Begeisterung im Prager „Café Savoy“ eine ostjüdische Theaterkompanie entdeckt hatte. Durch sie hatten er und Brod sich „in die uns neue Welt ostjüdischer Volkskraft“ gestürzt, was Kafka wiederum veranlasst hatte, sich mit jüdischer Geschichte und jiddischer Literatur zu beschäftigen.[50]
Durch Diamant erhielt Kafka endlich eine persönliche Verbindung zum Jüdischen Volksheim, von dessen Zielen und Aufgaben er durch Brod und den gemeinsamen langjährigen Bekannten Martin Buber erfahren hatte. Seiner vorherigen Verlobten Felice Bauer (1887–1960) hatte er eine Mitarbeit im Volksheim als „Weg zu einer geistigen Befreiung“[51] dringend angeraten, die dort daraufhin die literarische Arbeit mit Mädchen organisierte. Jetzt, aus Müritz, schrieb Kafka an den Prager Schulfreund Hugo Bergmann (1883–1975), inzwischen Bibliothekar an der Hebräischen Nationalbibliothek in Jerusalem: „Durch die Bäume kann ich die Kinder spielen sehen. […] Ostjuden, durch Westjuden vor der Berliner Gefahr gerettet. Die halben Tage und Nächte ist das Haus, der Wald und der Strand voll Gesang. Wenn ich unter ihnen bin, bin ich nicht glücklich, aber vor der Schwelle des Glücks. […] Heute werde ich mit ihnen Freitag-Abend feiern, ich glaube zum ersten Mal in meinem Leben.“[52] Bergmann, Schüler von Buber und auch mit Weltsch und Brod befreundet, hatte Kafka den Zionismus nahegebracht. Jetzt träumten Kafka und Diamant gemeinsam von einer Ausreise nach Palästina. Von nun an waren sie durch nichts mehr zu trennen: „Franz hilft Kartoffel schälen im Volksheim in Müritz. – Die Nacht auf der Landungsbrücke. – Auf der Bank im Müritzer Wald“, notierte Diamant in ihren letzten Lebenstagen in ihr „Tagebuch“.[53]
Kafka reiste am 6. August 1923 aus Müritz ab, verbrachte zwei Tage in Berlin und bestieg dann, schwer krank, den Zug nach Prag. Diamant widmete sich noch einen knappen Monat ihren Aufgaben im Ferienheim in Müritz. Zunächst setzte Kafka seine Hebräisch-Studien in Prag fort und begann sich für jüdische Gebetsrituale zu interessieren. Währenddessen magerte er auf unter 60 Kilo ab. Seine Schwester Ottla brachte ihn daraufhin zu einem Landaufenthalt in den kleinen Ort Schelesen/Želízy an der Elbe nördlich von Melnik/Mělník, wo Kafka sich seit seiner Erkrankung an der Spanischen Grippe 1918 schon dreimal zur Erholung aufgehalten hatte. Diamant begann in der Zwischenzeit in Berlin, die von ihr und Kafka geplante gemeinsame Unterkunft zu suchen, die sie schließlich als ein großes, helles möbliertes Zimmer mit Küche und eigenem Bad, Erkerfenstern und einer Veranda im dritten Stock des Eckhauses der damaligen Miquelstraße 8 in der Nähe des Steglitzer Rathauses fand (Abb. 5 . ).[54] Während sie Kafka bis zum September „enthusiastische und ermutigende“ Briefe schrieb, kämpfte er in Schelesen um seine Genesung.[55]
[38] Zitiert nach Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 50.
[39] Gottgetreu 1974 (siehe Anmerkung 37).
[40] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 28.
[41] Ebenda, Seite 27.
[42] Ebenda, Seite 26, 49.
[43] Ebenda, Seite 26.
[44] Heute Max-Beer-Straße 5. Mehrere Webseiten berichten über das ehemalige Jüdische Volksheim in Berlin; unter anderem auf: Arbeitskreis Jüdische Wohlfahrt (auch über Dora Diamant), https://akjw.hypotheses.org/946, sowie auf: Jüdisches Museum Berlin, https://www.jmberlin.de/berlin-transit/orte/juedischesvolksheim.php (beide zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).
[45] Siegfried Lehmann: Nachwort. Über jüdische Erziehung, in: Das Jüdische Volksheim Berlin. Erster Bericht, Mai/Dezember 1916, Eigenverlag Berlin 1916, Seite 17 f., https://archive.org/details/JudischeVolksheimBerlin/page/16/mode/2up (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023). Die fünf aufgelisteten Förderer werden auf einer eigenen Widmungsseite genannt.
[46] Ebenda, Seite 6–11.
[47] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 25.
[48] Ebenda, Seite 33–35.
[49] Miriam Singer: Hebräischstunden mit Kafka, im Sammelband von Hans-Gerd Koch: „Als Kafka mir entgegen kam …“ 1995 (siehe Literatur), Seite 140–143. – 1922 intensivierte Kafka, körperlich inzwischen geschwächt, noch einmal seinen Hebräischunterricht. Seine in Palästina geborene Hebräischlehrerin Puah Ben-Tovim (1904–1991) erinnerte sich: „Zwischen 1917 und 1923 begann Kafka, sich allmählich seines Judentums bewusst zu werden. […] Ich glaube auch, dass er sich von Dora Diamant zu einem großen Teil deshalb so sehr angezogen fühlte, weil sie aus einer ultrakonservativen chassidischen Familie kam. Er wollte alles über das Leben der Pioniere in Palästina wissen […] Das Hebräischstudium bot ihm die Möglichkeit zu einer zumindest symbolischen Verbindung zu Palästina […] Ich lebte schon in Berlin, als Kafka mich in Eberswalde in einem Sommerferienlager, in dem ich arbeitete, besuchen wollte […] Kafka bat mich, den Hebräischunterricht wiederaufzunehmen, und ich gab ihm fünf oder sechs Stunden. Dann wurde mir klar, dass dies eigentlich auch Dora tun konnte, die die Sprache in Grundzügen gut beherrschte.“ (Pouah Menczel: J’Etais Professeur D’Hebreu de Kafka, in: Libération, Paris, vom 2./3.7.1983, Seite 19 f.; erneut als Puah Menczel-Ben-Tovim: Ich war Kafkas Hebräischlehrerin, im Sammelband von Hans-Gerd Koch: „Als Kafka mir entgegen kam …“ 1995 (siehe Literatur), Seite 165–167.
[50] Brod 1962, Seite 135–137. – Dora Diamant wiederum notierte in ihren Aufzeichnungen um 1950 unter der Überschrift „Aus Franz‘ Quartheften. 3.10.1911. Letzte Zeilen der Eintragung“: „Erstes direktes Zusammentreffen mit der Welt des Ostjüdischen durch Löwy’s Theatergruppe. Unter den Eindrücken der Aufführung ‚Der Meschumed‘ von Lateiner“ und dann ein wörtliches Zitat aus Kafkas Tagebüchern [Quartheften] vom 8.10.1911: „Wunsch ein großes jiddisches Theater zu sehen, da die Aufführung doch vielleicht an dem kleinen Personal und ungenauer Einstudierung leidet. Auch der Wunsch, die jiddische Literatur zu kennen, der offenbar eine ununterbrochene nationale Kampfstellung zugewiesen ist …“; zitiert nach Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 394.
[51] Franz Kafka an Felice Bauer, 12.9.1916, in: Franz Kafka: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, Frankfurt am Main 1976, Seite 696 f.
[52] Franz Kafka an Hugo und Else Bergmann, Müritz, 13.7.1923, in: Franz Kafka: Briefe 1902–1924, Frankfurt am Main 1975, Seite 436 f.
[53] Dora Diamant: Chronologische Initialien, in: Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 405.
[54] Heute Muthesiusstraße 20–22; vergleiche Sarah Mondegrin: Kafka in Berlin. Das vergessene Haus, in: Tagesspiegel vom 2.12.2012, https://www.tagesspiegel.de/kultur/das-vergessene-haus-2246500.html (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023). Die Vermieterin Clara Hermann wurde 1942 ins Getto Theresienstadt deportiert und starb dort am 19. März 1943. Vor dem Haus Muthesiusstraße 20 wurde 2015 zur Erinnerung an sie ein „Stolperstein“ verlegt. https://www.stolpersteine-berlin.de/de/muthesiusstrasse/20/clara-hermann (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).
[55] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 50–56.