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Dora Diamant. Aktivistin, Schauspielerin und Franz Kafkas letzte Lebensgefährtin

Dora Diamant, vermutlich Düsseldorf um 1928. Porträtfoto, ein Ausschnitt als Passbild markiert

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Dora Diamant, vermutlich Düsseldorf um 1928. Porträtfoto, ein Ausschnitt als Passbild markiert
Dora Diamant, vermutlich Düsseldorf um 1928. Porträtfoto, ein Ausschnitt als Passbild markiert

Eine jüdische Biografie zwischen Polen und Deutschland
 

Dworja Diament wurde nach der Geburtsurkunde im Einwohnermeldeamt von Pabianice am 4. März 1898 als Tochter von Hersz Aron Diament und Frajda Fridl Diament, 24 und 25 Jahre alt, geboren. Der Name des Vaters lautete in der jiddischen Übertragung Herszel (hebräisch Zvi) Aron Lizer Dymant, seine Ehefrau hörte auf den jiddischen Namen Friedel. Früheste Urkunden gehen auf einen Weber Szlama Efroim Dymant zurück, der 1827 in Brzeziny wenige Kilometer östlich von Łódź geboren wurde. Dieser wechselte zwanzig Jahre später mit seiner jungen Familie nach Pabianice, wo zum Ausbau der Baumwollindustrie Weber und Schneider angesiedelt wurden. Herszel Dymant, vermutlich sein Enkel, und Friedel bekamen 1897 einen Sohn, David. Darauf folgten Dworja (oder Dora), dann Jakub, die Schwester Nacha, schließlich Abram und ein weiterer Sohn, Arje. 1905, im Jahr der Geburt des letzten Sohnes, starb die Mutter.[30] Der ältesten Tochter, also Dora, kam von nun an die Versorgung des Haushalts und der Geschwister zu.

Herszel zog nach dem Tod seiner Frau mit den Kindern nach Będzin, wo er sich in der ul. Modrzejowska im Gebiet zwischen der Burgruine und der großen Synagoge (Abb. 1 . ) ansiedelte und erfolgreich eine Werkstatt für Hosenträger und Strumpfbänder betrieb. Er war gebildet, besaß eine umfangreiche Bibliothek, sprach Polnisch, Deutsch, Jiddisch und Hebräisch und wurde einer der angesehensten Bürger der Stadt. Er kleidete sich traditionell im Kaftan, trug Bart und Schläfenlocken, war Leiter der lokalen chassidischen Gemeinde des Rebbe von Ger (Góra Kalwaria) und war verantwortlich für das Gebetshaus. Gemeindemitglieder kamen am Sabbat in sein Haus, während er sich für arme Familien engagierte. Er tat nichts ohne die Entscheidung des amtierenden Gerrer Rebbe, Avraham Mordechai Alter (1866–1948), der wiederum von „Herszel dem Paviancer“, also Herszel aus Pabianice, als seinem „Diamanten“ sprach. Während Będzin am Ende des 19. Jahrhunderts über die siebtgrößte jüdische Gemeinde im Königreich Polen verfügte, die mit rund 11.000 Mitgliedern 45 Prozent der Einwohnerschaft der vom Bergbau geprägten Kreisstadt stellte,[31] widmeten sich die Gerrer Chassiden dem Studium des Talmud, verboten alle Neuerungen und Modernisierungen, die nicht in der Thora standen, und bekämpften die jüdischen Reformbewegungen.

Dora durfte polnische Schulen besuchen, obwohl im russisch regierten Kongresspolen für Kinder bis zum 14. Lebensjahr keine Schulpflicht bestand. Für Mädchen, denen das Studium des Talmuds nach den jüdischen Regeln nicht erlaubt war, verbesserte jedoch eine schulische Allgemeinbildung die „Aussichten auf dem Heiratsmarkt“. Der Vater versäumte indessen, Dora frühzeitig zu verheiraten, was vermutlich auf ihre Pflichten im familiären Haushalt zurückzuführen war.[32] In ihrem Bildungshunger schloss sie sich im Laufe des Ersten Weltkriegs der von zionistischen Gruppen in Będzin gegründeten Organisation Hebraica an, die auf der Grundlage der ersten 1881 gegründeten zionistischen Bewegung, Chibbat Zion, der Überzeugungen von Theodor Herzl (1860–1904) und des ersten Zionistischen Weltkongresses von 1897 die Gründung eines jüdischen Staates und die Verbreitung des Hebräischen als Nationalsprache propagierte. Obwohl die Glaubensgemeinschaft des Gerrer Rebbe den Eltern von Lernenden dieser Organisation, die aus allen politischen und gesellschaftlichen jüdischen Schichten kamen, mit Ausschluss aus der Gemeinde drohten, schrieb Dora sich für Hebräischkurse ein. Die Kurse für Mädchen sowie für Frauen, die ihren Kindern Hebräisch beibringen wollten, wurden von dem in Będzin geborenen Schriftsteller David Maletz (1899–1981), einem der späteren Gründungsmitglieder des Kibbuz En Charod in Palästina, abgehalten, der an einer Talmudhochschule studiert hatte (Abb. 2 . ).[33] Außerdem nahm Dora an einer Theatergruppe teil, in deren Aktivitäten die „ultraorthodoxen religiösen Gruppen“, so Kathi Diamant in ihrem Bericht, eine „Schändung der heiligen Sprache“ sahen.[34]

Nachdem Herszel Dymant 1918 wieder geheiratet hatte und mit seiner neuen Frau weitere Kinder bekam, brachte er Dora nach Krakau, wo sie an der dortigen Beis-Ya’acov-Schule/Szkoła Beis Jaakow zur Kindergärtnerin ausgebildet werden sollte. Diese 1917 von der polnisch-jüdischen Lehrerin Sara Szenirer (Sarah Schenirer, 1883–1935) gegründete Schule, der weltweit weitere Schulgründungen folgten, wurde von den chassidischen Rabbinern wie dem Gerrer Rebbe unterstützt und sollte orthodoxen jungen Frauen erstmals eine höhere Schulbildung ermöglichen, sie vor säkularen Einflüssen und der Assimilation an die polnische Gesellschaft bewahren. Es heißt, dass Dora sich hier erstmals als „denkende und bewusste Person“ wahrnahm.[35] Dennoch fühlte sie sich unter den Mitschülerinnen so unwohl, dass sie heimlich ihre Koffer packte und ins preußische Breslau reiste, wo Bekannte von ihr lebten. Ihr Vater machte sie dort ausfindig, brachte sie erst nach Hause und dann zurück in die Schule nach Krakau.

Doch Dora riss ein zweites Mal aus und fuhr wieder nach Breslau, woraufhin der Vater sich geschlagen gab. Sie arbeitete in einem Kinderheim, lernte Deutsch und bewegte sich in literarischen und studentischen Kreisen. Zu ihren Bekannten gehörte der aus Berlin stammende Journalist Dr. Manfred Georg (Manfred George, 1893–1965),[36] zu dieser Zeit Redaktionsleiter der Vossischen Zeitung in Breslau, nach seiner Ausbürgerung aus Deutschland 1938 Chefredakteur des Nachrichtenblatts Aufbau des German Jewish Club in New York. Der in Breslau geborene Arzt Dr. Ludwig Eleazar Nelken (1898–1985), der dort zum Ende des Ersten Weltkriegs Medizin studiert hatte und zuletzt als Arzt in Jerusalem arbeitete, erinnerte sich, dass Dora, die aus Polen kam, Jiddisch gesprochen, aber sehr schnell Deutsch gelernt habe. Die strenge Hingabe der hübschen und intelligenten Frau zu allem Jüdischen, so Nelken, habe eine gewisse Anzahl von jüdischen Jugendlichen beeinflusst, welche sich anderenfalls assimiliert hätten oder in das linke Lager abgewandert wären (siehe PDF).[37]

 

[30] Zur frühen Biografie von Dora Diamant und zu ihrem familiären Umfeld vergleiche Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 41–50.

[31] Vergleiche: Będzin, auf Świętokrzyski Sztetl – Ośrodek Edukacyjno-Muzealny, http://swietokrzyskisztetl.pl/asp/en_start.asp?typ=14&menu=178&sub=173 (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).

[32] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 45.

[33] Eine Schilderung der Organisation Hebraica in Będzin von Moshe Rozenkar, einem der Gründer, findet sich in dem (hebräisch und jiddisch geschriebenen) über 400 Seiten starken Band von Abraham Samuel Stein (Avraham Shemuʼel Shtain, 1912–1960): Pinkes Bendin. A Memorial to the Jewish Community of Bendin (Poland), Tel-Aviv: Hotsẚat Irgun yotsʾe Bendin be-Yiśrẚel, 1959, Seite 294, https://archive.org/details/nybc313684/page/n6/mode/2up (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023). Dort findet sich auch die früheste fotografische Aufnahme von Dora Dymant im Kreis der Hebräisch-Schülerinnen und mit ihrem Lehrer David Maletz etwa von 1916, Seite 294.

[34] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 27, 46, 48.

[35] Eigener Lebenslauf in der Komintern-Akte in Moskau, zitiert nach Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 49.

[36] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 49.

[37] Eric Gottgetreu: They knew Kafka, in: The Jerusalem Post Magazine, Jerusalem, 14.6.1974, Seite 16, https://archive.org/details/TheJerusalemPost1974IsraelEnglish/Jun%2014%201974%2C%20The%20Jerusalem%20Post%20Magazine%2C%20%2314%2C%20Israel%20%28en%29/page/n7/mode/2up (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023). Die Absätze zu Ludwig Nelken erneut in deutscher Übersetzung als Ludwig Nelken: Ein Arztbesuch bei Kafka, im Sammelband von Hans-Gerd Koch: „Als Kafka mir entgegen kam …“ 1995 (siehe Literatur), Seite 186 f.