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„Der Sturm“ und seine polnischen Künstler 1910–1930

Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)

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Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)
Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)

Die bislang letzte bekannte Ausstellung der Sturm-Galerie fand im April 1930 mit einer Einzelausstellung der aus Łódź stammenden Malerin und Textildesignerin Lena Pillico/Pilichowska (1884-1947) statt. Geboren als Salomea Lena Goldmann, heiratete sie den nach Studienaufenthalten in München und Paris wieder in Łódź lebenden Genremaler Leopold/Lejb Pilichowski (1869-1933)[130] und ging 1914 bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit ihm und ihren vier Kindern nach London. Sie studierte an der Slade School of Fine Art, der Kunstschule des University College London. Zwischen 1923 und 1927 nahm sie an den jüdischen Ausstellungen der Whitechapel Gallery im Londoner East End und an den Ausstellungen der Seven and Five Society teil, welcher in dieser Zeit unter anderem Ben Nicholson (1894-1982) angehörte. Nachdem ihr Ehemann 1926 Vorsitzender der Ben Uri Literary and Art Society geworden war, arrangierte sie im Folgejahr für diese Gesellschaft, die der Unterstützung nach Großbritannien immigrierter jüdischer Künstler gewidmet war, eine Ausstellung in ihrem Atelier im wohlhabenden Londoner Bezirk St. John’s Wood. Ihre Malerei umfasste Landschaften, Straßenszenen und Porträts in einem spätimpressionistischen Stil mit farbigen Akzenten (Abb. 48). Ihre Textilgestaltungen zeigten figurative und abstrakte Motive in starker, phantasievoller Farbigkeit. Auf ihrer Berliner Ausstellung präsentierte sie fünfundfünfzig abstrakte Kompositionen und Malereien auf Wandteppichen aus Samt und textilen Tischdekorationen.[131] Lena Pilichowska, genannt Madame Pillico, starb in Oxford.[132]

Zur gleichen Zeit, im März/April 1930, veröffentlichte Walden in der Sturm-Zeitschrift ein Sonderheft mit dem Titel „Sowjetunion“, in dem alle dreizehn Beiträge von ihm stammten und Berichte über seine Reisen und Erlebnisse enthielten. Im Januar 1931 wurde die finanzielle Situation der Zeitschrift so prekär, dass Walden Wertgegenstände des Sturm verpfänden, seine Kunstsammlung mit Werken von Klee und Chagall zum Kauf anbieten und für sich selbst eine Anstellung suchen musste. Diese fand er schließlich bei der sowjetischen Handelsgesellschaft in Berlin, für die er Messe-Ausstellungen in Dresden und Leipzig organisierte. Im März 1932 erschien das letzte Heft der Sturm-Zeitschrift. Im selben Jahr emigrierte er mit seiner vierten Ehefrau, Ellen Walden, nach Moskau. Er schrieb Theaterstücke und Romane und war von 1936 bis 1939 für eine Emigrantenzeitschrift tätig, die redaktionell von Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger und Willi Bredel, dem späteren Präsidenten der Akademie der Künste der DDR, geleitet wurde. Für sie rezensierte er in Deutschland erschienene Bücher und schrieb Glossen über den Nationalsozialismus. Für einen Schulbuchverlag redigierte er Werke deutscher und russischer Literatur. Im März 1941 wurde er in Moskau verhaftet und starb am 31. Oktober im Alter von dreiundsechzig Jahren in Saratow an der Wolga in einem Gefängnis.[133]


Axel Feuß, Mai 2020

 

Literatur:

Nadine Nieszawer und andere: Artistes juifs de l’École de Paris 1905-1939 / Jewish Artists of the School of Paris, Paris 2015, online: http://ecoledeparis.org/wp-content/uploads/2018/12/1.pdf

Lidia Głuchowska: Artyści polscy w orbicie „Der Sturm”. Historia i historyzacje, in: Qu/art. Kwartalnik Instytutu Historii Sztuki Uniwersytetu Wrocławskiego, Wrocław, Jg. 2013, Nr. 3 (29), Seite 3-30, online: http://quart.uni.wroc.pl/archiwum/2013/29/quart29_gluchowska.pdf

Lidia Głuchowska: Polnische Künstler und Der Sturm: Enthusiasten und Polemiker. Nationale und transnationale Narrative des postkolonialen Avantgarde- und Modernediskurses, in: Der Sturm. Band II: Aufsätze, herausgegeben von Andrea von Hülsen-Esch und Gerhard Finckh, Ausstellungs-Katalog Von der Heydt-Museum, Wuppertal 2012, Seite 455-482 

Inna Goudz: Herwarth Walden und die jüdischen Künstler der Avantgarde, in: Der Sturm. Band II: Aufsätze, herausgegeben von Andrea von Hülsen-Esch und Gerhard Finckh, Ausstellungs-Katalog Von der Heydt-Museum, Wuppertal 2012, Seite 515-540

Lidia Głuchowska: Avantgarde. Berlin – Poznań, in: My, berlińczycy! Wir Berliner! Geschichte einer deutsch-polnischen Nachbarschaft, herausgegeben von Robert Traba, Leipzig 2009, Seite 160-196

Marina Dmitrieva: Polnische Künstler und Der Sturm, in: Grenzüberschreitungen. Deutsche, Polen und Juden zwischen den Kulturen (1918-1939), herausgegeben von Marion Brandt (= Colloquia Baltica 6. Beiträge zur Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas), München 2006, Seite 45-64

Marek Bartelik: Early Polish Modern Art. Unity in Multiplicity, Manchester, New York 2005

Volker Pirsich: Der Sturm. Eine Monographie (Dissertation Universität Hamburg, 1984), Herzberg 1985

Georg Brühl: Herwarth Walden und „Der Sturm“ (Leipzig 1983), Köln 1983

Nell Walden: Herwarth Walden. Ein Lebensbild, Berlin, Mainz 1963, Download: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/walden1963

Nell Walden: Der Sturm. Ein Erinnerungsbuch an Herwarth Walden und die Künstler aus dem Sturmkreis, Baden-Baden 1954, Download: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/walden1954

 

Online:

Digitale Sammlung der Sturm-Kataloge im Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München sowie die begleitende Dokumentation: https://www.zikg.eu/bibliothek/studienzentrum/digitalisierung/kataloge-sturm

Themenportal Herwarth Walden und DER STURM auf arthistoricum.net,https://www.arthistoricum.net/themen/portale/sturm/

Der Sturm auf Monoskophttps://monoskop.org/Der_Sturm

Die digitalisierten Ausgaben der Zeitschrift Der Sturm auf: Heidelberger historische Bestände – digitalhttps://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm

Die digitalisierten Ausgaben der Zeitschrift Der Sturm auf: Blue Mountain Projecthttps://bluemountain.princeton.edu/bluemtn/cgi-bin/bluemtn?a=cl&cl=CL1&sp=bmtnabg&e=-------en-20--1--txt-txIN-------

(Sämtliche hier und in den Anmerkungen zitierten Links wurden zuletzt im Mai 2020 aufgerufen.)

[130] Vergleiche Axel Feuß: Pilichowski, Leopold, in der Encyclopaedia Polonica auf diesem Portal, https://www.porta-polonica.de/de/lexikon/pilichowski-leopold

[131] Brühl 1983 (siehe Literatur), Seite 264

[132] Zur Biografie von Lena Pillico vergleiche die Webseite Ben Uri Collectionhttps://www.benuricollection.org.uk/intermediate.php?artistid=121

[133] Brühl 1983 (siehe Literatur), Seite 81-92