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„Der Sturm“ und seine polnischen Künstler 1910–1930

Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)

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Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)
Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)

Ebenso unbekannt ist, wie der Kontakt zwischen Walden und dem Maler und Grafiker Jesekiel David Kirszenbaum (1900-1954) zustande kam, der 1925 vom Weimarer Bauhaus nach Berlin wechselte und dem Walden im April 1927 eine große Einzelausstellung im Sturm mit Gemälden, Aquarellen und Zeichnungen gewährte (PDF 29). Allerdings gab es einige Berührungspunkte mit Walden: Kirszenbaum hatte am Bauhaus im Vorkurs bei Johannes Itten (1888-1967) zusammen mit dem Maler, Zeichner und Fotografen Paul Citroen (1896-1983) studiert, der 1917 in Berlin für Walden die Sturm-Kunstbuchhandlung eingerichtet hatte und im selben Jahr als Repräsentant des Sturm in die Niederlande gegangen war. Als das Bauhaus zum Jahreswechsel 1924/25 auf politischen Druck hin aufgelöst und nach Dessau verlegt wurde, war auch Citroen nach Berlin gegangen. Mit ihm blieb Kirszenbaum bis in die Dreißigerjahre in engem Kontakt. Außerdem verkehrte Kirszenbaum in Berlin in einem Kreis jüdischer Künstler, dem der aus der Ukraine stammende Maler Issachar Ber Ryback (1897-1935) und der mit Kirszenbaum befreundete Maler Felix Nussbaum (1904-1944 in Auschwitz ermordet) angehörten, der ab 1923 in Berlin an der Lewin-Funcke-Schule studierte. Kirszenbaum stand in dem Ruf, in seiner Kunst die jüdischen Bildmotive von Marc Chagall wiederzubeleben, den Walden schon 1913 im Ersten Deutschen Herbstsalon und im Folgejahr in einer überaus erfolgreichen Einzelausstellung präsentiert hatte. 1917 hatte Citroen in der Sturm‑Zeitschrift einen Essay über Chagall publiziert. Weiter gehörte Kirszenbaum mit seiner Herkunft aus dem ehemals russisch regierten Teil Polens natürlich zu dem Kreis der osteuropäischen Künstler, die Walden in dieser Zeit besonders förderte. Walden veröffentlichte in der Sturm-Zeitschrift nicht nur regelmäßig Anzeigen der Gesellschaft der Freunde des Neuen Russland, sondern reiste selbst 1927 aus Anlass des zehnten Jahrestages der Oktoberrevolution nach Moskau.[121] Nach der Rückkehr von seiner Reise, auf der er auch die podolische Kreisstadt Proskurow/Płoskirów (heute Chmelnyzkyj) besucht hatte, berichtete er in der September-Ausgabe des Sturm von den Segnungen des Bolschewismus.[122]

Kirszenbaum, der in seiner Sturm-Ausstellung unter der deutschen Schreibweise „Kirschenbaum“ auftrat, stammte aus dem neunzig Kilometer nordöstlich von Krakau gelegenen Staszów in Kongresspolen und war jüngstes Kind eines Rabbiners.[123] Als Jugendlicher hatte er sich selbst das Zeichnen beigebracht, gegen die religiösen Unterweisungen und den Wunsch des Vaters, aus ihm einen Rabbiner zu machen, rebelliert und war 1920 nach Deutschland emigriert, um der Rekrutierung zur polnischen Armee und dem Kriegseinsatz gegen Sowjetrussland zu entgehen. Er arbeitete drei Jahre als Bergarbeiter in Duisburg, muss aber auch künstlerisch tätig gewesen sein, denn 1923 vermittelte ihn der Kunsthistoriker August Hoff (1892-1971), später Direktor des Duisburger Kunstmuseums, zum Studium ans Bauhaus, wo er Kurse bei Kandinsky und Klee belegte. 

Kirszenbaums Werk der 1920er-Jahre ist aufgrund seiner späteren dramatischen Lebensumstände bis auf wenige Beispiele verloren gegangen. Aufschluss darüber geben nur rund ein Dutzend erhaltene freie künstlerische Arbeiten, drei Abbildungen im Katalog der Sturm-Ausstellung sowie eine Serie von gedruckten Illustrationen und Karikaturen für Buchpublikationen und Zeitschriften. Wohl 1925 entstanden Arbeiten im kubistischen Stil, darunter ein Selbstporträt, das auf Vorläufer von Chagall und Schlemmer aus den Zehnerjahren anschließt, und zwei Szenen aus dem jüdischen Leben.[124] 1923, also noch während seiner Zeit am Bauhaus, begann der Künstler mit einer Serie von Radierungen, die Motive aus der Synagoge zeigen und noch in jenem naturalistischen Stil gehalten sind, den er sich selbst beigebracht hatte.[125] Daran anschließend entstanden ab 1925 in Berlin die Radierung „Im Beth Hamedrasch“ (Abb. 42) und weitere Zeichnungen und Radierungen mit Motiven aus dem jüdischen Alltag. 1926 schuf Kirszenbaum Szenen und Charakterstudien, wie er sie in seiner Jugend in Staszów, einem Städtchen mit seinerzeit rund neuntausend Einwohnern und über der Hälfte jüdischer Bevölkerung, gesehen hat: einen blinden „Geiger“ (Abb. 43), einen „Bauer mit Gänsen und Schwein“ (Abb. 44) und einen „Wasserträger“ (Abb. 45), welche jedoch erst in späteren Jahren in dem Berliner Kulturmagazin Der Querschnitt als Illustrationen erschienen. Das einzige aus der frühen Zeit erhaltene Gemälde mit dieser Thematik, „Der Geiger im Stetl“ (Abb. 46), erinnert an ein 1912/13 entstandenes kubistisches Bildmotiv von Chagall, „Le violiniste“, das noch 1917 als Holz- oder Linolschnitt in der Sturm-Zeitschrift erschien.[126] Es reflektiert jedoch ebenfalls Kirszenbaums Jugenderinnerungen und bereitet mit seinem spätimpressionistischen Stil seine Arbeiten der Dreißiger- und Vierzigerjahre vor. 

[121] Brühl 1983 (siehe Literatur), Seite 71, 77

[122] „ … hier ist kein Land der Zerstörung. Die USSR ist ein Land des Aufbaus. Ein Land der Arbeit. Und ein Land der Sehnsucht nach Menschenglück.“ Herwarth Walden: USSR 1927, in: Der Sturm, 18. Jahrgang, 6. Heft, Berlin, September 1927, Seite 73-75, online: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1927_1928/0082/image

[123] Kirszenbaum ist bislang nicht ausreichend für den Kreis der polnischen Sturm-Künstler gewürdigt worden, da seine Biografie und sein Werk erst nach Erscheinen der Arbeiten von Marina Dmitrieva und Lidia Głuchowska in einer ersten großen Monografie rekonstruiert wurden: J.D. Kirszenbaum (1900-1954). The Lost Generation. From Staszów to Paris, via Weimar, Berlin and Rio de Janeiro / La génération perdue. De Staszów à Paris, via Weimar, Berlin et Rio de Janeiro, herausgegeben von Nathan Diament, Paris 2013. Seitdem ist weitere Literatur über den Künstler erschienen. Vergleiche zusammenfassend und versehen mit einer umfangreichen digitalen Ausstellung auf diesem Portal Axel Feuß: Jesekiel David Kirszenbaum (1900-1954) – Ein Bauhaus-Schüler (2019), https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/jesekiel-david-kirszenbaum-1900-1954-ein-bauhaus-schueler; dort weitere Literatur.

[124] Alle erwähnten Werke sind, soweit nicht anders angegeben, in der oben erwähnten digitalen Ausstellung auf diesem Portal abgebildet.

[125] Beide Werke im Besitz des Leo Baeck Institute in New York, https://www.lbi.org/artcatalog/search?q=Kirszenbaum. Die dort angegebenen Titel, „Paul von Jecheskiel“, bezeichnen wohl in Wirklichkeit den ursprünglichen Besitzerwechsel (also: von Jecheskiel an Paul geschenkt).

[126] Marc Chagall: Le violiniste, 1912/13, Stedelijk Museum, Amsterdam, https://www.stedelijk.nl/en/collection/753-marc-chagall-le-violoniste; ein Holz- oder Linolschnitt von Chagall mit einem Geiger vor dem Stetl noch 1917 abgebildet in: Der Sturm, 8. Jahrgang, 2. Heft, Berlin, Mai 1917, Seite 25, online: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1917_1918/0031/image