„Der Sturm“ und seine polnischen Künstler 1910–1930
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Unter der Überschrift „Kubistische Malerei“ berichtete der Vorwärts, das Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, am 21.2.1920 zur Ausstellung: „Kubistischer Ausdruckformen bedienen sich auch mehrere andere in der Sturm-Ausstellung vertretene Künstler, darunter ein junger Pole, Stanislaus Kubicki …“[60] Im Februar-Heft der Sturm-Zeitschrift erschienen von Kubicki zwei von den Originalplatten gedruckte Linolschnitte, die Motive aus der Ausstellung, nämlich „Ekstase“ und „Der Bassgeigenspieler“, variieren, ohne dass die Titel genannt wurden (Abb. 10, 11).[61] Beide Werke des Künstlers, der für gewöhnlich als Expressionist wahrgenommen wird, lassen sich stilistisch nicht eindeutig zuordnen. Das Gemälde „Ekstase“ (Abb. 9) wurde von den Zeitgenossen vermutlich aufgrund der stereometrischen Formen mit dem Kubismus in Verbindung gebracht. Das Motiv zeigt aber durch den emotionalen Titel, die dramatischen Lichteffekte und die strahlenförmige Gestaltung, die die grafische Fassung (Abb. 10) noch verstärkt, auch eine enge Verbindung zu den kristallinen Architekturen, die 1920 im Utopischen Expressionismus, nämlich in der Gruppe Gläserne Kette oder von Walter Gropius bei seinem „Denkmal für die Märzgefallenen“, entworfen wurden. Auch ein Bezug zu Lyonel Feininger ist denkbar. Ähnlich bis an die Grenze zur Abstraktion rhythmisch-kristallin komponiert ist auch der „Bassgeigenspieler“ (Abb. 11), bei dem die Figur des Musikers mit dem Geigenbogen jedoch deutlich zu erkennen und dem Analytischen Kubismus zugeordnet werden kann.
Die Posener Zeitschrift Zdrój orientierte sich seit ihrer Gründung nicht nur durch die Förderung des Expressionismus, sondern auch in ihrer Aufmachung und den Aktivitäten wie dem Abhalten von Ausstellungen und Vorträgen, dem Betreiben eines Buchverlags und der Herausgabe von Postkarten am Sturm und an der Aktion. Hulewicz brach seine Kontakte zur Aktion jedoch im Oktober 1918 offiziell ab, als diese für die Revolution in Russland Partei ergriff und sich während der Novemberrevolution in Deutschland dem linken Spektrum zuwandte. Hatte Przybyszewski schon davor gewarnt, dass sich Zdrój mit der Orientierung an den Berliner Zeitschriften und der „explizit expressionistischen Ausrichtung“ in Polen nicht würde halten können,[62] so kritisierten seit der Wiedererrichtung des polnischen Staates 1918/19 konservative Kreise in Posen/Poznań, dass weiterhin Texte und Grafik aus den Berliner Blättern abgedruckt wurden.[63] Kubicki, der bereits in der Zeit um 1910 polnisch-patriotische Gedichte geschrieben hatte, verfasste zwischen 1918 und 1921 unter dem Einfluss seiner Ehefrau revolutionäre Aufrufe, Gedichte und religiöse Parabeln in deutscher und polnischer Sprache. In Kreisen der internationalen Berliner Avantgarde präsentierte er sich, so Głuchowska, als Anarchosyndikalist und „Gegner jeglicher offizieller Künstlergruppierungen“, weshalb er neuen Organisationen wie dem Arbeitsrat für Kunst oder der Novembergruppe nicht beitrat und vermutlich auch die Zusammenarbeit mit dem Sturm wieder beendete.[64]
1921 lernte Kubicki den Maler Franz Wilhelm Seiwert (1894-1933) bei dessen erstem Besuch in Berlin kennen[65] und kam durch ihn in Kontakt mit der kurz zuvor durch Seiwert und Heinrich Hoerle (1895-1936) gegründeten und bis 1933 bestehenden Künstlergruppe Kölner Progressive, die Kubisten, Abstrakte und Maler der Neuen Sachlichkeit vereinigte. Zu deren engerem Umfeld gehörten auch Freundlich und der polnisch-jüdische Maler Jankel Adler (1895-1949). Mit Adler, der aus Tuszyn bei Łódź stammte und 1919 in Łódź die Künstlergruppe Jung Idysz (Jung Jidysz/Jung Jiddisch) mit gegründet hatte, zu der wiederum die Gruppe Bunt in engem Kontakt stand, traf Kubicki mehrfach in Deutschland zusammen.
Als im März 1922 die Novembergruppe, die Dresdner Sezession Gruppe 1919 und die Gruppe Das junge Rheinland gemeinsam das Kartell fortschrittlicher Künstlergruppen in Deutschland gründeten, riefen in Berlin das Ehepaar Kubicki, Freundlich, Hausmann, Seiwert, Adler und andere als Gegenpol die utopisch-kommunistisch und linksradikal orientierte Künstlergruppe Kommune ins Leben. Diese richtete sich gegen merkantile und bürokratische Strukturen im Kunstbetrieb und postulierte in einem von Kubicki mit unterzeichneten Manifest, „dass der Einzelne eine geistige und moralische Unbestechlichkeit erwiesen haben muss, um der Träger eines Weltgedankens zu sein.“[66] Die Kommune zeigte noch im selben Jahr in der Reihe der Arbeiter-Kunst-Ausstellungen in der Petersburger Straße 39 im Berliner Arbeiterviertel Prenzlauer Berg eine Internationale Ausstellung revolutionärer Künstler, in der Polen durch die Gruppe Bunt mit dem Ehepaar Kubicki, Skotarek und Szmaj sowie die Gruppe Jung Idysz mit Adler vertreten war und an der auch Freundlich, Seiwert und die belgische Gruppe Lumière teilnahmen.[67]
[60] J.S.: Kubistische Malerei, in: Vorwärts. Berliner Volksblatt. Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, 37. Jahrgang, Nr. 96, Berlin, 21.2.1920, Abendausgabe, Seite 2
[61] Identifizierung der Bildmotive durch Głuchowska 2012 (siehe Literatur), Seite 462
[62] Brief von Stanisław Przybyszewski an Jerzy von Hulewicz in Kościanki, Ende März 1918, publiziert von Głuchowska 2012 (siehe Literatur), Seite 461 (Übersetzung von der Autorin)
[63] Głuchowska 2012 (siehe Literatur), Seite 461 f.
[64] Ebenda, Seite 463
[65] Martin Pesch: Franz Wilhelm Seiwert. Künstler und sozialistischer Essayist (1894-1933), auf dem Portal Rheinische Geschichte,http://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/franz-wilhelm-seiwert/DE-2086/lido/5d43f66ec1b9e3.83920212
[66] Manifest der Kommune, Berlin 1922, Berlinische Galerie, abgebildet auf dem Portal Deutsche Digitale Bibliothek, https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/DEKRQSMDTYJGHV2MFIFYKA42ZFJPNDS6; publiziert in: Die zwanziger Jahre. Manifeste und Dokumente deutscher Künstler, herausgegeben und kommentiert von Uwe M. Schneede, Köln 1979, Seite 102 f.
[67] Revolution und Realismus. Revolutionäre Kunst in Deutschland 1917-1933, Ausstellungs-Katalog Staatliche Museen zu Berlin, Altes Museum, Ostberlin 1979, Seite 38, 150; Lidia Głuchowska 2012 (siehe Literatur), Seite 464; Einladungskarte zur Eröffnung der Ausstellung mit Liste der Ausstellenden abgebildet in: Die zwanziger Jahre 1979 (siehe Anmerkung 66), Seite 104