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„Der Sturm“ und seine polnischen Künstler 1910–1930

Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)

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Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)
Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)

So gut wie alle 1927 in der Sturm-Ausstellung gezeigten Arbeiten gelten heute als verschollen. Lediglich die Katalognummern 18: „Bauer mit Schwein“, 53: „Wasserträgerpaar“ und 65: „Beth hamidrasch“ sowie einige Nummern mit Geigern, Blinden und bettelnden Musikern lassen sich den erhaltenen Werken direkt oder thematisch zuordnen. In diese Reihe mit folkloristischen Motiven gehört auch die im Katalog abgebildete Tuschezeichnung Nr. 13: „Vater und Sohn im Schnee“. Das abgebildete Gemälde „Disput“ greift mit dem am Tisch vor seinen Schriften sitzenden Rabbi erneut ein Motiv von Chagall auf, und zwar dessen 1912 entstandenes Gemälde „Der Rabbiner (Die Prise)“. Ein motivgleiches Aquarell mit dem Titel „On dit“ schuf Chagall 1921. Es erschien in der Sturm‑Zeitschrift als Vierfarbendruck[127] und wurde seitdem vom Sturm-Verlag durchgehend bis in die 1930er-Jahre als Kunstdruck vertrieben. Kirszenbaums dritte im Katalog abgebildete Arbeit, das Gemälde „Chazoth“ mit dem in den Umrissformen stark vereinfachten Porträt eines Rabbi während einer bestimmten Gebetszeit, erinnert an Einzelporträts, die der Maler erst in den Vierzigerjahren wieder aufnahm. Die Titel der übrigen Arbeiten deuten bis auf wenige Ausnahmen auf Volkstypen und alltägliche oder religiöse Genremotive, wie der Künstler sie aus dem jüdischen Leben in Staszów kannte. 

Auch die zeitgenössische Kritik sah einen deutlichen Einfluss von Chagall auf Kirszenbaums Arbeiten. Ernst Collin (1886-1942 in Auschwitz ermordet), einer der Schriftleiter der linksliberalen Berliner Volks‑Zeitung, schrieb, die Motive seiner Arbeiten würden dreierlei verraten: „Erstens, dass er Russe, zweitens, dass er Jude ist, und drittens ein Jünger seines Landsmannes und Glaubensgenossen Marc Chagall. Die Seele des russischen Gettos ist in seinen Blättern. Nicht müde wird er, von alten bärtigen Juden, die den Talmud lieben, zu erzählen. Im nervösen Strich seiner Zeichnungen, in der farbigen Andeutung bei den Aquarellen zeigt sich – trotz aller Gebundenheit an Chagall – doch auch die Selbständigkeit eines überlegten stilistischen Ausdrucks.“[128]

Neben seiner freien künstlerischen Arbeit zeichnete Kirszenbaum (Abb. 47) zwischen 1926 und 1931 Karikaturen für die in Berlin erscheinende Satire-Zeitschrift Ulk, den Querschnitt und das Münchner Unterhaltungsblatt Jugend. 1929 war er auf der Jubiläumsausstellung zum zehnten Jahrestag der Novembergruppe vertreten. 1930 heiratete er Helma Joachim (1904-1944 in Auschwitz ermordet), die als Sekretärin für die Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger arbeitete. Spätestens zu dieser Zeit verkehrte Kirszenbaum in radikal linken Kreisen. Er wurde Mitglied der Assoziation revolutionärer bildender Künstler Deutschlands (Asso), trat vermutlich der KPD bei, zeigte Werke in der KPD-nahen Ausstellung Frauen in Not und veröffentlichte Zeichnungen in kommunistischen Magazinen und Zeitungen. 1933 flohen er und seine Frau über Nacht vor den Nationalsozialisten nach Paris und ließen ihren gesamten Besitz in Berlin zurück.

Kirszenbaum fand schnell Anschluss sowohl bei den französischen als auch bei den aus ganz Europa zugewanderten Künstlerinnen und Künstlern der École de Paris,[129] beteiligte sich an Gruppen- und zeigte Einzelausstellungen. Künstlerisch konzentrierte er sich auf Volksszenen aus dem Ostjudentum und verlegte in seinen Gemälden biblische Überlieferungen wie etwa den Einzug Jesu in Jerusalem nach Staszów, der Stadt seiner Kindheit. Stilistisch wechselte er zwischen einem späten Impressionismus und farbigen Szenerien nach dem Vorbild der Gruppe Fauves. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde seine Frau nahe Paris interniert, während er in ein Lager nach Südfrankreich kam. Zur Jahreswende 1943/44 wurde Helma Kirszenbaum aus dem Sammellager Drancy ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert und ermordet. Ihr Mann überlebte das Kriegsende in einem Versteck in Südfrankreich. Nach Paris zurückgekehrt, fand er neuen Lebensmut und künstlerische Betätigung mit Unterstützung der Baronin Alix de Rothschild, unternahm Reisen in die Mittelmeerländer und nach Brasilien. Kirszenbaum starb 1954 an einer Krebserkrankung.

[127] Der Sturm, 12. Jahrgang, 12. Heft, Dezember 1921, Seite 209, online: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1921/0261/image

[129] Vergleiche Nieszawer 2015 (siehe Literatur), Seite 177 f. / 428 f.