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„Der Sturm“ und seine polnischen Künstler 1910–1930

Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)

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Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)
Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)

Herwarth Walden, geboren am 16. September 1878 und mit bürgerlichem Namen Georg Lewin, war ältestes von drei Kindern des in Berlin-Friedrichshain ansässigen Urologen und späteren Sanitätsrats Dr. Viktor Lewin aus einer vermutlich aus Russland eingewanderten jüdischen Familie und dessen Ehefrau Emma, geborene Rosenthal.[2] Seine Eltern hatten für ihn den Beruf des Buchhändlers vorgesehen, er selbst hatte jedoch ein Musikstudium am Berliner Konservatorium durchgesetzt und ein Stipendium der Franz-Liszt-Stiftung für hervorragendes Klavierspiel erhalten. Er interessierte sich aber auch für Literatur und bildende Kunst. 1903 gründete er einen literarischen Verein, den Verein für Kunst, in dem berühmte Schriftsteller wie Heinrich und Thomas Mann, Frank Wedekind, Richard Dehmel, Rainer Maria Rilke, Karl Kraus, Paul Scheerbart, Alfred Döblin und Else Lasker-Schüler vor Publikum auftraten. Zwischen 1908 und 1910 redigierte er Kulturzeitschriften wie Nord und SüdDer KometMorgenDer neue Weg und Das Theater.[3] Alle diese Tätigkeiten entfremdeten ihn zunehmend von seinem Elternhaus, das für seine intellektuellen und künstlerischen Ambitionen kein Verständnis hatte. 1903 hatte er die Dichterin Else Lasker-Schüler (1869-1945) geheiratet, die das Pseudonym „Herwarth Walden“ für ihn fand. Die Verbindung zu seinen Eltern brach ab, als Lasker-Schüler ihnen „in einem Anfall von Unbeherrschtheit die Türe gewiesen“[4] hatte. Erst seine zweite Ehefrau, die Malerin, Musikerin, Schriftstellerin und Kunstsammlerin Nell Roslund, seitdem Nell Walden (1887-1975), die er 1912 nach der Scheidung von Lasker-Schüler heiratete, stellte die Verbindung zu den Eltern wieder her, die später sogar zu den Ausstellungs-Eröffnungen der Sturm-Galerie erschienen, zwar weiterhin wenig Verständnis für moderne Kunst aufbrachten, aber doch stolz auf die Leistungen ihres Sohnes waren. Walden, so erinnerte sich Nell Walden später, liebte seine Stadt, Berlin, sowie die drastische Ausdrucksweise und den pragmatischen Humor ihrer Bewohner. In seinen eigenen Dramen schilderte er Berliner Milieus.[5] Er habe sich nie als Jude, aber auch nicht als Deutscher, sondern als Europäer gefühlt. „Die deutsche Landschaft war ihm ebenso gleichgültig wie irgendeine andere auf der Welt […] Hätte Walden eine Wunschvorstellung von Heimat gehabt, dann wäre es wahrscheinlich die Vision eines abgeschlossenen Zimmers mitten in der Großstadt gewesen. Ein Raum, angefüllt mit Büchern …“[6]

Durch Lasker-Schüler lernte Walden den Wiener Schriftsteller und Herausgeber der satirischen Zeitschrift Die Fackel, Karl Kraus (1874-1936), kennen. Im Frühjahr 1909 reiste er offenbar nach Wien um mit Kraus die Herausgabe der Fackel in Berlin zu verhandeln und lernte dort auch den Architekten und Architekturkritiker Adolf Loos sowie den Maler Oskar Kokoschka kennen.[7] Ab Juli 1909 leitete Walden für die Fackel das Berliner Büro. Im September wurde er Chefredakteur der Zeitschrift Das Theater, die über das Berliner und Pariser Theaterleben berichtete. Als er vier Monate später im Zerwürfnis entlassen wurde, beschloss er, eine eigene Zeitschrift zu gründen, nahm finanzielle Hilfe von Kraus in Anspruch und orientierte sich in der Anfangsphase an der Fackel. Am 3. März 1910 erschien das erste Heft von Waldens neuer Wochenschrift für Kultur und die Künste, deren Titel, Der Sturm, so berichten Zeitzeugen, von Lasker-Schüler stammte und als deren Erscheinungsorte Berlin und Wien auf dem Umschlag standen. 

Die frühesten Hefte waren verschiedenen Gebieten der Kulturkritik und literarischen Essays gewidmet. Als erste Beiträge erschienen – offensichtlich aufgrund der Verbindung zu Waldens neuem Wiener Freundeskreis – ein Text von Kraus über Sinn und Unsinn der zeitgenössischen Operette, eine Geschichte von Loos über die Wertlosigkeit von Ornament und Dekoration in der modernen Architektur, gefolgt von Lasker-Schülers Kritik über den Schriftsteller Peter Baum sowie Texten von Salomo Friedlaender, genannt Mynona, und Samuel Lublinski, die ihre eigenen Werke rechtfertigten und die beide mit Walden, Lasker-Schüler und den Literaten aus dem Verein für Kunst befreundet waren. Im zweiten Heft folgten literarische Essays von Döblin und Lasker-Schüler, von Ludwig Rubiner über den belgischen Dramatiker Fernand Crommelynck, von Kraus zur Literaturkritik und von dem österreichischen Schriftsteller und Kunstkritiker Joseph August Lux über „Kunst und Ethik“. Erst ab der achten Nummer im April 1910 erschienen in einzelnen Heften künstlerische Illustrationen, zunächst großformatige Karikaturen ungenannter Künstler auf herausragende Persönlichkeiten der Zeit, nämlich auf den klassischen Philologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, den Maler Max Liebermann und den Theaterregisseur Max Reinhardt, letztere von dem Karikaturisten und Werbegrafiker Joe Loe (Joel/Josef Löwenstein, *1883). Ab dem zwölften Heft veröffentlichte Walden in regelmäßiger Folge Zeichnungen von Kokoschka, darunter in der Reihe „Menschenköpfe“ Porträts von Kraus, Loos und Walden sowie Zeichnungen zu Kokoschkas Drama „Mörder, Hoffnung der Frauen“, der späteren Oper von Paul Hindemith. Die Konzentration des Sturm auf die Literatur, die erste Phase der Zeitschrift, dauerte bis 1912,[8] beendet durch Waldens Trennung von Lasker-Schüler, dem Weggang etlicher Autoren und dem abrupten Ende der Freundschaft mit Kraus.[9]

 

[1] Untersuchungen von Rainer Enders (Stand 2017), Dokumentation zur digitalen Sammlung der Sturm-Kataloge im Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München (siehe Online-Nachweise)
[2] Brühl 1983 (siehe Literatur), Seite 7

[3] Ebenda, Seite 24-26

[4] Walden 1954 (siehe Literatur), Seite 46

[5] Ebenda, Seite 46 f.

[6] Walden 1963 (siehe Literatur), Seite 16

[7] Der Sturm. Herwarth Walden und die europäische Avantgarde, Ausstellungs-Katalog Nationalgalerie Berlin (West), Berlin 1961

[8] Pirsich 1985 (siehe Literatur), Seite 61 ff.

[9] „Als wir zu Anfang des Jahres 1913 in Wien waren, wo mich Walden seinen Wiener Freunden als seine junge Frau vorstellte, vor allem Kokoschka und dem Wiener Architekten Adolf Loos, machte mich eines Abends Kokoschka im Café Central, wo die Wiener Künstler sozusagen den Tag und die Nacht verbrachten, auf einen einsamen Mann aufmerksam, der in einer Ecke des Cafés hinter einem Stoß Zeitungen saß, und sagte: ‚Das ist Karl Kraus.‘ Eine Annäherung fand aber nicht statt.“ (Walden 1963, siehe Literatur, Seite 17)

Der literarischen Ausrichtung der frühen Zeit und der engen Verbindung zu Wien entsprach auch der Abdruck von immerhin acht Gesellschafts-Stücken und einer Literaturkritik eines österreichischen Schriftstellers polnischer Abstammung, des Ministerialbeamten Thaddäus/Tadeusz Rittner (1873-1921), zwischen März 1910 und Juli 1912. Bereits im dritten Heft der Zeitschrift erschien dessen exotisch-groteske Novelle „Vegetation“ (PDF 1). Rittner, der auch unter dem Pseudonym Tomasz Czaszka schrieb, wurde als Sohn des Juristen Edward/Eduard Rittner (1845-1899) und dessen Ehefrau Helene Tarnawska (†1921) in Lemberg geboren. Der Vater war Professor für Kirchenrecht an der dortigen Universität, 1883-85 deren Rektor und Vizerektor und befürwortete die Einführung des Polnischen als Vorlesungssprache. 1886 ging dieser nach Wien und arbeitete bis 1895 im Bildungsministerium, war 1895/96 Bildungsminister und 1896-98 Minister für Galizien. Tadeusz/Thaddäus kam als Zwölfjähriger nach Wien, besuchte das Gymnasium Theresianum, studierte Jura an der Wiener Universität und wurde 1897 promoviert. Nach einjährigem Praktikum an der Statthalterei in Brünn war er von 1898 bis 1918 im Ministerium für Kultus und Unterricht in Wien tätig, ab 1913 als Sektionsrat, ab 1916 als Regierungsbeauftragter zur Förderung des Volksschulunterrichts in Galizien und Leiter der Abteilung für schöne Künste. 1915 wirkte er als Direktor und Regisseur des Polnischen Theaters in Wien, wo er sowohl eigene als auch Stücke anderer Autoren aufführte. 1918 auf eigenen Wunsch in den Ruhestand versetzt, nahm er 1919 die polnische Staatsangehörigkeit an und versuchte vergeblich in Warschau eine angemessene Beamtenstelle zu finden. Von einem endgültigen Umzug nach Polen nahm er aufgrund einer Erkrankung und besserer Kurmöglichkeiten in Österreich Abstand und starb 1921 im Alter von 52 Jahren in Bad Gastein.[10]

Rittner, dessen Muttersprache Polnisch war, schrieb in beiden Sprachen, in der frühen Zeit zunächst in Polnisch und übersetzte dann selbst ins Deutsche, später umgekehrt. Entsprechend gilt er als Mittler zwischen der polnischen und der deutschen Sprache und Literatur. Beeinflusst wurde er vom neoromantischen, nationale Traditionen und Werte beschwörenden Dichterkreis des Jungen Polen/Młoda Polska um den Dramatiker und Maler Stanisław Wyspiański (1869-1907), aber ebenso bewunderte er die Deutschen Gerhart Hauptmann sowie Thomas und Heinrich Mann, die Norweger Knut Hamsun und Henrik Ibsen, den Österreicher Arthur Schnitzler und den Russen Anton Tschechow. 1894 erschien in der Krakauer Zeitung Czas seine erste, sofort preisgekrönte Erzählung, „Lulu“, der sechs Jahre später eine Novellensammlung folgte. Seine Dramen zu verschiedenen Themen der zeitgenössischen von Heuchelei, Lebensangst, erotischen Spannungen, Doppelmoral und Konfliktsituationen geprägten Gesellschaft der zerfallenden Donaumonarchie gehörten zu den meistgespielten Stücken der Zeit. Außerdem schrieb er für zahlreiche polnische und deutsche Zeitschriften Kolumnen, Theaterkritiken und Buchrezensionen, darunter für die in Krakau und Lemberg erscheinende illustrierte literarische, künstlerische und soziale Wochenzeitung Życie/Das Leben. In der gehobenen Wiener Gesellschaft spielte Rittner eine bedeutende Rolle. Er verkehrte ebenso in den Salons der Aristokraten, Politiker und hohen Beamten[11] wie auch im berühmten literarischen Salon der Schriftstellerin, Journalistin und Kunstkritikerin Berta Zuckerkandl (1864-1945), bei der sich die führenden Komponisten der Zeit wie Johann Strauss (Sohn) und Gustav Mahler, Literaten wie Arthur Schnitzler, Secessionisten wie Gustav Klimt und Theaterleute wie Max Reinhardt trafen. In den Feuilletons polnischer Zeitschriften brachte er dem dortigen Publikum das Kulturleben und die Alltagsatmosphäre Wiens und die literarische Bewegung der Wiener Moderne nahe.[12]

Eine engere Beziehung pflegte Rittner offenbar auch zu Karl Kraus, der im April 1906 Rittners Rezension oder „Ehrenrettung“, wie Kraus urteilte, des Märchendramas „Und Pippa tanzt!“ von Gerhart Hauptmann in der Zeitschrift Die Fackel veröffentlichte,[13] eine Verteidigung gegen die Verrisse der maßgebenden deutschen Kritiker von Maximilian Harden über Rainer Maria Rilke bis Alfred Kerr. 1913 beteiligte sich Rittner an einer von dem Schriftsteller und Verleger Ludwig von Ficker (1880-1967) in dessen Zeitschrift Der Brenner initiierten „Rundfrage über Karl Kraus“, an der unter anderem Lasker-Schüler, Dehmel, Wedekind, Thomas Mann, Peter Altenberg, Georg Trakl und Loos teilnahmen, und schrieb: „Karl Kraus ist einer der wenigen reinen Künstler unserer Zeit. […] Ich habe den größten Respekt vor der strengen Moral seines deutschen Stils und die innigste Freude an der dichterischen Kraft seiner gesellschaftlichen Ethik.“[14]

Einen Nachdruck von Rittners Rezension auf Hauptmanns „Und Pippa tanzt!“ publizierte Walden in der dreißigsten Nummer des Sturm im September 1910 (PDF 4). Zuvor waren dort im Juni im fünfzehnten Heft unter dem Titel „Théatre paré“ vier grotesk-absurde Gesellschafts-Szenen (PDF 2) und im Heft Nr. 28 das „Tagebuch eines Märchenkönigs“ erschienen (PDF 3). Zwischen Oktober und Dezember 1910 wurden von Rittner ein Gesellschaftsdrama über eine Vergewaltigung (PDF 5), ein kurzer Essay über die „Moral der Lotterie“ (PDF 6) und die Novelle über einen Menschen mit unbeugsamem „Charakter“ (PDF 7) veröffentlicht. Im Februar 1911 publizierte Rittner in zwei Folgen unter dem Titel „Rettungsaktion“ Szenen aus einer Hotel-Pension um einen von seiner Frau betrogenen Trinker und dessen Selbstmord (PDF 8). Anderthalb Jahre später, im Juli 1912, beendete Walden die Serie mit Rittners Novelle „Jour Fixe“ über einen literarischen Salon, der nach dem Ableben der Teilnehmer in einer Gruft auf dem Friedhof von Messina stattfindet (PDF 9) – ein Wiederabdruck aus dem im selben Jahr vom Autor im Deutsch-Österreichischen Verlag in Wien und Leipzig herausgegebenen Novellenband „Ich kenne sie“. 

[10] W. Schmidt-Dengler: Rittner, Thaddäus (Tadeusz), in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950, Band 9, Lieferung 42, 1985, Seite 183, online: https://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_R/Rittner_Thaddaeus_1873_1921.xml; Rotraud Hackermüller: Rittner, Tadeusz, in: Neue Deutsche Biographie 21, 2003, Seite 671 f., online: https://www.deutsche-biographie.de/sfz106078.html; Halina Floryńska-Lalewicz: Tadeusz Rittner (2004), auf culture.plhttps://culture.pl/pl/tworca/tadeusz-rittner

[11] Agnieszka Palej: Tadeusz Rittner und die Wiener Moderne, in: Avantgarden in Ost und West. Literatur, Musik und Bildende Kunst um 1900, herausgegeben von Hartmut Kirchner, Maria Kłańska, Erich Kleinschmidt, Köln, Weimar, Wien 2002, Seite 141-158, hier Seite 143

[12] Ebenda, Seite 145

[13] Thaddäus Rittner: Und Pippa tanzt!, in: Die Fackel, VII. Jahrgang, Nr. 22, Wien, 3. April 1906, Seite 9-13

[14] Ludwig von Ficker (Herausgeber): Rundfrage über Karl Kraus, Sonderdruck der Beiträge in der Zeitschrift Der Brenner, 3. Jahrgang, Heft 18-20, Juni/Juli 1913, Innsbruck 1917, Seite 31, online: https://archive.org/details/rundfrageuberka00fick/page/30/mode/2up

Den polnischen Novellisten, Dramatiker und Romancier Stanisław Przybyszewski (1868-1927) lernte Walden offenbar im Kreis um den Dichter Richard Dehmel kennen, in dessen Haus bereits Waldens Lehrer am Berliner Konservatorium, Conrad Ansorge (1862-1930), verkehrte.[15] Przybyszewski wurde 1868 in dem Dorf Lojewo im Kreis Inowrazlaw (heute Łojewo bei Inowrocław) als Sohn eines Lehrers geboren, ging zunächst auf das Gymnasium in Thorn und legte sein Abitur am Realgymnasium in Wongrowitz ab. 1889 ging er nach Berlin, studierte erst Architektur, dann Medizin, redigierte 1892/93 die von den deutschen Sozialdemokraten unterstützte polnische sozialistische Arbeiterzeitung Gazeta Robotnicza, wurde deshalb von der Polizei überwacht, verhaftet und 1893 von der Berliner Universität verwiesen. Mit seinem 1892 in Berlin erschienenen literarischen Debüt über „Chopin und Nietzsche“ in einer zweibändigen Reihe „Zur Psychologie des Individuums“[16] fand er Zugang zur Berliner Boheme. Er wurde der führende Kopf einer Gruppe von bildenden Künstlern und Schriftstellern, die sich zwischen 1892 und 1894 in der Kneipe Zum schwarzen Ferkel traf, darunter der skandinavische Stammtisch mit dem Schriftsteller und Dramatiker August Strindberg und den Malern Edvard Munch, Holger Drachmann und Christian Krogh, dann die deutschen Schriftsteller und Literaten Bierbaum, Dehmel, Dauthendey, Schlaf, Julius und Heinrich Hart, Scheerbart und andere.[17] Eng befreundet war er mit Dehmel. 1894-96 lebte er in Norwegen, 1696-98 wieder in Berlin. 1898-1900 redigierte er in Krakau die Zeitschrift Życie und verkehrte mit Mehoffer, Stanisławski, Tetmajer, Wyspiański und Żeleński. Später lebte er in Lemberg, Warschau, Thorn und München. Ab 1919 arbeitete er in der Postdirektion in Posen/Poznań, 1920-24 in der Bibliothek der Eisenbahndirektion in Danzig, schließlich 1924-26 in der Kanzlei des polnischen Staatspräsidenten Stanisław Wojciechowski (1869-1953) in Warschau.[18]

Im Zentrum von Przybyszewskis Philosophie und literarischem Denken standen das Unterbewusste und die ursprüngliche, nackte Seele. Er verarbeitete „Positionen und Stereotype von Décadence und Fin de siècle mit einem für deutsche Verhältnisse ungewohnten Tempo: Nietzscheanismus, Individualismus, Seelenkult und Geschlechterkampf gehen da unterschiedlichste Liaisonen ein.“[19] Zugleich pflegte er einen exzentrischen, anti-bürgerlichen Kult um seine eigene Person. Im Kreis seiner Freunde, so der polnische Dichter, Übersetzer und Literaturkritiker Tadeusz Boy-Żeleński (1874-1941), „gab es nebelhafte Vorstellungen von einem genialen Schriftsteller mit polnischem Namen, der das Junge Deutschland in Aufruhr versetzt hatte. Man wusste nicht einmal, ob er wirklich Pole war. Einer der Jungen schrieb ihn an und erhielt eine Antwort im reinsten Polnisch. Zugleich verschlangen wir seine ersten Werke in deutscher Sprache. Welch eine bestrickende, exotische Lektüre! Przybyszewski bereicherte mit seiner Originalität die deutsche Sprache um neue Worte, ‚chopinisierte‘ sie, wie seine deutschen Freunde es enthusiastisch oder erbost ausdrückten. Er übertrug die polnische Romantik, den slawischen Weltschmerz und die slawische Sehnsucht und schuf eine eigene deutsche Sprache, die wie Orgeltöne klang.“[20] Przybyszewski selbst erinnerte sich: „Man hat in Polen von meinem Einfluss auf die deutsche Literatur phantasiert. Ich habe ihn wirklich ausgeübt – aber nicht mit meinem geschriebenen Werk, das ihnen von Natur fremd war und fremd sein musste, obwohl ich mich jener Sprache bedient habe oder eher: bedienen musste. Sie verstanden die Worte, waren sogar erstaunt, dass ich so unverschämt ihre Sprache chopinisierte, aber der Geist meines Werkes war ihnen fremder als ein chinesischer – einer nur verstand ihn: Richard Dehmel.“[21]

Der Fluchtpunkt von Przybyszewskis privater Mythologie war der „Dualismus zwischen ‚Gehirn‘ und ‚Seele‘, denen ‚Persönlichkeit‘ und ‚Individualität‘ (= Genie) zugeordnet“ wurden. Den Weg dazu eröffnete sich „Przybyszewski durch einen pompösen Schöpfungsmythos“.[22] Seine „Totenmesse“ von 1893 begann mit den Worten: „Am Anfang war das Geschlecht. Nichts außer ihm – alles in ihm“. Eine Essenz dieses Themas, also eine Mythologie der menschlichen Geschlechtlichkeit in einer Zeit, „wo die Sexualfrage mehr als je zuvor in den Vordergrund gestellt wird“ (Przybyszewski), veröffentlichte er im Dezember 1907 als Essay unter dem Titel „Das Geschlecht“ in Wien in Kraus‘ Fackel.[23] Es war zugleich der einzige Text von Przybyszewski, den Walden im Sturm publizierte, und zwar im September 1910 und erneut als wortgleichen Wiederabdruck (PDF 10).

[15] Brühl 1983 (siehe Literatur), Seite 10

[16] Der zweite Band war dem schwedisch-deutschen Schriftsteller Ola Hansson (1860-1925) gewidmet.

[17] Walter Fähnders: Anarchismus und Satanismus bei Stanislaw Przybyszewski, in: Über Stanislaw Przybyszewski. Rezensionen, Erinnerungen, Porträts, Studien (1892-1995). Rezeptionsdokumente von 100 Jahren, herausgegeben von Gabriela Matuszek, Paderborn 1995, Seite 305-326, hier Seite 307

[18] W. Bieńkowski: Przybyszewski, Stanisław, in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950, Band 8, Lieferung 39, 1982, Seite 315 f., online: http://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_P/Przybyszewski_Stanislaw_1868_1927.xml?frames=yes118742108

[19] Fähnders (siehe Anm. 17), Seite 308

[20] Tadeusz Boy-Zelenski: Erinnerungen an das Labyrinth. Krakau um die Jahrhundertwende. Skizzen und Feuilletons, Leipzig, Weimar 1979, Seite 205

[21] Jahrhundertwende. Die Literatur des jungen Polen 1890-1918, herausgegeben von Maria Podraza-Kwiatkowska, Leipzig 1979

[22] Fähnders (siehe Anm. 17), Seite 308

[23] Stanislaw Przybyszewski: Das Geschlecht. Weininger’s Manen gewidmet, in: Die Fackel, IX. Jahrgang, Nr. 239-240, Wien, 31.12.1907, Seite 1-11

Warum es zwischen Walden und Przybyszewski zu keiner engeren Zusammenarbeit kam, ist nicht bekannt. Hinweise finden sich in zwei Briefen von Przybyszewski an den Schriftsteller und Maler Jerzy (von) Hulewicz (1886-1941), der seit 1917 in Posen die polnische Literatur- und Kunstzeitschrift Zdrój/Die Quelle herausgab und in der anfänglich neben Texten von Przybyszewski auch zahlreiche esoterische und theosophische Artikel erschienen.[24] Przybyszewski warnte Hulewicz im Frühjahr 1918 davor, die Zeitschrift Zdrój mit dem deutschen Expressionismus in Verbindung zu bringen: „Ich befürchte sehr, dass ‚Zdrój‘ eingehen wird, wenn man ihn ganz den Jungen überlässt […]. Anders verhält es sich mit ‚Action‘ oder ‚Sturm‘ – Zeitschriften, die ihren Mitarbeitern keinen Pfennig zahlen, ganz im Gegenteil, sie leben von deren Geld und können sich in einer Gesellschaft, die 64 Millionen Menschen zählt, alles erlauben.“ Und später: „Den Expressionismus suchen Sie in sich, nicht in ‚Stürmen‘ und ‚Die Aktion‘ – suchen Sie ihn in der Gotik – in der altchristlichen Kunst – in den Wundern der Romantik …“[25] Im Juni 1918 zeigte Hulewicz eigene Gemälde, Zeichnungen und Holzschnitte im Rahmen der polnischen Künstlervereinigung Bunt/Die Revolte in den Berliner Räumen der Zeitschrift Die Aktion,[26] die der Publizist Franz Pfemfert (1879-1954) 1911 nach dem Vorbild des Sturm gegründet und die dem Expressionismus mit zum Durchbruch verholfen hatte. Im September 1918 widmete die Aktion Hulewicz ein Sonderheft und eine Einzelausstellung.[27] Als die Künstler der Gruppe Bunt ab 1918 begannen, die Zeitschrift Zdrój zu dominieren, stellte Przybyszewski auch dort die Zusammenarbeit ein.

Waldens Verbindung zu Kokoschka und Loos seit dem Frühjahr 1909 war sicher mit dafür verantwortlich, dass sich Walden in dieser Zeit der bildenden Kunst zuwandte. Außerdem war er über die Schauspielerin Tilla Durieux (1880-1971) mit dem Kunsthändler Paul Cassirer (1871-1926) bekannt, den Durieux 1910 heiratete. Mit dem Verein für Kunst veranstaltete Walden bei Cassirer Konzerte. Im Oktober 1909 schrieb Loos an Walden in einem häufig zitierten Brief: „Maler Oskar Kokoschka will in Berlin eine Ausstellung veranstalten. Ich bürge für einen sensationellen Erfolg. Wäre bei Cassirer Platz?“[28] Im Juni und Juli 1910 feierte Kokoschka schließlich mit dreißig Gemälden und zusätzlichen Zeichnungen im Kunstsalon Cassirer in der Viktoriastraße 35 sein Deutschland-Debüt. Im Mai 1911 trat Walden im Sturm offen für die Dresdner Künstlergruppe Die Brücke ein, die anlässlich einer Ausstellung in Köln von der dortigen Presse angefeindet wurde. Er zitierte die Kölnische Zeitung, die vermutlich im Zusammenhang mit Erich Heckel schrieb: „Außerdem beteiligt sich als Gast ein Dresdner Maler, der […] in dem Zug des Perversen, mit dem er die Nacktheit darstellt, doch mit den anderen verwandt ist. Weder ihn noch diese möchten wir mit Namen nennen […] Die Bilder sind an Nichtsnutzigkeit der Zeichnung nicht zu übertreffen und bedeuten nichts anderes als grellbunte Spielereien von irgendwelchen Kannibalen.“ Walden fügte im Sturm hinzu: „Die Namen der ausstellenden Kannibalen lauten: Kuno Amiet, E. Heckel, E.L. Kirchner, Max Pechstein“ und zeigte auf dem Titel seiner Zeitschrift einen weiblichen Akt von Heckel, „Das schwarze Tuch“.[29]

An die Gründung der Sturm-Galerie erinnerte sich Nell Walden: Seine, Waldens, „Absicht im Rahmen der STURM-Zeitschrift Kunstausstellungen zu veranstalten, besprach er schon anfangs 1912 mit mir. Es handelte sich darum, Künstlern, bildenden Künstlern und Gruppen, wie z.B. ‚Der Blaue Reiter‘ aus München, die Möglichkeit zu Ausstellungen zu geben, die ihnen von den Kunstvereinen verwehrt wurden, weil sie zu revolutionär malten.“ Nach der Suche geeigneter Räume fand eine erste Ausstellung mit dem Blauen Reiter, Kokoschka, französischen Künstlern und dem polnischen Bildhauer Franz Flaum im März 1912 in der später abgerissenen Gilka-Villa in der Tiergartenstraße 34a statt, eine zweite im April mit der italienischen Gruppe der Futuristen, die an manchen Tagen bis zu eintausend Besucher hatte. Nachdem immer mehr Künstler und Gruppen um Ausstellungsmöglichkeiten nachsuchten, wurde eine dritte Ausstellung im Mai mit vorwiegend französischer Grafik in neuen Räumen in der Königin-Augusta-Straße 51 gezeigt. Ab dem Juni 1913 waren die Redaktion des Sturm, der im März 1910 gegründete Sturm-Verlag, Waldens Privatwohnung, die Ausstellungsräume, schließlich die Kunstsammlung und die Kunstschule des Sturm in sieben Wohnungen des Hauses Potsdamer Straße 134a untergebracht. 1917 wurde die Kunstbuchhandlung des Sturm einige Häuser weiter in der Potsdamer Straße 138a eröffnet.[30] Seit den ersten Ausstellungen rückte die bildende Kunst auch in den Fokus der Sturm-Zeitschrift.

[24] Bartelik 2005 (siehe Literatur), Seite 122

[25] Briefe von Stanisław Przybyszewski an Jerzy von Hulewicz, München, vor dem 10.2.1918 und 6.3.1918, publiziert von Głuchowska 2012 (siehe Literatur), Seite 461 (Übersetzung von der Autorin)

[26] Kunstausstellung der Aktion Berlin W, Kaiserallee 222. 1.-30.Juni 1918. Kollektiv-Ausstellung der polnischen Künstlervereinigung „Bunt“. Gemälde / Graphik / Plastiken. Verzeichnis der ausgestellten Werke, in: Die Aktion, 8. Jahrgang, Heft 21/22, Berlin, 1. Juni 1918, nach Spalte 286

[27] Sonderheft Jerzy v. Hulewicz, Die Aktion, VIII. Jahrgang, Heft 35/36; September: IX. Sonderausstellung: J. v. Hulewicz, Berlin 7. September 1918, nach Spalte 442, online: http://www.aaap.be/Pdf/Die-Aktion/Die-Aktion-08-1918.pdf

[28] Brühl 1983 (siehe Literatur), Seite 33; Oskar Kokoschka. Der Sturm. Die Berliner Jahre 1910-1916. Eine Dokumentation, herausgegeben von Werner J. Schweiger, Wien 1986, Seite 9; Günter Berghaus: Kokoschka’s „Murderer, Hope of Women“. An Early Specimen of Expressionist Theatre, in: Der Aufbruch in die Moderne. Herwarth Walden und die europäische Avantgarde, herausgegeben von Irene Chytraeus-Auerbach, Elke Uhl = Kultur und Technik, 24, Berlin 2013, Seite 43

[29] Der Sturm, Jahrgang 1911, Nr. 63, Berlin, 25. Mai 1911, Seite 499 f., online: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1911_1912/0055/image

[30] Walden 1954 (siehe Literatur), Seite 10-13

Der Bildhauer Franz/Franciszek Flaum (1866-1917), der in der ersten Sturm-Ausstellung neben Kokoschka und den Malern des Blauen Reiter mit den Künstlern der Gruppe Fauves wie Braque, Derain, Dufy, Friesz und De Vlaminck sowie den Kubisten Delaunay und Herbin auftrat (PDF 11), stammte aus einer ursprünglich bayerischen Familie mit dem Namen „Pflaum“, die im 18. Jahrhundert nach Großpolen eingewandert war und sich seitdem polnisch assimiliert hatte. Geboren in Posen als Sohn eines Zimmermanns, studierte er dort zunächst bei dem Historienmaler und Bildhauer Marian Jaroczyński (1819-1901), anschließend mit Unterstützung einer Gesellschaft zur Förderung des wissenschaftlichen polnischen Nachwuchses[31] an den Kunstakademien in Berlin und München sowie an der Académie Julian in Paris. Bereits 1887 zeigte er eine Porträtbüste auf der Ersten großen Ausstellung polnischer Kunst in Krakau.[32] Nach dem Studium eröffnete er ein Bildhaueratelier in Berlin-Charlottenburg.

Flaum war der Schwager von Przybyszewskis erster Lebenspartnerin Marta Foerder (1872-1896) und verkehrte in dessen Kreisen. Der Schriftsteller und Anarchist Erich Mühsam (1878-1934 im KZ Oranienburg ermordet) erinnerte sich: „Bald saßen wir mit Peter Hille zusammen im ‚Vierzehntel-Topp‘, einer Destille am Potsdamer Platz, oder im Café Austria, bald zogen wir mit dem Lyriker Franz Evers, dem polnischen Bildhauer Franz Flaum, einem Freund Przybyszewskis, oder dem großen norwegischen Maler Edvard Munch durch die Friedrichstadt von einer Kneipe zur anderen, bald begegneten wir uns in dem Atelierhaus an der Möckernbrücke, wo Flaum seine an Rodin geschulten dämonisch-erotischen Skulpturen schuf und wo sich dann gewöhnlich noch der Redakteur des ‚Magazins für Literatur‘ Carl Philipps und mein alter Freund, der Stirnerianer Johannes Gaulke, einfanden.“[33] Der Schriftsteller Peter Hille war wiederum eng mit Lasker-Schüler befreundet. Für den Juristen und Kunsthistoriker Eberhard von Bodenhausen (1868-1918), der 1895 zusammen mit Przybyszewski und anderen die Kunst- und Literaturzeitschrift Pan gründete, schuf Flaum im Jahr zuvor dessen Büste.[34] 1897 veröffentlichte Przybyszewski im Deutschen Musenalmanach eine ausführliche Würdigung und Interpretation von Flaums bisherigem bildhauerischem Werk,[35] die 1904 in Berlin in einem Sammelband mit fünf Essays über Flaum erneut erschien.[36] 1906 gründete Flaum gemeinsam mit dem Maler Ignacy Stryczyński (*1898) ein polnisches Kabarett, das in dem berühmten Berliner Künstlertreffpunkt Café des Westens Erfolge feierte.[37]

Flaum schuf erotische, einerseits vergeistigte, andererseits triebhaft bewegte Ton- und Bronzeplastiken sowie Marmorskulpturen mit Titeln wie „Eva“, „Vampir“, „Alp“, „Fatum“, „Sein“, „Mann und Frau“, „Lust“, „Versuchung“ und „Liebe“, die bis zur Karikatur übertriebene körperliche Hässlichkeiten wie hängende Brüste, geschwollene Bäuche und irre Gesten nicht verleugnen und die noch dem Symbolismus nahestehen. Sie illustrieren den von Przybyszewski beschworenen Gegensatz von natürlichen Trieben und Intellekt. Der Schriftsteller sah in Flaums Plastiken einen „Ausdruck für den geschlechtlichen Pessimismus seitens des Mannes, Magier und Asket, der Ekel vor der Befleckung seiner Seele im Geschlechtlichen“ verspüre. In Flaums angeborener Religiosität würden sich „germanische und slawische Elemente vermischen.“[38] Offenbar haben sich Przybyszewski und Flaum gegenseitig beeinflusst. 

Der Schriftsteller, Dramaturg und Lyriker Georg Muschner-Niedenführ (1875-1915) schrieb 1904 in einer Rezension des Essay-Bandes über Flaum in der Zeitschrift Die Kunst für alle: „Er vergeistigte seine Kunst, indem er geistvolle Werke darzustellen suchte. Er wurde Bildhauer-Dichter. […] Diese Vergeistigung und Verinnerlichung entwickelte Flaum schließlich so weit, dass er sie als eine neue Lösung des plastischen Problems überhaupt gezeigt hat. Er gibt nicht mehr bloße Akte und Figuren, die irgendetwas darstellen sollen, sondern er schafft plastische Dichtungen, Kompositionen.“ (PDF 12) In der Sturm-Ausstellung zeigte Flaum 1912 vier Marmorskulpturen, „Vision“, „Wolke“ – eine Arbeit von 1900, bei der sich eine nackte Frau an einen riesigen Phallus lehnt –,[39] „Der Kuss“ und „Der Morgen“, sowie drei Bronzeplastiken und eine Gipsfigur, „Shakespeare“, „Prometheus“, „Auf dem Felsen“ und „Zwei Schwestern“. 1913 ging er nach Posen, wurde Mitglied des Verbands polnischer Künstler „Sztuka“/Towarzystwo Artystów Polskich „Sztuka“ und Präsident des Polnischen Künstlerkreises in Posen/Koło Artystów Polskich w Poznaniu. Sein künstlerischer Nachlass befindet sich im Nationalmuseum in Poznań/Muzeum Narodowe w Poznaniu. In der Stadt erinnern die von ihm geschaffenen Skulpturen an der Fassade der ehemaligen Bank Włościański, Plac Wolności 9, an den Bildhauer.[40]

Walden behielt die schnelle Folge von Ausstellungen bei und zeigte über achtzehn Jahre hinweg bis zum April 1930 mit wenigen Ausnahmen jeden Monat eine Ausstellung. Bis zum September 1913 waren es bereits siebzehn Ausstellungen mit damals jungen, aufstrebenden und heute berühmten Künstlern wie Campendonk, Jawlensky, Kandinsky, Klee, Marc, Münter, Werefkin, erneut der Gruppe Fauves, Gauguin, Segal, Delaunay, Severini und Archipenko um nur einige zu nennen. Nahezu alle Künstler hatte Walden vorher persönlich getroffen. Entweder kamen sie nach Berlin oder er besuchte sie auf einer seiner zahlreichen Reisen in ganz Europa. Nell Walden erinnerte sich an Besuche von Franz Marc, Delaunay, dem Dichter Guillaume Apollinaire sowie den Futuristen Marinetti und Boccioni in Berlin im Januar und Februar 1913. Das übrige Jahr seien sie und ihr Mann „fast ständig auf Reisen“ gewesen. In Wien besuchten sie erneut Loos und Kokoschka, trafen Künstler in Budapest, Lothar Schreyer in Hamburg und reisten schließlich über Barmen, Elberfeld, Düsseldorf und Köln nach Paris. Dort kamen sie erneut mit Apollinaire, Robert und Sonja Delaunay zusammen, trafen Gris, Léger, Chagall, Metzinger, Gleizes, Picabia und akquirierten Bilder des 1910 verstorbenen Henri Rousseau für eine Gedächtnisausstellung.[41] Die gesamte Reise habe der Vorbereitung des für September 1913 geplanten Ersten Deutschen Herbstsalons gedient, den Walden in Anlehnung an den berühmten, seit 1903 in Paris stattfindenden Salon d’Automne in Berlin etablieren wollte und der dann tatsächlich vom 20. September bis zum 1.Dezember 1913 in der Potsdamer Straße 75 mit 75 Künstlern aus zwölf Ländern und 366 Werken stattfand. In dieser bahnbrechenden Ausstellung, die von der Berliner Presse kaum zur Kenntnis genommen wurde, waren auch zwei polnische Künstler vertreten, die als solche weder an ihren Namen noch durch ihre Herkunftsorte erkennbar waren: Stanislas Stückgold aus München und Louis Marcoussis, den das Ehepaar Walden ebenfalls in Paris getroffen hatte (PDF 13).

[31] Towarzystwo Naukowej Pomocy dla Młodzieży Wielkiego Księstwa Poznańskiego/Gesellschaft für die wissenschaftliche Unterstützung der Jugend des Großherzogtums Posen, gegründet 1841 von Karol Marcinkowski und Maciej Mielżyński zur finanziellen Unterstützung talentierter mittelloser junger Polen im preußischen Teilungsgebiet auf dem Gebiet von Posen und Großpolen

[32] Katalog Pierwszej Wielkiej Wystawy Sztuki Polskiej w Krakowie, Krakau 1887, Seite 23, online: https://polona.pl/item/katalog-pierwszej-wielkiej-wystawy-sztuki-polskiej-w-krakowie-we-wrzesniu-1887-wystawa,NDcyNjMzNjM/28/#info:metadata

[33] Erich Mühsam: Ausgewählte Werke, Band 2, Publizistik. Unpolitische Erinnerungen, Berlin 1978, Seite 523 f., online: http://www.zeno.org/Literatur/M/M%C3%BChsam,+Erich/Schriften/Unpolitische+Erinnerungen/Die+zehnte+Muse

[34] Brief von Stanisław Przybyszewski an Baron Eberhard von Bodenhausen in Berlin, Kongsvinger, 14.6.1894, in: Stanisław Przybyszewski, Briefe 1879-1927 (aus dem Polnischen von Aurelia Jaroszewicz), Oldenburg 1999, Seite 49 f.

[35] Stanislaw Przybyszewski: Franz Flaum, in: Deutscher Musenalmanach für das Jahr 1897, herausgegeben von Wilhelm Arent, Wien, Leipzig 1897, Seite 103-108

[36] Franz Flaum. Fünf Essays von Stanislaw Przybyszewski, Rudolf von Delius, Samuel Lublinski, Emil Geyer, Cesary Jellenta, Berlin 1904

[37] Głuchowska 2012 (siehe Literatur), Seite 459

[38] Gabriela Matuszek: Krisen und Neurosen. Das Werk Stanisław Przybyszewskis in der literarischen Moderne (aus dem Polnischen von Dietmar Gass), Hamburg 2013, Seite 36

[39] Głuchowska 2012 (siehe Literatur), Seite 458, Abbildung 1

[40] Weitere Literatur: Piotr Szubert: Franciszek Flaum (Pflaum), auf: culture.pl (2002), https://culture.pl/pl/tworca/franciszek-flaum-pflaum; H. Kubaszewska: Flaum (Pflaum), Franciszek, in: Saur Allgemeines Künstlerlexikon, Band 41, München, Leipzig 2004, Seite 105
[41] Walden 1954 (siehe Literatur), Seite 13-18

Den Maler Stanislaus/Stanislas/Stanisław Stückgold (1868-1933) hatte Walden vermutlich ebenfalls 1913 in Paris kennen gelernt, kurz bevor dieser nach München wechselte. Enkel eines berühmten Rabbiners, war Stückgold in Warschau in einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie aufgewachsen. Nach dem Gymnasialabschluss absolvierte er an der Universität Zürich und an der Sorbonne in Paris ein Studium zum Chemie-Ingenieur.[42]Anschließend diente er in der russischen Armee, war als Assistent an staatlichen chemischen Laboren in Berlin und Düsseldorf tätig und leitete später in Warschau eine Chemie-Fabrik. Nach Zwischenstationen in London bei Eisenbahn- und Dampfschiffunternehmen kehrte er nach Warschau zurück und arbeitete dort als Fabrikleiter. Nachdem er sich 1905/06 an Aufständen gegen das Zarenregime beteiligt hatte und in Moskau und St. Petersburg inhaftiert worden war, entschied er sich für einen Berufswechsel. Mit achtunddreißig Jahren begann er ein Studium der Bildhauerei an der Kunstakademie in Warschau und wechselte nach einem halben Jahr nach München an die private Malschule des Ungarn Simon Hollósy (1857-1918). Mit diesem und den anderen Studenten verbrachte er die Sommermonate in der ungarischen Künstlerkolonie Nagybánya, wo er 1908 seine spätere Ehefrau, die in Siebenbürgen geborene Elisabeth von Veress (1889-1961), kennen lernte. 

Noch im selben Jahr ging das Paar nach Paris. Stückgold wurde Schüler von Henri Matisse, freundete sich mit Rousseau an, lernte Picasso, Otto Freundlich, Apollinaire und den Kunstkritiker André Salmon kennen. Bereits 1909 stellte er im Salon des Indépendants aus. Während des Sommeraufenthalts in Siebenbürgen wurde die Tochter Felicitas geboren, die ihr Leben lang halbseitig gelähmt blieb und an Epilepsie litt. 1913 lernte das Paar offenbar den russischen Kunsthistoriker Trifon Trapesnikov (1882-1926) kennen, der sich in München und Moskau für die Anthroposophie engagierte und mit Rudolf Steiner am Goetheanum in Dornach arbeitete. Das Ehepaar Stückgold folgte Trapesnikov nach München, weil es sich von Steiners Lehre Hilfe für die Tochter erhoffte, und trat dort in die Anthroposophische Gesellschaft ein. Stückgold knüpfte Freundschaften mit den Künstlern des Blauen Reiter, insbesondere mit Franz Marc und Marianne Werefkin, und eröffnete eine Malschule, die er bis 1921 betrieb. Walden zeigte von ihm im Ersten Deutschen Herbstsalon 1913 ein Stillleben, ein Interieur sowie ein „Bildnis der kleinen Judith Wolfskehl“, Tochter des im Münchner Kreis um Stefan George tätigen Schriftstellers und Übersetzers Karl Wolfskehl (1869-1948), das er im Katalog abbildete. 1913 und 1917 präsentierte die Münchner Galerie Hans Goltz, offenbar auf Vermittlung von Werefkin, Einzelausstellungen von Stückgold, denen eine ausführliche Besprechung in der Zeitschrift Deutsche Kunst und Dekoration folgte. Paul Klee, der von dem jungen Maler Max Peiffer Watenphul (1896-1976) um Unterrichtsstunden gebeten wurde, verwies diesen an Stückgold.[43]

Während der Münchner Räterepublik engagierte sich Stückgold im April 1919 im Rat der bildenden Künstler Münchens, hielt, wie im Bayerischen Kurier zu lesen war, fanatisch-doktrinäre Reden und gründete zusammen mit anderen eine eigene Organisation noch links vom Künstlerrat, den Aktionsausschuss revolutionärer Künstler,[44] dem auch Klee angehörte, und wurde vorübergehend verhaftet. Gegen Ende des Jahres trennten sich die Wege des Ehepaars Stückgold. Elisabeth ging nach Dornach, um von Steiner Rat für ihre Tochter zu erbitten, gefolgt von dem Mediziner, Anthroposophen und Literaten Albert Steffen (1884-1963). Steffen, den die Eheleute 1914 in München kennen gelernt hatten und den der Maler 1916 porträtierte, hatte nach eigener Aussage im Laufe der Zeit mit Elisabeth und ihrer Tochter eine „geistbegründete Gemeinschaft“ entwickelt.[45] Nach dem Tod von Steiner wurde Steffen 1925 Vorsitzender der Anthroposophischen Gesellschaft. 1922 war Stanislaus Stückgold in der polnischen Abteilung der Ersten Internationalen Kunstausstellung in Düsseldorf mit einem Gemälde „Der Schutzengel“, zwei Holzschnitten und einer Kreidezeichnung vertreten.[46] 1923 kehrte er nach Paris zurück, wo er bis 1926 erneut eine Malschule betrieb. 1931 war er offenbar wieder München, wo seine Teilnahme an einer Diskussion über den Religionsphilosophen Martin Buber (1878-1965) im Jungzionistischen Arbeitskreis belegt ist.[47] Nach seinem Tod im Januar 1933 gewannen Elisabeth Stückgold und Albert Steffen André Salmon dafür, in der Pariser Galerie Bernheim-Jeune eine Retrospektive des Malers zu organisieren.[48] 1935 heirateten Steffen und Elisabeth Stückgold.[49]

[42] Angela Matile: Stückgold, Stanislas, auf der Webseite der Forschungsstelle Kulturimpuls, Dornach, http://biographien.kulturimpuls.org/detail.php?&id=954. Ein dort erwähntes Studium auf dem „Polytechnikum in Warschau“ kommt nicht in Betracht, da ein solches seit 1831 nicht existierte. Das Polytechnische Institut/Instytut Politechniczny im. Cara Mikołaja II wurde erst 1898 eröffnet.

[43] Biografie Max Peiffer Watenphul, online: https://peifferwatenphul.de/de/bio/1914-1918/
[44] Joan Weinstein: Art and the November Revolution in Germany 1918-19, Chicago, London 1990, Seite 168
[45] Heinz Matile: „Wie die Schüler – Lehrer werden“. Zum „Adonis-Spiel“ von Albert Steffen, in: Hinweise und Studien zum Lebenswerk von Albert Steffen, Heft 5/6, Dornach 1986, Seite 3-56
[46] Katalog der ersten internationalen Kunstausstellung Düsseldorf 1922 vom 28. Mai bis 3. Juli 1922 im Hause Leonhard Tietz, A.-G., Düsseldorf 1922, Abteilung B: Ausländische Künstler. Polen (ohne Seite). Die von der Gruppe Das Junge Rheinland organisierte Ausstellung fand anlässlich des Kongresses der Union internationaler fortschrittlicher Künstler statt, auf dem auch Herwarth Walden anwesend war. Zu Kongress und Ausstellung siehe weiter unten.
[47] „Jungzionistischer Arbeitskreis. […] An der Diskussion beteiligten sich … Der Maler Stückgold …“ (Das jüdische Echo, 18. Jahrgang, Nr. 21, 22. Mai 1931, Seite 317, online: https://archive.org/stream/JudischeEcho/Jg.%2018%2C%20Nr.%2021%20%281931%29#page/n7/mode/2up/search/St%C3%BCckgold
[48] Exposition rétrospective d'œuvres de Stanislas Stückgold (1868-1933). Du 14 octobre au 27 octobre 1933, Ausstellungs-Katalog Galerie Bernheim-Jeune, Paris 1933
[49] Artikel Albert Steffen auf AnthroWikihttps://anthrowiki.at/Albert_Steffen. Weitere Literatur: Elisabeth Steffen [d.i. Elisabeth Steffen-Stückgold]: Selbstgewähltes Schicksal, Band 1, Dornach 1961, Seite 79-83; Clemens Weiler: Stückgold, Wiesbaden 1962; Stanislas Stückgold 1868-1933, Ausstellungs-Katalog Städtisches Museum Wiesbaden, Städtische Kunstsammlungen Bonn, Städtische Galerie München, Wiesbaden 1958; André Salmon: Stanislas Stückgold 1868-1933, Paris 1954 

 

Seine künstlerischen Grundlagen fand Stanislaus Stückgold bei Rousseau und Matisse.[50] Er schuf Landschaften, auch mit Nahaufnahmen von Pflanzen und Tieren, teils in gewagter Perspektive, sowie Blumen- und Früchtestillleben in flächiger, noch dem Jugendstil verpflichteter Komposition mit ornamentalen Umrissen und leuchtend heller, von Matisse beeinflusster Farbigkeit. „Die Dinge, die Stückgold malt“, schrieb Kuno Mittenzwey 1917 in der Deutschen Kunst und Dekoration (PDF 14), „führen von vornherein ihren Raum mit sich, jene dem Zufälligen entrückte Ebene des Seins, in der sich wesenhafte Ereignisse abspielen. Wo Tiefe gebraucht wird, wird sie mit einem Minimum primitiver Perspektive hergestellt. Dem Illusionären, Scheinhaften wird niemals nachgegangen, für Halbtöne, Übergänge, alles Transitorische ist kein Platz. Damit das Sein einfach werde, wird der farbige Aufbau mit naiven, elementaren Farben unter starker Steigerung durch den Kontrast hergestellt.“ Auch seine zahlreichen Porträts (Abb. 1), denen er gelegentlich Attribute wie Blumen, Früchte, Bücher oder Kerzen beigab, zeigen eine fast naive, flächige Einfachheit mit grober Binnenzeichnung. Bildnisse schuf er unter anderem von Martin Buber, Albert Einstein, dem SPD-Politiker Oskar Cohn sowie von Frau und Tochter. 1916 malte er Lasker-Schüler, die in München zum anthroposophischen Freundeskreis um den Schriftsteller Alexander von Bernus (1880-1965) gehörte und die über das ihr wenig attraktiv erscheinende Porträt erbost war, welches Bernus in der philosophisch-anthroposophischen Zeitschrift Das Reich veröffentlicht hatte.[51]

Ein bedeutender Teil von Stückgolds Werk ist Themen aus der jüdischen und der christlichen Mythologie gewidmet, die er häufig aufeinander bezog: In einem um 1918 entstandenen „Moses-Zyklus“ zeigt er den Propheten, wie er als Seher Christus am Kreuz erblickt oder vor diesem kniet, aber auch das Jesuskind, das, von Maria gehalten, auf die von Moses gehaltenen Gesetzestafeln zeigt. Die in diesen Bildern noch gesteigerte, kindlich-naive Einfachheit aus klarer Umrisszeichnung und leuchtenden Farben näherte sich anthroposophischem Kunstverständnis an.[52] Im Spätwerk band er Figuren in aufsteigende Sphärenklänge ein und verstand offenbar wie die Anthroposophen Kunst als Brücke zu höheren geistigen Wesenheiten. 1921 schuf er einen Zyklus von Tierkreisbildern, in denen er jüdische und christliche Figuren zu ornamentalen Kompositionen verband. Der expressionistische, der Anthroposophie nahestehende Schriftsteller Theodor Däubler (1876-1934) schrieb in der Kunstzeitschrift Der Cicerone: „Stückgold ahnt, ja schaut plötzlich die Herkunft eines Wesens von Planeten, aus Gestirnen. Er wittert des Menschen unendliche Beziehungen zu den flammenden Schriften, die der Schöpfer, uns zu Häupten, im Tierkreis emporsteigen und allmählich wieder versinken lässt. […] Hätten die Sterngläubigen bereits wieder einen Tempel, so müsste Stückgold ihn ausschmücken!“ (PDF 15) Steffen ergänzte 1923: „Aber er schaute auch in den Abgrund, in die totale Schwärze, in die Tiefe der Nacht hinein, und er beseelte diese Finsternis dadurch, dass er die Psalmen hebräisch für sich meditierte, sie sogar leise vor sich hinsang und dadurch eine innere Farbe in sich erweckte, und diese innere Farbe erfüllte dann die Dunkelheit und gestaltete ein wundersames Blau daraus. Aus diesem Blau entstanden für Stückgold die Imaginationen der Tierkreisbilder.“[53]

[50] Vergleiche auch Jerzy Malinowski: U źródeł polskiej awangardy. Przypomnienie Stanisława Stückgolda, in: Sztuka Europy Wschodniej, Band 3, Warschau 2015, Seite 201-207; Stanislas Stückgold 1868-1933, Ausstellungs-Katalog Galerie Uwe Opper, Kronberg im Taunus 2020. Der Nachlass von Stanislaus Stückgold befindet sich in Teilen in der Albert-Steffen-Stiftung und in der Kunstsammlung des Goetheanum in Dornach.
[51] „Ich bin noch krank vom Anblick des Stückgoldbildes – wir sind Alle krank geworden. Zum Kotzen? Aber ich glaub nicht, dass Sie mich beleidigen wollten. Ich hätte schon Selbstmord verübt falls ich noch bei meinem gerade nicht annehmbaren Gesicht noch so ††† aussehen würde. Aber Schwamm drüber!“ Else Lasker-Schüler an Alexander von Bernus, in: Sigrid Bauschinger: Else Lasker-Schüler. Biographie, Göttingen 2013, Seite 224. Als Lasker-Schüler Stückgold 1929 zufällig in Berlin begegnete, war ihr Zorn jedoch verflogen und sie veröffentlichte im Berliner Tageblatt eine freundliche Würdigung des Malers mit Erinnerungen an die Münchner Zeit mit Frau und Tochter (Berliner Tageblatt, Jahrgang 58, Nr. 69, Abend-Ausgabe, vom 9. Februar 1929). – Das Bildnis Else Lasker-Schüler, 1916, Öl auf Leinwand, 41 x 33 cm, Inv. Nr. 1017, befindet sich heute im Von-der-Heydt-Museum in Wuppertal. Weitere Gemälde in deutschen Museen: Die gelbe Blume, 1913, Öl auf Leinwand, 84 x 73 cm, Inv. Nr. G 13398, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München; Das Stillleben am Fenster, 1913, Öl auf Malpapier, 104 x 77 cm, Inv. Nr. M 773, Museum Wiesbaden (Hans F. Schweers: Gemälde in Museen. Deutschland, Österreich, Schweiz, Teil I, Band 3, München 2008).

[52] Vergleiche Clemens Weiler: Stückgold, Wiesbaden 1962; Ausstellungs-Katalog Galerie Opper 2020 (siehe Anmerkung 50), Nr. 10, 11, 21, 23, 38 

[53] Albert Steffen: Das Tierkreisbilderbuch, in: derselbe, Kleine Mythen, Zürich 1923, Seite 22 f.

Louis Marcoussis (1878-1941), mit bürgerlichem Namen Ludwik Kazimierz Władysław Markus, einer der frühesten Vertreter des französischen Kubismus und Mitglied der École de Paris, war auf dem Ersten Deutschen Herbstsalon 1913 in Berlin mit drei Arbeiten vertreten, und zwar mit einem nicht näher bezeichneten Bild mit dem Titel „La Maminette“ sowie zwei Stillleben (PDF 13), und auf der gleichzeitig im November im Sturm in der Potsdamer Straße stattfindenden Neunzehnten Ausstellung: Expressionisten / Kubisten / Futuristen mit einem Werk, „Die rote Geige“ (PDF 16). Der Künstler stammte, soweit bekannt, aus einer wohlhabenden und gebildeten jüdischen, katholisch getauften Warschauer Familie.[54] Ein Jura-Studium hatte er abgebrochen, um von 1900 bis 1902 an der Akademie der bildenden Künste/Akademia Sztuk Pięknych in Krakau bei Jan Stanisławski (1860-1907) und Józef Mehoffer (1869-1946) Malerei zu studieren. Wohl 1903 ging er zum Weiterstudium zu Jules-Joseph Lefebvre (1834-1912) an die Académie Julian nach Paris, blieb dort jedoch nur drei Monate und ließ sich anschließend endgültig in Paris nieder. 1905 zeigte er erstmals Werke im Salon d’Automne, 1906 im Salon des Indépendants. Seine in Polen begonnene Tätigkeit als Zeichner und Karikaturist für das Warschauer Satiremagazin Mucha und die Krakauer Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst, Liberum Veto, setzte er in Paris zum Lebensunterhalt fort, wo er für das Magazin La Vie Parisienne, eine Kulturzeitschrift mit erotischen Illustrationen, und das Satiremagazin L'Assiette au beurre arbeitete.[55] Schnell schloss er sich der Künstler-Boheme auf dem Montmartre und dem Montparnasse an, knüpfte Freundschaften mit den Schriftstellern Jean Moréas, Alfred Jarry und Apollinaire sowie den Malern Edgar Degas und Roger de La Fresnaye. In Landschaften und Figurenszenen orientierte er sich am Impressionismus und den Fauves. 1907 zerstörte er jedoch in einer Schaffenskrise seine bislang geschaffenen Werke.

Auf den Rat von Apollinaire hin, der selbst polnisch-italienischer Abstammung war und eigentlich Wilhelm Albert Włodzimierz Apolinary de Wąż-Kostrowicki hieß, änderte er 1910 seinen Namen von Ludwik Markus in Louis Marcoussis und schloss sich den Kubisten um Braque, Gris, Metzinger, Gleizes und Picasso an. Auch der Maler und Dichter Max Jacob und der Kunstkritiker André Salmon gehörten zu seinen Freunden. 1912 stellte er wieder seine Werke im Salon d’Automne, im selben Jahr im Salon der kubistischen Section d’or in der Galerie La Boétie und 1913/14 im Salon des Indépendants aus. Während dieser Zeit schuf er Porträts, Stadtansichten und Stillleben in gedämpftem Kolorit, häufig verdichtet auf Schwarz, Grau und Braun, mit prismatisch verschnittenen Ebenen, willkürlichen räumlichen Beziehungen und der collageartigen Verwendung von Fragmenten aus Schrift und fotografischen Aufnahmen in der Art des Synthetischen Kubismus. 1913 heiratete er die polnische Malerin Alicja Halicka (1894-1975), die in Krakau an der privaten Kunstschule für Frauen von Maria Niedzielska/Szkoła Sztuk Pięknych dla Kobiet Marii Niedzielskiej und in München studiert hatte und sich nach ihrer Heirat ebenfalls den Kubisten anschloss. Er pflegte Kontakte zur polnischen Kolonie in Frankreich, beteiligte sich an Ausstellungen polnischer Kunst und an Aktionen zur Wiedererlangung der polnischen Unabhängigkeit. 1914 trat er in die Fremdenlegion ein und kämpfte bis 1919 in polnischen Kompanien. Im Februar 1920 war in der Gesamtschau der Dreiundachtzigsten Ausstellung des Sturm erneut das Gemälde „Die rote Geige“ zu sehen (PDF 17). Im Juni-Heft der Sturm-Zeitschrift reproduzierte Walden eine Zeichnung von ihm aus seiner Phase des Synthetischen Kubismus (Abb. 2) neben Arbeiten von Gleizes, Chagall und Kurt Schwitters.

Im Dezember 1919 kam Marcoussis in Kontakt mit der Gruppe der polnischen Formisten/Formiści, die sich 1917 auf der Basis einer seit 1910 bestehenden Bewegung für einen polnischen Expressionismus neu zusammengefunden hatte, bis 1922 bestand und sich jetzt am Kubismus orientierte. Der Mitherausgeber der 1919 gegründeten gleichnamigen Zeitschrift, Formiści, der in Krakau ansässige Maler, Dichter und Kunstkritiker Tytus Czyżewski (1880-1945), wandte sich per Brief an Marcoussis mit der Bitte, künstlerische Kreise in Paris über die Formisten zu informieren und gleichzeitig als Auslandskorrespondent für die Zeitschrift Berichte über die aktuellen Kunstströmungen in Frankreich zu verfassen. In einem Brief vom Dezember 1919, der in der zweiten Ausgabe der Zeitschrift im April 1920 veröffentlicht wurde, bestätigte Marcoussis, er habe polnische und französische Künstlerkollegen informiert, und berichtete über aktuelle französische Zeitschriften der künstlerischen Avantgarde. Außerdem schickte er Reproduktionen von Werken in Paris lebender polnischer Künstler nach Krakau, unter anderem von seiner Frau, Alicja Halicka, von Moise Kisling, Henryk Hayden, sowie ein von ihm selbst geschaffenes Porträt von Apollinaire, die in der Zeitschrift abgebildet wurden.[56] 1919, 1921 und 1923 reisten er und Halicka nach Polen.

[54] U. Makowska: Marcoussis, Louis, in: De Gruyter Allgemeines Künstlerlexikon, Band 87, Berlin, Boston, 2015, Seite 169 f.; Nieszawer 2015 (siehe Literatur), Seite 228-230 / 437; Irena Kossowska: Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Markus), auf: polona.pl (2004), https://culture.pl/pl/tworca/louis-marcoussis-ludwik-kazimierz-markus; Kindlers Malerei Lexikon im dtv, Band 9, München 1976. – Arbeiten von Marcoussis in deutschen Museen: Stillleben (Le Pyrogène Byrrh), 1914, Öl auf Leinwand, 41 x 27 cm, Inv. Nr. B 288, Kunsthalle Bielefeld; Stillleben mit Schädel, um 1925, Öl auf Leinwand, 65 x 54 cm, Inv. Nr. 876-1963/4, Kunsthalle Bremen; La Grappe de Raisins (Die Weintraube), 1920, Gouache, 30,5 x 43 cm, Wallraf-Richartz-Museum, Köln; Stillleben mit Messer, 1928, Öl auf Leinwand, 73 x 116 cm, Inv. Nr. 458/45, Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen; Stillleben, 1920, Hinterglasmalerei, 51,5 x 35 cm, Inv. Nr. NI 1514, Saarlandmuseum, Saarbrücken (Hans F. Schweers: Gemälde in Museen. Deutschland, Österreich, Schweiz, Teil I, Band 2, München 2008).

[55] Im Nationalmuseum Warschau/Muzeum Narodowe w Warszawie befinden sich 41 satirische Zeichnungen von Marcoussis/Markus aus der Zeit 1900-1905 (U. Makowska 2015, siehe Anmerkung 54).

[56] Przemyslaw Strożek: The Magazine Formiści and the Early International Contacts of the Polish Avant-Garde (1919–1921) [zuerst publiziert 2013 in: Rocznik Historii Sztuki, Band XXXVIII], auf der Webseite des Courtauld Institute of Art, London, https://courtauld.ac.uk/research/courtauld-books-online/a-reader-in-east-central-european-modernism-1918-1956/7-the-magazine-formisci-and-the-early-international-contacts-of-the-polish-avant-garde-1919-1921-przemyslaw-strozek#_ednref32

Marcoussis selbst legte seit Beginn der Zwanzigerjahre größeren Wert auf malerische Wirkungen und malte in reinen leuchtenden Farben. Die geometrische Zersplitterung der Bildgegenstände gab er zugunsten dekorativ wirkender Kompositionen aus sich überlagernden farbigen Flächen auf. Er widmete sich der Glasmalerei und mischte seinen Farben Sand und kleine Steine bei. Gegen Ende des Jahrzehnts näherte er sich dem Surrealismus und der italienischen Pittura metafisica. Nicht nur in Frankreich, auch weltweit hatte er großen Erfolg. Neben dem Salon des Indépendants 1921/22, 1923 und 1925 und dem Salon des Tuileries von 1923 bis 1929 beschickte er bis zum Ende der Dreißigerjahre Ausstellungen in Berlin, Brüssel, Genf, Amsterdam, Düsseldorf, Wien, New York, Chicago, Hamburg, Los Angeles, London, Stockholm und Mailand. Zahlreiche Pariser Galerien zeigten Einzelausstellungen von ihm. 

Dem entsprach eine steigende Präsenz im Berliner Sturm. In der Dreiundneunzigsten Ausstellung (PDF 18) im Januar 1921 war er erstmals mit einer größeren Anzahl von Werken vertreten, und zwar dreizehn Gemälden, darunter einer „Komposition“, neun Stillleben und drei „Studien“, sowie acht Glasbildern. Die Ausstellung war sechs Künstlerinnen und Künstlern aus dem Umfeld des französischen Kubismus gewidmet, außer ihm Gleizes, Jacques Villon, der belgischen Künstlerin Marthe „Tour“ Donas und Sonia Delaunay-Terk, die zu dieser Zeit noch in Spanien lebte. Nur der italienische Futurist Julius „Jules“ Evola darf aus heutiger Sicht als Missgriff gelten. Er gab wenig später die Malerei auf, mutierte zum Okkultisten und Mystiker und exponierte sich während des italienischen Faschismus als Rassist und Antisemit. Das Vorwort zum Katalog, das die enge Verbundenheit der Künstler untereinander und ihre Beziehungen zum Kubismus hervorhob, schrieb der bekannte polnisch-französische Kunstkritiker Waldemar George (Jerzy Waldemar Jarociński, 1893-1970) in französischer Sprache. Es erschien erneut in der Sturm-Zeitschrift im Januar 1921. Im März-Heft des Jahres veröffentlichte Walden die Reproduktion eines Entwurfs von Marcoussis für ein Glasbild mit der Darstellung eines Stilllebens (Abb. 3). In der einhundertsten Ausstellung im September 1921, die einem Überblick über die Tätigkeit der Sturm-Galerie im zurückliegenden Jahrzehnt gewidmet war (PDF 19), war Marcoussis mit einem Stillleben und einem Glasbild vertreten. Im Februar 1922 brachte die Sturm-Zeitschrift von ihm zwei kubistische Figurenbilder (Abb. 4, 5), von denen eines auch auf dem Umschlag des Heftes abgebildet war (siehe Titelabbildung).

Im Oktober 1922 zeigte die Sturm-Galerie neben der üblichen Gesamtschau erstmals eine Einzelausstellung von Marcoussis, in der mit dreiundfünfzig Arbeiten überwiegend Gemälde, aber auch zwei Lithographien, eine Zeichnung und vier Glasbilder zu sehen waren (PDF 20). Im Folgejahr war der Künstler auf einer Ausstellung internationaler Kunst – Expressionisten und Kubisten – vertreten, die Walden im Haus des europaweit tätigen dänischen Antiquitätenhändlers Ole Haslund (1877-1962) in der Kopenhagener Innenstadt organisiert hatte, und zwar mit zwei Gemälden, einem Aquarell und einem Glasbild. Walden gab im Vorwort des dänischen Katalogs einen kunsthistorischen Überblick über die „Definition der neuen Kunst“ vom Neoimpressionismus über den Expressionismus bis zum Kubismus – wobei man heute bei der Einordnung mancher Künstler, etwa von Kandinsky, Chagall, Klee und Schwitters zum Expressionismus, anderer Meinung wäre – und stellte Marcoussis neben Léger, Delaunay, Braque und Van Heemskerck als führenden Künstler der kubistischen Bewegung vor (PDF 21). Gemälde, Aquarelle und Glasbilder von Marcoussis zeigte Walden noch auf Gesamtschauen des Sturm bis zur 144. Ausstellung im September 1925. In den späten Zwanziger- und den Dreißigerjahren beschäftigte sich der Künstler mit Illustrationen zur Literatur unter anderem von Tristan Tzara und Apollinaire, wandte sich Grafik-Editionen zu und entwarf Plakate, Teppiche und Innendekorationen.

Einen intensiven künstlerischen Austausch zwischen Deutschland und Polen pflegte der Maler, Grafiker und Schriftsteller Stanislaus/Stanislaw/Stanisław Kubicki (1889-1942 von der Gestapo ermordet), der im Februar 1920 nur für kurze Zeit, soweit aus den historischen Quellen ersichtlich, mit dem Sturm zusammenarbeitete. Als Sohn einer Pädagogin und eines aus der Gegend von Posen stammenden Landvermessungs-Ingenieurs in Ziegenhain südlich von Kassel geboren, studierte er von 1909 bis 1911 Architektur an der Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg und hörte Vorlesungen in Philosophie, Botanik und Zoologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität. Von 1912 bis 1914 besuchte er Kurse an der Königlichen Kunstschule zu Berlin, die seit 1905 Kunsterzieher ausbildete. 1914 bis 1916 diente er als Soldat in der preußischen Infanterie, wurde an der Ostfront verwundet und absolvierte seine restliche Militärzeit in Posen als Quartiermeister. 1916 heiratete er die Zeichenlehrerin und Künstlerin Margarete Schuster (seitdem Kubicka, 1891-1984), die 1911-13 das Lehrerinnenseminar der Königlichen Kunstschule besucht hatte. 1917 begegnete er Jerzy Hulewicz, dem Herausgeber der polnischen Literatur- und Kunstzeitschrift Zdrój/Die Quelle, auf dessen Gut Kościanki östlich von Posen er sich zurückzog, nachdem er 1918 aus der preußischen Armee desertiert war. Er arbeitete beim Magazin Zdrój mit und gründete 1918 zusammen mit Hulewicz und anderen die polnische Maler und Literaten umfassende und bis 1920 bestehende expressionistische Künstlergruppe Bunt/Die Revolte.

Die erste Ausstellung der Gruppe Bunt fand vom 1. bis 30. April 1918 in Posen statt, zu der eine Sonderausgabe der Zeitschrift Zdrój erschien. Im selben Jahr ging Kubicki wieder nach Berlin. Dort lernte er Franz Pfemfert, den Herausgeber der Zeitschrift Die Aktion, kennen und verabredete mit ihm die Übernahme der Ausstellung und ein Sonderheft der Zeitschrift. Die Kollektiv-Ausstellung der polnischen Künstlervereinigung „Bunt“ fand vom 1. bis 30. Juni 1918 in den Räumen der Aktion in der Kaiserallee 222 statt. Sie umfasste fünfzig Gemälde, Grafiken und Plastiken von Kubicki, Hulewicz, Margarete Kubicka, Władysław Skotarek, Stefan Szmaj, Jan Wroniecki und August Zamoyski.[57] Gleichzeitig erschien am 1. Juni das Sonderheft der Aktion mit dem Untertitel „Polnische Kunst“ und dem von Kubicki entworfenen expressionistischen Titelbild mit dem Schriftzug BUNT (Abb. 6).[58] Die in den Vordergrund tretende Figur, die Munchs „Schrei“ nachempfunden ist, scheint aus Kubickis Linolschnitt „Der Turmbau zu Babel“ (1917) zu stammen, der auf dem Plakat der Posener Ausstellung abgebildet war (Abb. 7). Das Heft enthält literarische Texte und Dichtungen von Bunt-Mitgliedern und Mitarbeitern der Zeitschrift Zdrój wie Adam Bederski und dem Ehepaar Kubicki, aber auch von außenstehenden Autoren wie Claire Studer (später Claire Goll), Otto Freundlich, Michail Bakunin, dem jungen Carl Zuckmayer und anderen. Die künstlerischen Arbeiten – Reproduktionen und vom Stock gedruckte Holzschnitte – stammen von Kubicka, Wroniecki, Skotarek, Zamoyski, Hulewicz, Szmaj und Kubicki, darunter sein großformatiges expressionistisches Selbstporträt (Abb. 8). Die Ausstellung ging anschließend nach Düsseldorf.

In Berlin lernte Kubicki den Maler Otto Freundlich (1878-1943 im KZ Lublin-Majdanek oder in Sobibor ermordet) kennen, der ihn mit Otto Dix und dessen Dresdner Kreis sowie mit den Berliner Dadaisten George Grosz, Johannes Baader und Raoul Hausmann bekannt machte. Wie Kubicki und Walden miteinander in Kontakt kamen, ist nicht bekannt. Jedenfalls zeigte Kubicki im Februar 1920 in der Gesamtschau der Dreiundachtzigsten Ausstellung des Sturm sechs Gemälde, „Ekstase“, „Tänzerin“, „Turm“, „Der Eintretende“, „Der Lesende im Café“ und „Der Bassgeigenspieler“. Das heute in der Berlinischen Galerie – Museum für moderne Kunst befindliche Gemälde „Ekstase“ von 1919 (Abb. 9) ist vermutlich das in der Ausstellung gezeigte Werk, denn es trägt rückseitig noch den Aufkleber der Sturm-Galerie.[59] Die Ausstellung zeichnete sich durch das Nebeneinander verschiedenster Stilrichtungen aus. Der Expressionismus war mit Jawlensky, Kandinsky und Maria Uhden nur mit wenigen Arbeiten vertreten. Die Mehrzahl der Werke ließ sich mit einer Sonderschau von Van Heemskerck sowie Werken von Archipenko, Gleizes, Léger, Marcoussis, Topp, Wauer und Baumeister in weitestem Sinn dem Kubismus zuordnen. Neben Chagall, Schwitters und Schlemmer waren mit Rudolf Bauer ein erster Abstrakter, mit Dexel ein erster Konstruktivist vertreten. Campendonk repräsentierte ein Stadium zwischen Expressionismus und Kubismus, Gontscharowa und Stuckenberg vertraten den Kubofuturismus (PDF 17).

[57] Ausstellungsverzeichnis in: Die Aktion, 8. Jahrgang, Heft 21/22, Berlin, 1. Juni 1918, nach Spalte 286; online: http://www.aaap.be/Pdf/Die-Aktion/Die-Aktion-08-1918.pdf

[58] Ebenda, nach Spalte 260

[59] Głuchowska 2012 (siehe Literatur), Seite 462. Das Werk „Ekstase“, 1919, Öl auf Pappe, 72 x 58 cm, Inv. Nr. BG-M 3852/87, gelangte 1986/87 als Schenkung von Prof. Karol Kubicki, des Sohnes von Stanisław Kubicki, in die Berlinische Galerie (Berlinische Galerie, Sammlung onlinehttps://sammlung-online.berlinischegalerie.de:443/eMP/eMuseumPlus?service=ExternalInterface&module=collection&objectId=141477&viewType=detailView); ein Gemälde „Eintretender III“, 1919, Öl auf Leinwand, befindet sich in einer Privatsammlung in Neustadt/Weinstraße (abgebildet in: Głuchowska 2009, siehe Literatur, Seite 163, sowie in: Głuchowska 2012, siehe Literatur, Seite 459).

Unter der Überschrift „Kubistische Malerei“ berichtete der Vorwärts, das Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, am 21.2.1920 zur Ausstellung: „Kubistischer Ausdruckformen bedienen sich auch mehrere andere in der Sturm-Ausstellung vertretene Künstler, darunter ein junger Pole, Stanislaus Kubicki …“[60] Im Februar-Heft der Sturm-Zeitschrift erschienen von Kubicki zwei von den Originalplatten gedruckte Linolschnitte, die Motive aus der Ausstellung, nämlich „Ekstase“ und „Der Bassgeigenspieler“, variieren, ohne dass die Titel genannt wurden (Abb. 10, 11).[61] Beide Werke des Künstlers, der für gewöhnlich als Expressionist wahrgenommen wird, lassen sich stilistisch nicht eindeutig zuordnen. Das Gemälde „Ekstase“ (Abb. 9) wurde von den Zeitgenossen vermutlich aufgrund der stereometrischen Formen mit dem Kubismus in Verbindung gebracht. Das Motiv zeigt aber durch den emotionalen Titel, die dramatischen Lichteffekte und die strahlenförmige Gestaltung, die die grafische Fassung (Abb. 10) noch verstärkt, auch eine enge Verbindung zu den kristallinen Architekturen, die 1920 im Utopischen Expressionismus, nämlich in der Gruppe Gläserne Kette oder von Walter Gropius bei seinem „Denkmal für die Märzgefallenen“, entworfen wurden. Auch ein Bezug zu Lyonel Feininger ist denkbar. Ähnlich bis an die Grenze zur Abstraktion rhythmisch-kristallin komponiert ist auch der „Bassgeigenspieler“ (Abb. 11), bei dem die Figur des Musikers mit dem Geigenbogen jedoch deutlich zu erkennen und dem Analytischen Kubismus zugeordnet werden kann.

Die Posener Zeitschrift Zdrój orientierte sich seit ihrer Gründung nicht nur durch die Förderung des Expressionismus, sondern auch in ihrer Aufmachung und den Aktivitäten wie dem Abhalten von Ausstellungen und Vorträgen, dem Betreiben eines Buchverlags und der Herausgabe von Postkarten am Sturm und an der Aktion. Hulewicz brach seine Kontakte zur Aktion jedoch im Oktober 1918 offiziell ab, als diese für die Revolution in Russland Partei ergriff und sich während der Novemberrevolution in Deutschland dem linken Spektrum zuwandte. Hatte Przybyszewski schon davor gewarnt, dass sich Zdrój mit der Orientierung an den Berliner Zeitschriften und der „explizit expressionistischen Ausrichtung“ in Polen nicht würde halten können,[62] so kritisierten seit der Wiedererrichtung des polnischen Staates 1918/19 konservative Kreise in Posen/Poznań, dass weiterhin Texte und Grafik aus den Berliner Blättern abgedruckt wurden.[63] Kubicki, der bereits in der Zeit um 1910 polnisch-patriotische Gedichte geschrieben hatte, verfasste zwischen 1918 und 1921 unter dem Einfluss seiner Ehefrau revolutionäre Aufrufe, Gedichte und religiöse Parabeln in deutscher und polnischer Sprache. In Kreisen der internationalen Berliner Avantgarde präsentierte er sich, so Głuchowska, als Anarchosyndikalist und „Gegner jeglicher offizieller Künstlergruppierungen“, weshalb er neuen Organisationen wie dem Arbeitsrat für Kunst oder der Novembergruppe nicht beitrat und vermutlich auch die Zusammenarbeit mit dem Sturm wieder beendete.[64]

1921 lernte Kubicki den Maler Franz Wilhelm Seiwert (1894-1933) bei dessen erstem Besuch in Berlin kennen[65] und kam durch ihn in Kontakt mit der kurz zuvor durch Seiwert und Heinrich Hoerle (1895-1936) gegründeten und bis 1933 bestehenden Künstlergruppe Kölner Progressive, die Kubisten, Abstrakte und Maler der Neuen Sachlichkeit vereinigte. Zu deren engerem Umfeld gehörten auch Freundlich und der polnisch-jüdische Maler Jankel Adler (1895-1949). Mit Adler, der aus Tuszyn bei Łódź stammte und 1919 in Łódź die Künstlergruppe Jung Idysz (Jung Jidysz/Jung Jiddisch) mit gegründet hatte, zu der wiederum die Gruppe Bunt in engem Kontakt stand, traf Kubicki mehrfach in Deutschland zusammen. 

Als im März 1922 die Novembergruppe, die Dresdner Sezession Gruppe 1919 und die Gruppe Das junge Rheinland gemeinsam das Kartell fortschrittlicher Künstlergruppen in Deutschland gründeten, riefen in Berlin das Ehepaar Kubicki, Freundlich, Hausmann, Seiwert, Adler und andere als Gegenpol die utopisch-kommunistisch und linksradikal orientierte Künstlergruppe Kommune ins Leben. Diese richtete sich gegen merkantile und bürokratische Strukturen im Kunstbetrieb und postulierte in einem von Kubicki mit unterzeichneten Manifest, „dass der Einzelne eine geistige und moralische Unbestechlichkeit erwiesen haben muss, um der Träger eines Weltgedankens zu sein.“[66] Die Kommune zeigte noch im selben Jahr in der Reihe der Arbeiter-Kunst-Ausstellungen in der Petersburger Straße 39 im Berliner Arbeiterviertel Prenzlauer Berg eine Internationale Ausstellung revolutionärer Künstler, in der Polen durch die Gruppe Bunt mit dem Ehepaar Kubicki, Skotarek und Szmaj sowie die Gruppe Jung Idysz mit Adler vertreten war und an der auch Freundlich, Seiwert und die belgische Gruppe Lumière teilnahmen.[67]

[60] J.S.: Kubistische Malerei, in: Vorwärts. Berliner Volksblatt. Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, 37. Jahrgang, Nr. 96, Berlin, 21.2.1920, Abendausgabe, Seite 2

[61] Identifizierung der Bildmotive durch Głuchowska 2012 (siehe Literatur), Seite 462

[62] Brief von Stanisław Przybyszewski an Jerzy von Hulewicz in Kościanki, Ende März 1918, publiziert von Głuchowska 2012 (siehe Literatur), Seite 461 (Übersetzung von der Autorin)

[63] Głuchowska 2012 (siehe Literatur), Seite 461 f.

[64] Ebenda, Seite 463

[65] Martin Pesch: Franz Wilhelm Seiwert. Künstler und sozialistischer Essayist (1894-1933), auf dem Portal Rheinische Geschichte,http://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/franz-wilhelm-seiwert/DE-2086/lido/5d43f66ec1b9e3.83920212

[66] Manifest der Kommune, Berlin 1922, Berlinische Galerie, abgebildet auf dem Portal Deutsche Digitale Bibliothekhttps://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/DEKRQSMDTYJGHV2MFIFYKA42ZFJPNDS6; publiziert in: Die zwanziger Jahre. Manifeste und Dokumente deutscher Künstler, herausgegeben und kommentiert von Uwe M. Schneede, Köln 1979, Seite 102 f.

[67] Revolution und Realismus. Revolutionäre Kunst in Deutschland 1917-1933, Ausstellungs-Katalog Staatliche Museen zu Berlin, Altes Museum, Ostberlin 1979, Seite 38, 150; Lidia Głuchowska 2012 (siehe Literatur), Seite 464; Einladungskarte zur Eröffnung der Ausstellung mit Liste der Ausstellenden abgebildet in: Die zwanziger Jahre 1979 (siehe Anmerkung 66), Seite 104 

Vom 29. bis 31. Mai 1922 fand in Düsseldorf der erste Kongress der Union internationaler fortschrittlicher Künstler statt, den das Junge Rheinland organisiert hatte und an dem unter anderem die Novembergruppe, die Darmstädter und die Dresdner Sezession, der Deutsche Werkbund, Herwarth Walden für den Sturm sowie Vertreter der russischen Konstruktivisten und der italienischen Futuristen teilnahmen. Auch Wortführer verschiedener Staaten waren vertreten. Aus Polen waren Adler, Marek Szwarc, Pola Lindenfeld und Henryk Berlewi für die Gruppe Jung Idysz anwesend. Das Ehepaar Kubicki repräsentierte die Gruppe Bunt. Kubicki vertrat aber auch mit Freundlich, Hausmann und Seiwert die Kommune. Adler, Szwarc und Kubicki unterschrieben zusammen mit Lasker-Schüler, Kandinsky, Kokoschka und anderen den Gründungsaufruf der Union. Dennoch kam es zum Eklat. Als am folgenden Tag des Kongresses das zweite Manifest der Union verlesen wurde, das diese als wirtschaftlich orientierte Interessengemeinschaft vorstellte, verließen die Kommune, Theo van Doesburg und Cornelis van Eesteren von De Stijl, El Lissitzky von den Konstruktivisten sowie Hausmann und Hannah Höch von den Dadaisten den Saal. 

Die parallel zum Kongress gezeigte und ebenfalls vom Jungen Rheinland organisierte Erste Internationale Kunstausstellung im Düsseldorfer Kaufhaus Tietz hatten Kubicki, Freundlich, Hausmann und andere Mitglieder der Kommune bereits zuvor boykottiert, weil sie – wie sie in einem „Zweiten Manifest der Kommune“ schrieben – davon überzeugt waren, „dass der Sinn des Internationalen erst zu prägen“ war. Sie waren der Ansicht, dass keine der an der Ausstellung beteiligten Gruppen von der Novembergruppe über den Sturm bis zur Dresdner Sezession es gewagt habe, „ihren engen egozentrischen Parteistandpunkt zu verlassen […] damit die große internationale Gemeinschaft Wirklichkeit werde.“[68] Polen war in dieser Ausstellung durch die Gruppe Jung Idysz vertreten.[69]

1926/27 traf Kubicki mehrfach mit Kasimir Malewitsch zusammen. Sie diskutierten über Inhalt und Zukunft einer „proletarischen Kunst“, stellten aber einen Zusammenhang zwischen Kunst und Politik infrage. Zwischen 1929 und 1932 publizierte Kubicki Aufsätze zu diesem Thema in der von Hoerle und den Kölner Progressiven herausgegebenen Zeitschrift a bis z. 1933 nahmen SA-Leute bei Kubicki Hausdurchsuchungen vor und zerstörten dabei einige seiner Werke. Daraufhin emigrierte er im folgenden Jahr nach Polen und arbeitete dort als Schriftsteller und Mitarbeiter des Rundfunks in Poznań. Nach der Besetzung Polens durch die Deutschen schloss er sich 1939 dem polnischen Widerstand an. 1941 wurde er von der Gestapo verhaftet und vermutlich im Juni 1942 im Pawiak-Gefängnis in Warschau ermordet.[70]

Waldens Rolle in den Zwanzigerjahren war zwiespältig. Durch den Krieg hatte er enge Freunde verloren: Von den Malern waren die Expressionisten August Macke und Franz Marc sowie der Führer der italienischen Futuristen, Umberto Boccioni, gefallen. Von den Schriftstellern hatten Peter Baum und August Stramm den Krieg nicht überlebt. Walden selbst wurde nach der Novemberrevolution Mitglied der Kommunistischen Partei, beherbergte in den Sturm-Räumen einen gesuchten russischen Kommunisten, den Nell Walden für einen in Russland geschulten Agenten hielt, der „Wunderdinge über das neue Russland“ erzählte und eine Hausdurchsuchung durch das Militär heraufbeschwor.[71] Walden hatte sich schon vor dem Krieg für russische Kunst und Literatur interessiert und für das Jahr 1914 gemeinsam mit seiner Frau eine Reise nach Russland geplant, die durch den Kriegsausbruch nicht zustande gekommen war. Jetzt wandte er sich – „müde von Deutschland“ – den kulturellen Errungenschaften der russischen Revolution, den während des Krieges aus Russland emigrierten bildenden Künstlern sowie dem russischen Theater und Kabarett zu. Nell Walden, die die politischen Ziele und Hoffnungen ihres Mannes nicht teilte, trennte sich 1924 von ihm, blieb ihm und dem Sturm jedoch freundschaftlich verbunden.[72]

[68] Zweites Manifest der Kommune, undatiert [Berlin 1922], unterzeichnet von Stanislaw Kubicki, Otto Freundlich und anderen mit dem Zusatz: „Diese Gruppe besteht nicht mehr.“ Publiziert ebenda, Seite 103-105.

[69] Zur Ersten Internationalen Kunstausstellung 1922 in Düsseldorf siehe weiter unten.

[70] Weitere Literatur zu Stanisław Kubicki: Lidia Głuchowska: Avantgarde und Liebe. Margarete und Stanislaw Kubicki 1910-1945, Berlin 2007; G. Gruber: Kubicki, Stanisław, in: De Gruyter Allgemeines Künstlerlexikon, Band 82, Berlin, Boston 2014, Seite 141 f.; Aleksander Gowin: Stanisław Kubicki, auf diesem Portal (2018), https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/stanislaw-kubicki

[71] Walden 1963 (siehe Literatur), Seite 47-49

[72] Walden 1954 (siehe Literatur), Seite 59-62 

Seit der Novemberrevolution waren in Berlin neue Künstlergruppierungen entstanden, die neben avantgardistischer Malerei auch utopische und auf eine neue Gesellschaftsordnung gerichtete Konzepte in der Architektur propagierten. Ihre Ausstellungen und Aktivitäten fanden jedoch nicht im Sturm, sondern an anderen Orten statt. Der Arbeitsrat für Kunst, zu dessen Gründungsmitgliedern Walter Gropius gehörte, zeigte seine Ausstellung für unbekannte Architekten im April 1919 im Graphischen Kabinett J.B. Neumann, der späteren Galerie Nierendorf, am Kurfürstendamm. Im selben Jahr gründete Gropius in Weimar das Staatliche Bauhaus und verpflichtete in den folgenden Jahren die Sturm-Künstler Johannes Itten, Feininger, Klee, Lothar Schreyer und László Moholy-Nagy, die jedoch auch weiterhin in der Sturm-Galerie ausstellten. Vom Arbeitsrat für Kunst waren Arnold Topp und Heinrich Campendonk weiterhin im Sturm vertreten. Die im Dezember 1918 gegründete Novembergruppe zeigte ihre Sonderschauen regelmäßig auf der Großen Berliner Kunstausstellung. Viele Sturm-Künstler wanderten 1919 dorthin ab, was Walden mit dem Urteil „Verrat“ und Frustration über die deutsche Kunstszene quittierte. Um andere wie Rudolf Bauer, Georg Schrimpf und den 1917 von ihm neu entdeckten Johannes Molzahn kümmerte er sich weiterhin. Von den Berliner Dada-Künstlern war kein einziger in den Sturm-Ausstellungen präsent. Lediglich Kurt Schwitters aus Hannover vertrat die Dada-Szene bis 1928 in Ausstellungen der Sturm-Galerie. In der Sturm-Zeitschrift sah es allerdings anders aus: Von den 120 Mitgliedern der Novembergruppe kamen bis zum Ende der Zwanzigerjahre, so Georg Brühl, rund fünfzig aus dem Umkreis der Zeitschrift.[73] Hier waren sogar Architekten wie Max Taut und Erich Mendelsohn mit neuesten Architekturentwürfen vertreten.

Eher routinemäßig zeigte Walden vom Kriegsende bis zur Mitte der Zwanzigerjahre in den Sturm-Ausstellungen weiterhin Werke der französischen Kubisten. Seinem Interesse für Russland entsprang aber eine besondere Hinwendung zu Künstlerinnen und Künstlern aus Osteuropa. Bereits im November 1918 präsentierte er zahlreiche Werke des 1915 aus Russland nach Paris emigrierten russischen Künstlerpaars Michail Larionow und Natalja Gontscharowa. Während des Krieges hatte er enge Kontakte zur Zeitschrift der linken ungarischen Avantgarde, MA/heute, und deren Gründer Lajos/Ludwig Kassák geknüpft, der sich wie die polnische Zeitschrift Zdrój am Sturm und der Aktion orientierte. Mit Empfehlungen von Kassák kamen ab 1918 die ungarischen Künstler János/Hans Mattis Teutsch, László Moholy-Nagy, László Péri, Béla Kádár, Hugó Scheiber, Sándor Bortnyik, Aurél Bernáth, Lajos d’Ébneth und Gyula Hincz nach Berlin, die ebenso wie Kassák in den folgenden Jahren Einzel‑ oder Beteiligungen an Gruppenausstellungen im Sturm erhielten.[74] Hatte Walden schon im Ersten Deutschen Herbstsalon die tschechischen Künstler Emil Filla, Josef Gočár, Pavel Janák, Vincenc Beneš, Otto Gutfreund und Otakar Kubín ausgestellt, so repräsentierten Filla, Beneš, Kubín sowie Jan Zrzavý in den Zwanzigerjahren im Sturm die tschechische Avantgarde. Mit Xenia Boguslawskaja, Serge Charchoune, Alexandra Exter und Iwan Puni waren weitere russische Künstlerinnen und Künstler vertreten. Die Kroatin Vjera Biller zeigte ab 1921 in Einzel- und Gruppenausstellungen ihre Werke. M.H. Maxy repräsentierte ab 1923 die rumänische Avantgarde. Der bulgarische Literaturkritiker und expressionistische Dichter Geo Milew verkehrte seit 1919 fast täglich in Sturm-Kreisen, übersetzte Waldens Dichtungen, verlegte sie in Bulgarien und informierte die bulgarischen Künstler über das Geschehen im Sturm.[75]

Polen war in dieser Reihe ab 1923 durch das Künstlerpaar Teresa Zarnower/Żarnowerówna und Mieczysław Szczuka sowie Henryk Berlewi vertreten, die im folgenden Jahr in Warschau zusammen mit anderen die Gruppe Blokgründeten. Bei den Sturm-Veranstaltungen spielte der aus Szreńsk bei Mława stammende Komponist und Chorleiter Rosebery d’Arguto, mit bürgerlichem Namen Martin Moszek Rozenberg, von 1924 bis in den Beginn der Dreißigerjahre eine wichtige Rolle. Der Warschauer Bühnenbildner Feliks Krassowski war 1926 in der Sturm-Zeitschrift mit Entwürfen vertreten. 1927 erhielt der aus Staszów stammende polnisch-jüdische Maler Jesekiel David Kirszenbaum in der Sturm-Galerie eine umfangreiche Einzelausstellung. Und schließlich wurde 1930 die letzte Ausstellung der Sturm-Galerie von der seit langem in London ansässigen Malerin und Textildesignerin Lena Pillico/Pilichowska bestritten, die ebenfalls polnisch-jüdischer Abstammung war. Tatsächlich war die Mehrzahl der osteuropäischen Künstler im Sturm jüdischer Herkunft. Ob diese Tatsache für Walden, der die jüdische Religion nicht praktizierte, aber mit dem chassidischen Judentum sympathisierte, eine Rolle spielte, bleibt fraglich.[76]

1921 traf Berlewi in Warschau den russischen Konstruktivisten El Lissitzky (1890-1941), der sich dort auf Einladung der jüdischen Kultur-Lige aufhielt, und siedelte im Jahr darauf nach Berlin über. Dort traf er mit zahlreichen Vertretern der europäischen Avantgarde wie Viking Eggeling, Mies van der Rohe, Moholy-Nagy, Hausmann, Van Doesburg und sicher gleich zu Beginn mit Walden zusammen. Außerdem dürfte er Walden Ende Mai 1922 auf dem Kongress der Union internationaler fortschrittlicher Künstler in Düsseldorf getroffen haben, an dem Walden, wie bereits erwähnt, als Vertreter des Sturm teilnahm. Berlewi vertrat auf dem Kongress zusammen mit Adler die jüdische Kultur-Lige für Osteuropa.[77]

[73] Brühl 1983 (siehe Literatur), Seite 69

[74] Vergleiche ebenda, Seite 59-61

[75] Andrea von Hülsen-Esch: Einleitung, in: Der Sturm. Band II: Aufsätze, herausgegeben von Andrea von Hülsen-Esch und Gerhard Finckh, Ausstellungs-Katalog Von der Heydt-Museum, Wuppertal 2012, Seite 12

[76] Vergleiche hierzu Goudz 2012 (siehe Literatur)
[77] Głuchowska 2012 (siehe Literatur), Seite 464; Goudz 2012 (siehe Literatur), Seite 528

Walden hatte große Teile der Ersten Internationalen Kunstausstellung mit organisiert, die das Junge Rheinland vom 28. Mai bis 3. Juli 1922 im vierten Geschoss des Warenhauses Tietz an der Düsseldorfer Königsallee präsentierte. Die Ausstellung zeigte in zwei Sektionen 340 deutsche und ausländische Künstlerinnen und Künstler aus 19 Nationen.[78] Neben der Section française, die der Maler Pierre Hodé, ein Mitglied des Pariser Salon d’Automne, unter Beteiligung des in Paris ansässigen Marek Szwarc organisiert hatte, wurde Frankreich durch eine zweite, vermutlich von Walden getroffene Auswahl repräsentiert, in der Werke der Sturm-Künstler Braque, Derain, Dufy, Friesz, Gleizes, Léger, Marie Laurencin, Marcoussis, Matisse und De Vlaminck zu sehen waren. Polen wurde in der Ausstellung ausschließlich durch Künstler aus der Gruppe Jung Idysz mit Jankel Adler (Łódź), Henryk/Henoch Barczyński (Dresden), Joseph Hecht, Henryk Hayden und Moise Kisling (Paris), Pola Lindenfeld (Wiesbaden), Szamaj/Szymon Mondzain/Mondszajn und Jan/Jean Rubszak (Paris), Stanislaus Stückgold (München), Szwarc und Wacław Zawadowski („Zawado“, Paris) repräsentiert.[79] Berlewi veröffentlichte im Anschluss eine ausführliche Rezension der Ausstellung in der Warschauer jüdischen Tageszeitung Nasz Kurier, ließ die polnische Sektion aber unerwähnt.[80]

1923 organisierten Berlewi und Walden gemeinsam in Warschau eine Internationale Ausstellung „Junger Kunst“/Międzynarodowa Wystawa „Młodej Sztuki“. Zu sehen waren Werke von Sturm-Künstlern: aus der expressionistischen Künstlergruppe Brücke Heckel, Pechstein und Schmidt-Rottluff, aus dem Umkreis des Blauen Reiter Kandinsky, Klee und Alfred Kubin, außerdem Werke von Kokoschka, Feininger, Heinrich Richter-Berlin, Hermann Seewald und Laurencin. In der polnischen Abteilung waren Arbeiten der Gruppe Jung Idysz aus Łódź von Samuel Hirszenberg, Karol Hiller, Wincenty Brauner, Ignacy Hirszfang und Szwarc ausgestellt sowie von den frühen polnischen Konstruktivisten Aleksander Rafałowski, Henryk Stażewski, Szczuka, Zarnower und Karol Kryński. 

Im Mai/Juni 1923 fand in Vilnius die erste Schau mit polnischer konstruktivistischer Kunst statt, die Ausstellung Neuer Kunst/Wystawa Nowej Sztuki, die der litauische Maler Vytautas Kairiūkštis (1890-1961) und der Pole Władysław Strzemiński organisiert hatten. Beide hatten in Moskau studiert und waren gut mit Kasimir Malewitsch bekannt. Außer ihnen nahmen an der Ausstellung Maria Puciatycka, Stażewski, Kryński, Szczuka und Zarnower teil. In den letzten Monaten des Jahres 1923 wanderte die Warschauer Ausstellung „Junger Kunst“ nach Łódź und wurde dort durch die komplette Ausstellung aus Vilnius ergänzt. In Łódź trafen also Sturm-Künstler, die Gruppe Jung Idysz und die neuen polnischen Konstruktivisten erstmals in einer Ausstellung aufeinander.[81] Die Konstruktivisten gründeten im Anschluss an die Ausstellung in Vilnius zusammen mit anderen in Warschau die Gruppe „Blok“ Kubistów, Suprematystów i Konstruktywistów/Der Block, Kubisten, Suprematisten und Konstruktivisten, die bis 1926 bestand. Das erste Heft ihrer Zeitschrift mit dem Titel Blok. Czasopismo awangardy artystycznej/Der Block. Zeitschrift der künstlerischen Avantgarde erschien in acht Ausgaben vom 3. März 1924 bis zum 1. März 1926.[82]

Walden war also zweifellos über die aktuelle Kunstentwicklung in Polen bestens informiert. Schon im Juni 1923, also etwa gleichzeitig mit den Ausstellungen in Warschau und Vilnius, waren im Sturm zwei der wichtigsten Protagonisten der späteren Gruppe Blok, das Künstlerpaar Zarnower und Szczuka, an einer Gruppenausstellung mit nur zwei weiteren Künstlern, dem Ungarn Aurél Bernáth (1895-1982) und dem Bauhaus-Künstler Lothar Schreyer (1886-1966), beteiligt (PDF 22). Bernáth, der in der Künstlerkolonie Nagybánya studiert hatte, malte seit Anfang der Zwanzigerjahre expressionistisch. Schreyer, der seit 1916 als Autor und Schriftleiter an der Sturm-Zeitschrift mitarbeitete, hatte 1918 zusammen mit Walden die expressionistische Sturm-Bühne gegründet und bis 1921 geleitet. Von 1921 bis 1923 führte er als Meister die Bühnenwerkstatt des Weimarer Bauhauses. Zarnower zeigte in dieser Ausstellung Gips- und Betonplastiken, Zeichnungen und Aquarelle, darunter Entwürfe für Denkmäler und Architekturen, aber auch figürliche Arbeiten wie Akte und den Entwurf für einen „Mechanischen Mann“. Szczuka stellte ebenfalls Denkmal- und Architekturentwürfe aus, außerdem „Raumkonstruktionen“ und ein „Theaterprojekt“ sowie siebzehn Blätter mit Poesie. Ein Aquarell ist als „suprematistisch“ ausgewiesen. 

Zwei gleichzeitig in der Sturm-Zeitschrift erschienene Bildtafeln zeigen vermutlich Werke aus der Ausstellung. Die „Architektur-Plastik“ von Zarnower (Abb. 12) mit dem Charakter eines schweren, vollplastischen Bronzegusses, auch wenn aufgrund des Katalogeintrags nur Gips oder Beton als Material infrage kommen, erinnert an die kubistischen Werke von Alexander Archipenko (1887-1964), der 1920-23 in Berlin lebte, oder an die stereometrischen Schichtungen von Jacques Lipchitz (1891-1973), der aus Litauen stammte, aber in Paris studiert hatte und dort ansässig war. Bei den übrigen Werken von Zarnower in der Ausstellung, darunter ein Aquarell zum Thema „Revolution“, kämen aufgrund der Titel Entwürfe von Wladimir Tatlin (1885-1953) als Vergleiche infrage. Beim „Mechanischen Mann“ könnten Plastiken von Archipenkos „Médranos“ (1913) bis zu Hausmanns „Mechanischem Kopf“ (1919/20) als Anregungen gedient haben. Noch deutlicher an Tatlin, nämlich an dessen „Monument für die Dritte Internationale“ (1919/20) und seine „Konterreliefs“ aus geometrischen Formen und Stäben, erinnert die „Raumkonstruktion“ von Szczuka (Abb. 13). Diese Arbeit ist aus anderen zeitgenössischen Fotografien unter dem Titel „Denkmal des Revolutionärs“ (1922) und in einer modernen Rekonstruktion bekannt.[83] Auch das „Suprematistische Aquarell“ deutet auf russische Vorbilder, nämlich von Malewitsch und El Lissitzky. In der Sturm-Gesamtschau im Juli 1923 war das Künstlerpaar erneut vertreten, Zarnower mit einem Akt und dem „Mechanischen Mann“, Szczuka mit einer „Suprematistischen Zeichnung“ (PDF 23).

[78] Vergleiche Kaufhof / Warenhaus Tietz auf https://deu.archinform.net/projekte/1770.htm#cite_note-7

[79] Katalog der ersten internationalen Kunstausstellung Düsseldorf 1922 vom 28. Mai bis 3. Juli 1922 im Hause Leonhard Tietz, A.-G., Düsseldorf / Veranstalter: Das Junge Rheinland, Düsseldorf 1922. ­– Ich danke der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Stiftung Weimarer Klassik, Digitale Sammlungen, für Überlassung entsprechender Auszüge aus dem Katalog.

[80] Henryk Berlewi: Międzynarodowa wystawa sztuki w Düsseldorfie, in: Nasz Kurier, Nr. 209, Warschau, 2. August 1922; englische Übersetzung auf https://modernistarchitecture.wordpress.com/2010/10/22/henryk-berlewi%E2%80%99s-%E2%80%9Cthe-international-exhibition-in-dusseldorf%E2%80%9D-1922/

[81] Zur Internationalen Ausstellung „Junger Kunst“ 1923 in Warschau und Łódź vergleiche Głuchowska 2012 (siehe Literatur), Seite 470 sowie Bartelik 2005 (siehe Literatur), Seite 151, 159. Zur Ausstellung Neuer Kunst 1923 in Vilnius vergleiche Viktoras Liutkus: Lithuanian Art and the Avant-Garde of the 1920s. Vytautas Kairiūkštis and the New Art Exhibition in Vilnius, in: Lithuanian Quarterly Journal of Arts and Sciences, Band 54, Nr. 2, Vilnius 2008, online: http://www.lituanus.org/2008/08_2_03%20Liutkus.html

[82] Informationen zur Gruppe Blok und Download sämtlicher Ausgaben der Zeitschrift online auf Monoskophttps://monoskop.org/Blok
[83] Głuchowska 2012 (siehe Literatur), Seite 469, Abbildung 14

Teresa Zarnower/Żarnowerówna (1897-1949) stammte aus einer jüdischen Warschauer Familie. Von 1915 bis 1920 studierte sie in Warschau an der Schule der Schönen Künste/Szkoła Sztuk Pięknych w Warszawie Bildhauerei bei Edward Wittig (1879-1941). Vermutlich dort lernte sie Szczuka kennen, der während dieser Zeit an der Kunstschule Malerei studierte und mit dem sie bis zu dessen Lebensende 1927 zusammenblieb. Szczuka schrieb ihr die eigentliche Initiative zu, nach der Konstruktivisten-Ausstellung in Vilnius 1923/24 die Gruppe Blok gegründet zu haben.[84] In der gleichnamigen Zeitschrift, die sie zusammen mit Szczuka, Stażewski und dem Schriftsteller Edmund Miller redaktionell betreute und gestaltete, veröffentlichte sie weiterhin ihre stereometrischen Plastiken (Abb. 14). Neu waren ihre „typographischen“ Entwürfe, die jedoch nicht mit Schrift in Verbindung standen, sondern ein konstruktivistisches System zur grafischen Gestaltung von gedruckten Publikationen darstellten, indem sie gegenständliche Themen wie Porträts (Abb. 15, 17) oder Landschaften (Abb. 16, 18, 21) in geometrische Raster übertrug und sogar zum Film in Beziehung setzte (Abb. 18). Außerdem publizierte sie Architekturentwürfe in der Art von De Stijl (Abb. 19) und Konzepte für konstruktivistische Bühnenbilder (Abb. 20). 

In der Zeitschrift Blok veröffentlichte die Redaktion neben den Arbeiten der eigenen Gruppe ein breites, internationales Spektrum an Werken des Kubismus von Baumeister, Braque, Gleizes, Léger, Marcoussis, Gris, Henri Laurens, Lipchitz, Mattis Teutsch, Marcel Janco und Servranckx, der russischen Suprematisten und Konstruktivisten Malewitsch und El Lissitzky sowie von Moholy-Nagy und Katarzyna Kobro, von Künstlern des Stijl wie Van Doesburg, J.J.P. Oud und Rietveld sowie von Kurt Schwitters und Erich Mendelsohn. Walden steuerte für die Doppelnummer 6/7 einen Text über die neueste deutsche Literatur, „Najnowsza literatura niemiecka“, bei. 

Tatsächlich schuf Zarnower auch Schriftentwürfe und Buchcover, meist unter Verwendung von Fotomontagen, so 1925 für eine polnische Ausgabe der Dichtungen von Wladimir Majakowski, 1929 für das Buch „Europa“ von Anatol Stern, für das Szczuka drei Jahre zuvor das Layout entworfen hatte, und 1931 für die Zeitschrift des Zentralkomitees der Polnischen Kommunistischen ParteiCzerwony Sztandar/Das rote Banner. Nach dem Tod von Sczcuka gab sie bis zum Juli 1928 die von ihm gegründete künstlerische und literarische Monatsschrift Dźwignia/Die treibende Kraft heraus. Hatte sie Anfang der Zwanzigerjahre auch abstrakte und geometrische Kompositionen auf Papier und Leinwand und im Linolschnitt geschaffen, so gab sie Malerei und Bildhauerei ab 1924 vorübergehend auf, um ihre Kunst „nützlichen“ Aufgaben zu widmen. Zusammen mit Szczuka und mit Unterstützung von Architekten entwickelte sie zwischen 1924 und 1926 Architekturprojekte für Gartenstadt-Siedlungen, die an Entwürfe von Le Corbusier (1887-1965) anschlossen und mit denen sie 1926/27 an internationalen Architektur-Ausstellungen in Warschau und Moskau teilnahm. 1928 gestaltete sie eine Serie von Wahlplakaten und Prospekten für die linke Arbeiter- und Bauernpartei, der sie auch politisch nahestand. Ihr Bruder, der Mediziner David Zarnower, war Mitglied der Kommunistischen Partei. 

1937 verließ sie Polen und ging nach Paris, wo sie von ihrer künstlerischen Arbeit jedoch kaum leben konnte. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs arbeitete sie dort unter anderem für die Propaganda-Abteilung der polnischen Exilregierung. Nach der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen ging sie nach Spanien und Portugal und emigrierte 1941 über Kanada in die USA. Dort nahm sie die Ölmalerei und die Arbeit an Fotomontagen wieder auf, unter anderem für ein 1942 erschienenes Buch „Obrona Warszawy/Die Verteidigung von Warschau“. Wegen ihrer weiterhin schwierigen Lebensbedingungen nahm sie sich 1949 vermutlich das Leben.[85]

[84] Ebenda, Seite 468

[85] Zu Teresa Zarnower/Żarnowerówna vergleiche unter anderem Andrzej Turowski/Milada Ślizińska: Teresa Żarnowerówna (1897-1949). Artystka końca utopii, Ausstellungs-Katalog Kunstmuseum Łódź/ Muzeum Sztuki w Łodzi, 2014; Ewa Gorządek: Teresa Żarnower (Żarnowerówna), auf culture.pl (2015), https://culture.pl/en/artist/teresa-zarnower-zarnowerowna . Der künstlerische Nachlass, soweit erhalten, befindet sich im Kunstmuseum Łódź.

Mieczysław Szczuka (1898-1927), geboren in Warschau, stammte aus einer Familie des polnischen Landadels, der Vater arbeitete als Kupferstecher und Kartograph. Nach dem Abitur studierte er von 1915 bis 1918 Malerei bei Miłosz Kotarbiński (1854-1944) an der Warschauer Schule der Schönen Künste/Szkoła Sztuk Pięknych w Warszawie, wo er vermutlich Zarnower kennen lernte. Früh interessierte er sich für theoretische und praktische Analysen von Form, Farbe, Textur und Licht und schuf räumliche Kompositionen. Er engagierte sich im studentischen Leben der Kunstschule und stand kommunistischen Ideen nahe. 1919 wurde bei ihm Tuberkulose diagnostiziert. In seiner Malerei arbeitete er figürlich zu biblischen Themen, beeinflusst vom Futurismus und von primitivistischen Tendenzen. Sein 1920 entstandenes Selbstporträt orientiert sich am Kubismus.[86] Im selben Jahr zeigte er im Polnischen Künstlerclub/Polski Klub Artystyczny im Hotel Polonia in Warschau seine erste Einzelausstellung mit Gemälden und Grafik, die verhalten aufgenommen wurde. Im Dezember 1921 stellte er zusammen mit Stażewski und Miller im Künstlerclub aus und präsentierte neben kubistischen und religiösen Werken mobile Raumkonstruktionen („Forme mobile“), die an Tatlin geschult waren, sowie suprematistische Kompositionen. 

Gleichzeitig entstanden abstrakte Plastiken aus Alltagsmaterialien wie Zement, Gips, Blech, Eisen, Holz und Glas, die sich ebenfalls an Arbeiten von Tatlin orientierten. Seine Ausstellung im Sturm im Juni 1923 zusammen mit Zarnower, Bernáth und Schreyer (PDF 22) repräsentierte diese Phase, während der er auch mit Bühnenbildern, Architekturentwürfen, Grabmalprojekten (unter anderem für Karl Liebknecht und Fjodor Dostojewski) und abstrakten Filmkonzepten experimentierte. Nach der Teilnahme an der ersten Konstruktivisten-Ausstellung in Vilnius 1923 reiste er zu einem von mehreren Kuraufenthalten nach Zakopane und begeisterte sich seitdem für das Bergsteigen in der Hohen Tatra. Seit der Jahreswende 1923/24 beschäftigte er sich mit der grafischen Gestaltung von Zeitschriften und Büchern, konzipierte konstruktivistische Layouts für die kommunistische Wochenzeitung Nowa Kultura und das avantgardistische Literaturmagazin F 24 – Almanach Nowej Sztuki und gestaltete Buchcover für Bruno Jasieński, Anatol Stern und andere. Dabei verband er, so Walden später, „die Arbeit an der Erneuerung der Kunst mit der Arbeit an der Grundlegung einer neuen proletarischen Kultur“ (PDF 25).

Nach Gründung der Gruppe Blok publizierte er ab 1924 in der von ihm mit redigierten und gestalteten Zeitschrift regelmäßig Entwürfe und kunsttheoretische Beiträge. Herausragend sind seine Fotomontagen, in denen er Motive des Arbeitsalltags, der Arbeiterkultur und des technischen Fortschritts zu dynamisch-konstruktivistischen Flächengestaltungen kombinierte (Abb. 21, 24, 25). Die Gesellschaftsreformen des ersten Präsidenten der türkischen Republik, Mustafa Kemal Pascha (ab 1934 Atatürk, 1881-1938), inspirierten ihn zu einer Collage aus Symbolen der antiken Kultur und technischer Errungenschaften in der Art von Raoul Hausmann, jedoch ohne dessen dadaistisch-absurden Unterton, sondern in bewusst klarer und offener Gestaltung und mit Partei ergreifender, politischer Diktion (Abb. 23). Er und Zarnower gelten als die einzigen Gestalter von Fotomontagen in der bildenden Kunst dieser Zeit in Polen. Daneben zeigte er einen typografischen Entwurf für ein Schriftlayout (Abb. 22) und einen Innenraumentwurf in der Art des Stijl (Abb. 25). 

Ab 1925 gab er die Malerei auf und widmete sich sozial determinierten Achitekturkonzepten. Seine Entwürfe (PDF 24) basierten auf denen des Stijl, favorisierten jedoch blockartige Strukturen, die das kontinuierliche Hinzufügen neuer Elemente ermöglichten. Zusammen mit Zarnower und professionellen Architekten entwarf er monumentale Stadt- und Siedlungsprojekte sowie genossenschaftliche Wohnbauten mit Gartenterrassen unter maximaler Berücksichtigung von Licht und Luft. 1926 organisierte er in Warschau zusammen mit anderen die 1. Internationale Ausstellung für moderne Architektur/I Międzynarodowa Wystawa Architektury Nowoczesnej, auf der er die zusammen mit Zarnower entworfenen Gartenstadtprojekte zeigte. In der Zeitschrift Dźwignia/Die treibende Kraft, die er seit 1927 herausgab, versammelte er Literaten und Künstler zur gemeinsamen Arbeit an einer proletarisch-kommunistischen Kultur. Er selbst setzte sich in Artikeln mit der sozialen Stellung des Künstlers und dem Verhältnis der Kunst zur Arbeiterklasse auseinander. Zuletzt kritisierte er den ästhetischen Ansatz des Suprematismus insbesondere von Malewitsch und trat für eine am gesellschaftlichen Nutzen und am technischen Fortschritt orientierte Kunst ein. Er organisierte eine (vom polnischen Staat nicht legalisierte) Gesellschaft für Arbeiterkultur und engagierte sich für den Arbeitersport. Während seiner zahlreichen Aufenthalte in Zakopane unternahm er Klettertouren mit professionellen Bergsteigern und Touristen. Bei seiner dreizehnten Besteigung der Südwand des Ödkarturms/Zamarła Turnia in der Hohen Tatra im August 1927 stürzte er in den Tod.[87]

Walden veröffentlichte im April 1928 in der Sturm-Zeitschrift einen ausführlichen Nachruf auf ihn, der dokumentierte, dass Walden nicht nur über die künstlerische Arbeit von Szczuka und Zarnower, sondern auch über die Gruppe Blok und ihre Zeitschrift außerordentlich gut informiert war. Zusätzlich publizierte er von Szczuka Architekturprojekte, Fotomontagen und den bereits erwähnten Innenraum-Entwurf, die in der Zeitschrift Blok erschienen waren. Szczukas architektonische Arbeiten seien, so Walden, „von ungeheurem Einfluss auf die ganze junge Generation der polnischen Architekten“ gewesen (PDF 25).

[86] Mieczysław Szczuka: Autoportret z paletą/Selbstporträt mit Palette, 1920, Öl auf Leinwand, 134,4 x 92 cm, Nationalmuseum Warschau/Muzeum Narodowe w Warszawie, Inv. Nr. MPW 1166 MNW; dort auch ein Gemälde „Madonna“, Öl auf Pappe, 31,6 x 25 cm; beide Werke auf MN digitalhttp://cyfrowe.mnw.art.pl/dmuseion/results?action=AdvancedSearchAction&type=-3&search_attid1=103&search_value1=Szczuka%2C+Mieczys%C5%82aw+%281898-1927%29&skipSearch=false

[87] Zur Biografie vergleiche unter anderem Joanna Daranowska-Łukaszewska: Mieczysław Szczuka, in: Polski Słownik Biograficzny, Band XLVII, 2010/11, online auf Internetowy polski słownik biograficznyhttps://www.ipsb.nina.gov.pl/a/biografia/mieczyslaw-szczuka, dort weitere Literatur; Irena Kossowska: Mieczysław Szczuka, auf culture.pl (2002, polnisch), https://culture.pl/pl/tworca/mieczyslaw-szczuka, sowie (2002/2015, englisch) https://culture.pl/en/artist/mieczyslaw-szczuka

Mit Henryk Berlewi (1894-1967), der 1922/23 in Berlin lebte, verband das Ehepaar Walden über die bereits genannten gleichzeitigen Aktivitäten und gemeinsamen Projekte hinaus eine mehrjährige Zusammenarbeit, wenn nicht sogar Freundschaft. Im Juli 1924 zeigte Walden in der Sturm-Galerie eine Einzelausstellung des Künstlers, die mit nur elf Objekten einem einzigen konstruktivistischen Thema, dem von Berlewi entwickelten Prinzip der „Mechano-Faktur“, gewidmet war und zu der ein bebilderter Katalog erschien (PDF 26). Im September veröffentlichte Walden in der Sturm-Zeitschrift die deutsche Übersetzung des gleichnamigen Manifests, das Berlewi zuvor in Warschau publiziert hatte (PDF 27). Nell Walden erinnerte sich später an Berlewi als einen von lediglich fünf jüdischen Malern des Sturm neben Chagall, den beiden Ungarn Kádár und Scheiber sowie dem Schweden Isaac Grünewald, was definitiv falsch, aber vermutlich ihrer Abwesenheit beim Sturm in den Zwanzigerjahren geschuldet war.[88] Zuletzt war Berlewi einer von nur noch fünf Künstlern, die 1961 bei der Eröffnung der von der Nationalgalerie Berlin veranstalteten Retrospektive zum fünfzigsten Jahrestag des Sturm im Schloss Charlottenburg gemeinsam mit Nell Walden anwesend waren.[89]

Berlewi, geboren in Warschau als Sohn der späteren Malerin Helena/Hélène Berlewi, genannt Hel Enri (*1873), studierte von 1904 bis 1909 Malerei an der Warschauer Kunstschule/Szkoła Sztuk Pięknych w Warszawie bei Kazimierz Stabrowski, Edward Trojanowski, Stanisław Lentz, Konrad Krzyżanowski und Władysław Ślewiński, die noch dem Impressionismus und dem Jugendstil verpflichtet waren. 1909 wechselte er zu Juliaan De Vriendt (1842-1935) an die Kunstakademie Antwerpen, 1911 an die École des Beaux-Arts und die École des Arts Décoratifs nach Paris. 1913 kehrte er nach Warschau zurück, wo er bis 1916 an der Zeichenschule/Klasa Rysunkowa w Warszawie studierte. Er war eng mit dem jüdischen Leben verbunden und beschäftigte sich in den folgenden Jahren auch künstlerisch mit jüdischen Themen. 1918/19 stand er in engem Kontakt zu den Schriftstellern des polnischen Futurismus, Aleksander Wat (1900-1967) und Antol Stern (1899-1968). Um 1920 wurde er künstlerischer Leiter der Vilner trupe/Wilnaer Truppe, eines ursprünglich in Vilnius beheimateten Ensembles jüdischer Schauspieler, das 1920 in Warschau mit dem jüdischen Drama „Dybuk/Der Dibbuk“ von Salomon An-Ski gastierte und für das Berlewi ein Plakat in expressiv-kubistischem Mischstil gestaltete.[90] Er wurde aktives Mitglied der Gruppe Jung Idysz in Łódź, die bereits enge Verbindungen zur Posener Gruppe Bunt unterhielt. 1921 organisierte er für Jung Idysz im Rahmen einer großen Kunstausstellung in den Sälen des Handelsverbandes/Towarzystwo Handlowców in Łódź einen separaten Salon der Futuristen, Kubisten und Primitivisten/Salon futurystów, kubistów i prymitywistów, in dem unter anderem Jankel Adler und Wincenty Brauner religiöse Szenen präsentierten und der anschließend in Warschau in der Jüdischen Gemeinde gezeigt wurde.[91] Ebenfalls 1921 gründete er zusammen mit Adler und Szwarc einen Warschauer Zweig der ursprünglich in Moskau entstandenen und dort inzwischen der sozialistischen Doktrin unterworfenen jüdischen Kultur-Lige.[92]

Durch sein Zusammentreffen mit El Lissitzky 1921 in Warschau änderten sich Berlewis künstlerische Interessen radikal. Er wandte sich dem Suprematismus und dem Konstruktivismus zu. Möglicherweise verdankte er Lissitzky auch seinen Wechsel nach Berlin, da dieser dort 1922 die 1. Russische Kunstausstellung mit organisierte und den Katalog dafür gestaltete. In Berlin traf Berlewi 1922 nicht nur Walden und die führenden Vertreter der europäischen Avantgarde,[93] sondern wurde auch Mitglied der Novembergruppe. Bereits im Mai war er (noch mit der Ortsangabe „Warschau“) in deren Sonderschau auf der Großen Berliner Kunstausstellung im Landesausstellungsgebäude am Lehrter Bahnhof mit einem Aquarell „Häuser“ und dem Plakat zum „Dybuk“ vertreten.[94] 1923 zeigte er dort (inzwischen mit dem Wohnort „Berlin-Schöneberg“) erste konstruktivistische Arbeiten in Tempera: zwei „Weibliche Konstruktionen“, ein Stillleben und eine „Fakturkomposition“.[95] Auf dem Düsseldorfer Kongress im Mai 1922 war er also nicht nur als Vertreter von Jung Idysz und der Kultur-Lige, sondern auch als Mitglied der Novembergruppe anwesend. Für das Folgejahr bereitete er zusammen mit Walden die Internationale Ausstellung „Junger Kunst“ in Warschau und Łódź vor. 1923/24 wurde er Mitglied der Gruppe Blok. Bereits im ersten Heft der Zeitschrift erschien ein Entwurf aus seiner neuen Serie „Mechano-Faktur“ (Abb. 26). Ab dem 15. März 1924 nahm er an der ersten Ausstellung der Gruppe im Auto-Salon Laurin i Klement in der Warschauer Mazowiecka 11 zusammen mit Katarzyna Kobro, Kryński, Strzemiński, Mieczysław Szulc, Zarnower und Szczuka teil,[96] wo er ebenfalls Arbeiten zur „Mechano-Faktur“ zeigte. 

[88] Walden 1963 (siehe Literatur), Seite 31

[89] Ebenda, Seite 53; vergleiche Der Sturm. Herwarth Walden und die europäische Avantgarde. Berlin 1912-1932, Ausstellungs-Katalog Nationalgalerie Berlin im Schloss Charlottenburg, Berlin 1961, zu Stanislaw Kubicki Seite 78 f., zu Louis Marcoussis Seite 90 f., zu Henryk Berlewi Seite 102 f.

[90] Michael C. Steinlauf: „Fardibekt!“ An-sky’s Polish Legacy, in: The Worlds of S. An-sky. A Russian Jewish Intellectual at the Turn of the Century, herausgegeben von Gabriella Safran und Steven J. Zipperstein, Stanford/CA 2006, Seite 238; Abbildung des Plakatmotivs auf dem Portal YIVO Digital Archive on Jewish Life in Polandhttp://polishjews.yivoarchives.org/archive/?p=digitallibrary/digitalcontent&id=2693

[91] Magdalena Wróblewska: Jung Jidysz, auf culture.pl (2010), https://culture.pl/pl/tworca/jung-jidysz; Anna Maria Leśniewska / Janusz Zagrodzki: Ekspresjonizm jako nowy styl młodości. Działalność ugrupowania Jung Idysz (1919-1923), online auf: http://www.martamaro.pl/Jung_Idysz/dzialalnosc.html

[92] Goudz 2012 (siehe Literatur), Seite 519

[93] Raoul Hausmann schrieb 1965 in einem Brief an Berlewi: „Ich erinnere mich an ein Zusammentreffen mit Künstlern, die wie Sie in Berlin um 1920 aktiv waren: Pevsner, Gabo, Pougny, Moholy-Nagy, Doesburg, Lissitzky sowie Eggeling und Richter [Heinrich Richter-Berlin]“. Die ehemalige Bauhaus-Studentin und Fotografin Ré Soupault erinnerte sich, dass Berlewi ein Freund von Viking Eggeling gewesen sei, dem Berlewi 1922 einen Aufsatz in der Warschauer Jiddischen Zeitschrift Albatros widmete. (Bartelik 2005, siehe Literatur, Seite 142 f.)

[94] Große Berliner Kunstausstellung 1922, Ausstellungs-Katalog Landesausstellungsgebäude, Berlin 1922, Seite 59; online: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/adk_gka_1922_110/0065/image

[95] Große Berliner Kunstausstellung 1923, Ausstellungs-Katalog Landesausstellungsgebäude, Berlin 1923, Seite 30; online: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/gbk1923/0032/image

[96] Ankündigung der Ausstellung im 1. Heft der Zeitschrift Blok vom 8. März 1924 (vergleiche in der Mediathek Abb. 14)

Einen Tag zuvor, am 14. März, hatte Berlewi im Austro-Daimler Autosalon in Warschau seine erste Einzelausstellung mit Arbeiten zur „Mechano-Faktur“ eröffnet (Abb. 27), was zweifellos als Affront gegen die Gruppe Blok zu werten war. Vielleicht war dies der Grund, dass keine weiteren Arbeiten von ihm in der Zeitschrift erschienen und er zur Jahreswende 1924/25 wieder aus der Gruppe ausschied. Aus der Ausstellung sind heute noch Originale erhalten (Abb. 28, 29). Dazu erschien im Verlag der Zeitschrift Jazz, die Berlewi und Wat als Konkurrenz zur Zeitschrift Blok gegründet hatten,[97] das Manifest „Mechano-faktura“.[98] Darin kam Berlewi zu dem Schluss, dass die gegenwärtige Kunst „mit allen Angewohnheiten der parfümierten, perversen, überempfindlichen, hysterischen, romantischen, boudoirmäßigen, individualistischen Kunst von gestern brechen“ und eine „neue Formsprache schaffen“ müsse. Diese solle „für alle zugänglich“ sein und „im Einklang mit dem Rhythmus des Lebens“ stehen. Ausgehend von den Errungenschaften der modernen Malerei, also des Expressionismus, Kubismus und Futurismus, und den inzwischen von Tatlin, Braque, Picasso, Schwitters und anderen entwickelten Material-Reliefs,[99] stellte Berlewi fest, dass die Konzentration der modernen Kunst auf die „Faktur“, also auf die Ausstrahlung der Oberflächen und der verwendeten Materialien in eine Sackgasse geführt habe. Sie habe die Künstler zu immer neuen, „spitzfindigen fakturellen Kombinationen“, zu „Individualismus, Subjektivismus und ästhetischer Überaffiniertheit“ geführt. Gleichzeitig habe die Malerei ihre Zweidimensionalität verloren und sei nun dazu verdammt, stoffliche Oberflächen in einer Art von Illusionismus und ohne realen Nutzen in unendlichen Varietäten zu imitieren. 

Dem setzte Berlewi neue Aufgaben der Kunst entgegen, die mit „jeder Imitation der Gegenstände“ brechen sollte: „Autonomie der Form, Disziplin, Klarheit […] Schematisierung, Geometrisierung, Präzision, die einem jeden das Ordnen der vom Werke empfangenen Eindrücke erleichtert.“ Folge könne nur eine Mechanisierung der künstlerischen Techniken sein, die sich industrielle Verfahren zum Vorbild nehme. Durch die „Mechanisierung der Faktur“, also die mechanische Produktion der künstlerischen Oberfläche, werde nun ein „ganz neues Gestaltungssystem begründet“. Dies betreffe die Mechanisierung der künstlerischen Mittel, jedoch nicht den eigentlichen Schaffensprozess (vergleiche PDF 27). Die technische Gestaltung seiner Arbeiten zur „Mechano-Faktur“ erläuterte Berlewi jedoch nicht. Sie konstituierte sich aus einer Malerei mithilfe perforierter Schablonen, der Verwendung von geometrischen Figuren, der rhythmischen Anordnung von Rastern und Formen und den drei Farben Weiß, Rot und Schwarz. Beeinflussungen von Berlewis Theorie und künstlerischer Gestaltung durch den Suprematismus, den Neo-Plastizismus der niederländischen Gruppe De Stijl und die gleichzeitigen typografischen Entwürfe des Bauhauses, etwa von Herbert Beyer und Joost Schmidt, sind nicht von der Hand zu weisen. 

Nach dem Prinzip der „Mechano-Faktur“ schuf Berlewi eine Reihe ganz unterschiedlicher Arbeiten, von denen zwei durch den Ausstellungs-Katalog der Sturm-Galerie vom Juli 1924 (PDF 26) und den Abdruck des Manifests in der September-Ausgabe der Sturm-Zeitschrift (PDF 27) überliefert sind. Weitere Varianten sind als Repliken vom Beginn der 1960er-Jahre erhalten, als Berlewi im Zuge der beginnenden Op-Art seine Ideen der Zwanzigerjahre neu belebte und in die Techniken des Siebdrucks[100] und der Ölmalerei (Abb. 30) übertrug. Noch 1924 gründete er zusammen mit Wat und einem weiteren futuristischen Schriftsteller, Stanisław Brucz (1899-1978), das Werbebüro Reklama-Mechano, das auch der Verbreitung der neuen gestalterischen Prinzipien durch Werbeprospekte und andere Drucksachen dienen sollte (Abb. 31). 1926 gab er seine theoretische Arbeit an der „Mechano-Faktur“ auf und wandte sich wieder der gegenständlichen Kunst zu. 1927 ging er nach Paris und ließ sich dort nieder. Zwischen 1928 und 1938 unternahm er zahlreiche Reisen nach Belgien und arbeitete als Porträtist. 1942 floh er aus dem von den Deutschen besetzten Paris nach Nizza und schloss sich der Résistance an. 1947 nahm er seine künstlerische Tätigkeit wieder auf und produzierte neobarocke Stillleben. Anlässlich seiner Teilnahme an einer Ausstellung der Pariser Galerie Denise René über die Wegbereiter der abstrakten Kunst in Polen[101] wurde er als Vorläufer der Op-art neu entdeckt, arbeitete wieder an Werken zur „Mechano-Faktur“ und zeigte diese bis zu seinem Tod weltweit in Ausstellungen.[102]

[97] Głuchowska 2012 (siehe Literatur), Seite 470

[98] Henryk Berlewi: Mechano-faktura, Warschau: Wydawnictwo Jazz, 1924; Reprint Paris 1962

[99] Ohne sie ausdrücklich zu nennen, meint Berlewi mit dem Begriff „Basrelief“ offensichtlich auch die ab 1912 von Braque und Picasso geschaffenen Papiers collés, Frühformen der Collage, in denen Sand, Stoff, Holz und bedruckte Papiere wie Spielkarten oder Zeitungsausrisse zum Einsatz kamen.

[100] Mechano-Faktur-Konstruktion, 1924/1961. Siebdruck, 61 x 50 cm, Kunstmuseum Bochum, Inv. Nr. 1504; vergleiche auf diesem Portal Axel Feuß: Kunstmuseum Bochum – Die Sammlung polnischer Kunst, Abbildung 4, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/kunstmuseum-bochum-die-sammlung-polnischer-kunst; Biografie und Werkbeschreibung im angehängten PDF, https://www.porta-polonica.de/sites/default/files/asset/document/Text-Feu%C3%9F_Kunstmuseum-Bochum_polnische-Kunst_20150921_v0%207.pdf

[101] Précurseurs de l'art abstrait en Pologne. Kazimierz Malewicz, Katarzyna Kobro, Wladyslaw Strzeminski, Henryk Berlewi, Henryk Stazewski. Ausstellungs-Katalog Galerie Denise René, Paris 1957

[102] Zur Biografie vergleiche U. Leszczyńska, in: Saur Allgemeines Künstlerlexikon, Bd. 9, München, Leipzig 1994, Seite 462 f.; Irena Kossowska: Henryk Berlewi, auf culture.pl (2002, polnisch), https://culture.pl/pl/tworca/henryk-berlewi, (2002/2015 englisch), https://culture.pl/en/artist/henryk-berlewi; Magdalena Tarnowska: Henryk Berlewi, auf Virtual Shtetl (2001), https://sztetl.org.pl/en/biographies/2214-berlewi-henryk; Henryk Berlewi, auf Monoskophttps://monoskop.org/Henryk_Berlewi; Nieszawer 2015 (siehe Literatur), Seite 62-64 / 411

Walden konnte in den Zwanzigerjahren mit den Ausstellungen des Sturm in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr die bahnbrechenden Erfolge erzielen wie im Jahrzehnt zuvor. Seine Arbeitskraft blieb jedoch ungebrochen. Sein zunehmendes Engagement für den Kommunismus führte zu zahlreichen Versuchen, den Sturm breiteren Schichten zugänglich zu machen. Dazu gehörten ein Verleih von originalen Kunstwerken und ein Lesesaal, den er 1920 in den Ausstellungsräumen eröffnete und in dem noch 1926 siebzig internationale Kunst-, Literatur- und Musikzeitschriften unter anderem aus Ägypten, Argentinien, Italien, den Niederlanden, Polen, Sowjet-Russland und den USA auslagen. Im selben Jahr rief er ein Sturm-Kabarett ins Leben, das „jeden Mittwoch 8 ½ Uhr“ stattfand und anschließend Tanz mit einer Jazzband versprach.[103] Ebenfalls seit 1920 existierte die Gesellschaft der Sturmfreunde, die ihren Mitgliedern für einen Jahresbeitrag von 15 Mark anbot, „die expressionistische Kunst unserer Zeit als Gesamterscheinung kennen zu lernen“. Eine Mitgliederzeitung unterrichtete über „alle Neuerscheinungen der expressionistischen Malerei, Plastik, Dichtung und Musik“. Für die Mitglieder wurden „Sturmabende (Rezitation und Musik) sowie Aufführungen der Sturmbühne veranstaltet“,[104] außerdem die jährlichen Sturm-Bälle, die in verschiedenen Sälen Berlins stattfanden, von Sturm-Künstlern gestaltet wurden und zu denen Ballzeitungen erschienen. 1929 fand in den Clubräumen des Sturm täglich um 21 Uhr ein politisches Kaspertheater statt.[105]

Schon seit September 1916 veranstaltete Walden Sturm-Kunstabende, die eine Fortsetzung der Autorenlesungen des Vereins für Kunst darstellten und damit schon im dreizehnten Jahr stattfanden. Allerdings hatte sich der Autorenkreis verändert: Vorgetragen wurden jetzt ausschließlich Werke heute kaum noch bekannter expressionistischer Dichter und Schriftsteller, sogenannter Sturm-Künstler, wie August Stramm, Franz Richard Behrens, Dezső Kosztolányi, Wilhelm Runge oder Sophie van Leer, vorgetragen von dem Schauspieler und Essayisten Rudolf Blümner (1873-1945). Ab April 1918 wurde die Reihe durch Sturm-Abende mit denselben Lesungen, aber ergänzt durch Musikwerke von Walden abgelöst. Sie fanden „jeden Mittwoch 7 ¾ Uhr in der Kunstausstellung“ statt, am 24. Mai 1922 zum zweihundertsten Mal, wiederum mit Rezitation von Blümner und Musik von Walden.[106]

Im Oktober 1924 änderte sich diese Reihe erneut: Für den 240. Sturm-Abend stand ein Chorkonzert der Gesangsgemeinschaft Rosebery d’Arguto mit zweihundertfünfzig Mitwirkenden im Konzertsaal der Staatlichen Hochschule für Musik in der Fasanenstraße in Charlottenburg auf dem Programm (Abb. 32, 33). Zwei Monate später veröffentlichte der Schriftsteller und Verlagslektor Adolf Knoblauch (1882-1951), der schon seit 1911 regelmäßig in der Sturm-Zeitschrift publizierte,[107] dort eine Rezension über das Konzert und schrieb: „Sturmabend! Proletarischer Kinderchor! Einführung der Gesangsgemeinschaft Rosebery d’Arguto! Konzertsaal der Hochschule für Musik! Neunzehnteiliges Sanges-Programm! Selig, die diesen Abend erleben! Trauer denen, die nicht gekommen waren! Eine kleine Verstimmung, dass der Saal nur zur Hälfte gefüllt war, nicht des übervollen Saales hingerissene Beifallstürme den Kindern und Mädchen auf dem Podium danken konnten!“ (PDF 28)

[103] Annoncen für den Lesesaal und das Sturm-Kabarett in: Der Sturm, Band 17, 6. Heft, 1926, nach Seite 96, online: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1926_1927/0123

[104] Anzeige „Gesellschaft der Sturmfreunde“, in: Der Sturm, 15. Jahrgang, Januar 1924, online: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1924/0268

[105] Brühl 1983 (siehe Literatur), Seite 71

[106] Anzeige Sturm-Abend, in: Der Sturm, 13. Jahrgang, 5. Heft, 1922, 2. Umschlagseite nach Seite 80, online: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1922/0106

[107] Brühl 1983 (siehe Literatur), Seite 302

Der Dirigent, Komponist, Gesangslehrer und Chorleiter Rosebery d’Arguto (1890-1943 im KZ Auschwitz ermordet), mit bürgerlichem Namen Martin Moszek Rozenberg/Rosenberg, stammte aus dem Dorf Szreńsk unweit der masowischen Stadt Mława im ehemals russischen Teilungsgebiet. Der Sohn eines jüdischen Gutsbesitzers verbrachte seine Kindheit in Mława und Warschau und schloss sich als Fünfzehnjähriger der polnischen Unabhängigkeitsbewegung an. Um der Verhaftung durch die russische Polizei zu entgehen, floh er zur Jahreswende 1906 über die österreichische Grenze und ließ sich in Wien zum Dirigenten und Komponisten ausbilden. Nach einem Studienaufenthalt in Italien ging er nach Berlin und studierte an der Musikhochschule bei Georg Schünemann (1884-1945) Musikwissenschaften, bei dem Pianisten und Komponisten Gustav Ernest (1858-1941) Kontrapunkt und Musiktheorie und bei dem Kapellmeister, Dirigenten und Komponisten James Jakob Rothstein (1871-1941 im Getto Litzmannstadt/Łódź) Theorie und Komposition. Ab 1914 arbeitete er als Gesangslehrer am Ochs-Eichelberg-Konservatorium in Berlin. 1917 übernahm er den Berliner Schubert-Chor und gründet eine Reformgesangsschule, in der er auf „pädagogisch-künstlerischer“ und „experimentell-wissenschaftlicher“ Grundlage gemischten Kinder- und Chorgesang unterrichtete. 1919/20 gründete er die KPD-nahe Zeitschrift Die Weltrevolution. Wochenschrift für die Interessen des internationalen Sozialismus und Kommunismus. 1922 übernahm er die Leitung des Frauen- und Männerchors Neukölln, der sich in Gesangsgemeinschaft Rosebery d’Arguto umbenannte und dem Deutschen Arbeiter-Sängerbund angeschlossen war. Für diesen Chor, dem über zweihundert Erwachsene und neunzig Kinder angehörten, arrangierte er ein umfassendes Volkslied-Programm und entwickelt die „absoluten sinfonischen Gesänge“, in denen die menschlichen Stimmen als Instrumente fungierten.

Das Programm des Sturm-Abends, das mit einem Barockmadrigal von Heinrich Albert (1604-1651) „nach Art der Polen“ begann, umfasste klassische Stücke von Mozart, Beethoven und Schubert, französische Volkslieder für Kinderchor, eine Komposition „Die Judentochter“ von Herwarth Walden nach einem Liedtext aus „Des Knaben Wunderhorn“, vor allem aber Eigenkompositionen und Bearbeitungen von Rosebery d’Arguto, darunter „absolute symphonische Gesänge“ und solche nach russischen, deutschen und amerikanischen Volksweisen (Abb. 33). Knoblauch urteilte: „Nichts: als die reine Musik. Musik der Zukunft: Musik von Tausenden tüchtiger Volksgenossen gesungen: nackt, freudestrahlend, tiefernst, edel den Himmel bildend, den Himmel erfüllend!“. Nach der Revolution, so berichtete er, hätten sich „aus den Tiefen der arbeitenden Bevölkerung die proletarischen Gesangschöre“ gebildet, denen Rosebery d’Arguto erst die musikalische Form gegeben habe: „ein kundiger, geduldiger, liebevoller Meister […] hat aus der Masse den großen wegweisenden Volkschor der Zukunft zum Licht der Welt erhoben. Hat aus der Masse Form gebildet, individuelle Form, individuellen Geist der Musik.“ (PDF 28

Im Mai 1925 erschien in der Sturm-Zeitschrift ein Porträt Rosebery d’Argutos (Abb. 34), gezeichnet von dem ungarischen Kubisten Hugó Scheiber (1873-1950), der seit 1922 in Berlin lebte. Im Frühjahr 1928 berichtete Walden in der Zeitschrift über einen Auftritt der Gesangsgemeinschaft Roseberg d’Arguto anlässlich eines Konzerts für die Gefangenen der Strafanstalt Plötzensee: „Da stehen etwa hundert versorgte und verarbeitete Männer, Frauen und Kinder. Da bricht Musik aus der Masse hervor. Ein Schrei. Ein Klang. Ein Leid. Eine Freude. […] Die Mitglieder der Gesangsgemeinschaft sind Arbeiter und Angestellte mit ihren Frauen, Kindern und Enkeln. Sie alle sind der Kunst ergeben, Werkzeuge ihrer menschlichen Empfindungen, Kunstwerk geworden …“[108] Am 25. September 1928 war der Chor mit Kompositionen von Rosebery d’Arguto am „Herwarth-Walden-Abend“ zu Waldens fünfzigstem Geburtstag im Theater am Schiffbauerdamm beteiligt. Dazu hatten sich ein Ehren‑ und ein Aktionskomitee sowie dreihundertvierzig aufgelistete Gratulanten, sämtlich berühmte Künstler, Architekten und Geistesschaffende aus dem In- und Ausland, darunter auch Rosebery d’Arguto, zusammengefunden.[109]

[108] Herwarth Walden: Aus der Zeit für die Zeiten. Morgenfeier in der Strafanstalt Plötzensee, in: Der Sturm, 19. Jahrgang, Heft 5, 1928, Seite 262; online: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1928_1929/0084

[109] Anzeige Herwarth-Walden-Abend, in: Der Sturm, 19. Jahrgang, Heft 7, 1928, Seite 293, Gratulantenliste Seite 294; online: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1928_1929/0115; vergleiche auch Brühl 1983 (siehe Literatur), Seite 73

Der Chorleiter und Komponist blieb Walden und dem Sturm bis in den Anfang der 1930er-Jahre verbunden. 1931 gehörte er zu den Schirmherren der zweiten Vagabunden-Kunstausstellung, die der Sturm unter dem Protektorat von Walden und anderen berühmten Kulturschaffenden wie dem Kunstkritiker Adolf Behne, den Architekten Loos und Poelzig, den Schriftstellern Roda-Roda und Alfred Richard Meyer, dem Theaterintendanten Erwin Piscator, den Malern Robert Storm Petersen, Sascha Wiederhold und Hugó Scheiber sowie der Schauspielerin und Chansonnière Rosa Valetti veranstaltete (Abb. 35). Die Bruderschaft der Vagabunden setzte sich, gegründet 1927 in Stuttgart von dem ehemaligen Matrosen und Gärtner Gregor Gog (1891–1945), als „Reservearmee des kämpfenden Proletariats“ für die Rechte der Obdachlosen ein und stand der Freien Arbeiter-Union Deutschlands nahe. Eine zur Bruderschaft gehörende Künstlergruppe organisierte Ausstellungen und gab Grafik-Mappen heraus.[110] Die Ziele der Bruderschaft, die 1933 von den Nationalsozialisten zerschlagen wurde, standen zweifellos im Einklang mit den kommunistischen Bestrebungen von Walden und Rosebery d’Arguto. Im Rahmen einer Nachtvorstellung zeigte der Sturm unter der Leitung von Gregor Gog den 1930 unter der Regie von Fritz Weiß (*1904) produzierten österreichischen Spielfilm „Der Vagabund“, in dem Gog selbst mitspielte. Im Anschluss wurde aus dem Band „Stempellieder. Gedichte eines Erwerbslosen“ von Franz Zorn zitiert, der als Sonderheft des Sturm erschienen war (Abb. 36).

Rosebery d’Arguto wurde im Juni 1933 von den Nationalsozialisten wegen seiner politischen Tätigkeit verhaftet, konnte die Gesangsgemeinschaft nach Protesten des Chors aber noch bis Ende 1935 leiten, bis die Reichsmusikkammer dem Chorleiter Berufsverbot erteilte. 1938 wurde er im Zuge der „Polenaktion“ über die polnische Grenze abgeschoben, ging nach Warschau und arbeitete als Gesangslehrer. Nachdem er im Juli 1939 mit einer Sondergenehmigung zur Regelung persönlicher Angelegenheiten nach Berlin zurückgekehrt war, wurde er im September verhaftet und in das KZ Sachsenhausen eingeliefert. Kommunistische Mithäftlinge erkannten in ihm den berühmten Arbeiterchor-Dirigenten. 1940 gründete er einen jüdischen Gefangenenchor, für den er Lieder arrangierte und mit neuen Texten versah. Im Oktober 1942 wurde er in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert und im Frühjahr 1943 in einem Außenlager ermordet.[111]

Die Sturmbühne bestand als Verein von September 1917 bis 1921 und verstand sich nach Waldens Konzept als expressionistisches Theater. Die künstlerische Leitung hatte Lothar Schreyer. Nach seiner Auffassung kam es darauf an, das herkömmliche Theater als „Unterhaltungsmittel“ zu vergessen. Es sei nicht wichtig, „eine Dichtung darzustellen“, sondern „eine Vision zu gestalten“.[112] Eine erste Aufführung des Antikriegsstücks „Seeschlacht“ von dem expressionistischen Schriftsteller Reinhard Goering (1887-1936) war zwar im März 1918 verboten worden, fand dann aber doch, sogar in einer zweiten Aufführung vor Abgeordneten des Reichstags, statt. Die erste offizielle Vorstellung vor Vereinsmitgliedern stand als „Theater der Expressionisten“ im Oktober 1918 auf dem Programm.[113]Walden fühlte sich, so Brühl, sein ganzes Leben hindurch dem Theater verbunden.[114] Er selbst hatte Theaterstücke geschrieben, darunter die Pantomime „Die vier Toten der Fiametta“, die von 1911 bis in die Mitte der Zwanzigerjahre von Theatern im In- und Ausland aufgeführt wurde. 

Allgemein bediente sich das expressionistische Theater einer „extremen Gestik und einer Stimmenführung, die sich ständig zu crescendoartigen Schreien steigerte, um dann wieder in absolutes Schweigen zurückzusinken.“ Schreyer ließ seine Darsteller auf der Sturmbühne entweder nackt oder mit kubistischen Masken auftreten, „um das ganz Elementare oder das ganz Konstruierte, aber auf keinen Fall das Gewohnte auf die Bühne zu bringen. Manchmal sah man lediglich drei Meter hohe, mit Masken versehene Puppen, die von ihren Trägern von innen her bewegt wurden“ und sich in einer abstrakten „Klangsprache“ artikulierten. Die Bühnenbilder bestanden aus aufgetürmten Kuben, abstrakten Flächen, Treppen, Maschinenteilen oder apparateähnlichen Elementen.[115] Dabei darf nicht vergessen werden, dass die experimentelle Bühnenkunst in den Zehner- und Zwanzigerjahren eine enge Verbindung zur bildenden Kunst, zum Kunstgewerbe und zur Architektur ihrer Zeit pflegte. Die Dada-Bewegung war 1916 überhaupt erst auf Grundlage der exzentrischen Bühnenaufführungen im Zürcher Cabaret Voltaire entstanden. In Russland schufen Künstlerinnen und Künstler sowohl Kostüm- und Bühnenentwürfe für das Volkstheater als auch für die revolutionären Agitprop-Aufführungen. 

1920 fand in der Sturm-Ausstellung von Sonia Delaunay-Terk ein Theaterstück statt. Walden zeigte 1922 in der Sturm-Zeitschrift Entwürfe von Michail Larionow für Kostüme und einen Bühnenvorhang, Alexandra Exter 1927 in ihrer Einzelausstellung ausschließlich Kostüm- und Bühnenentwürfe. Das Programm der Sturmbühne endete zwar 1921 mit dem Wechsel von Schreyer ans Bauhaus. Walden setzte sich aber weiterhin für das moderne Theater ein. 1924 nahmen er und zahlreiche Sturm-Künstler wie Blümner, Schreyer, Schwitters und Léger in Wien an der Internationalen Ausstellung Neuer Theatertechnik teil, die der Architekt und Bühnenbildner Friedrich Kiesler (1890-1965) anlässlich des Musik- und Theaterfestes der Stadt Wien im Wiener Konzerthaus veranstaltete.[116] Im begleitenden Katalog schrieb Walden einen Beitrag über das „Theater“. Im Juni 1926 gab er in der Sturm-Zeitschrift ein Sonderheft „Theater“ heraus, in dem er einen ähnlichen Textbeitrag veröffentlichte und Entwürfe für Kostüme, Figurinen und Bühnenbilder von Adolf Küthe, Sandro Malmquist, Larionow, Wiederhold, aus dem Staatlichen Jüdischen Kammertheater in Moskau sowie von dem polnischen Maler und Bühnenbildner Feliks Krassowski abbildete.

[110] Im Internet finden sich zahlreiche Hinweise zur Bruderschaft der Vagabunden.

[111] Vergleiche Axel Feuß: Rosebery d’Arguto, in der Encyclopaedia Polonica auf diesem Portal, https://www.porta-polonica.de/de/lexikon/rosebery-darguto. Dort weitere Literatur.

[112] Lothar Schreyer in: Expressionismus. Die Kunstwende, herausgegeben von Herwarth Walden, Berlin 1918, Seite 90

[113] Erste Aufführung der Sturmbühne, in: Der Sturm, 9. Jahrgang, 6. Heft, Berlin 1918, Seite 88, online: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1918_1919/0096

[114] Brühl 1983 (siehe Literatur), Seite 119

[115] Richard Hamann / Jost Hermand: Expressionismus = Epochen deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart, Band 5, Frankfurt am Main 1977, Seite 128 f.

[116] Vergleiche das Kapitel „Der Sturm“ und die Bühne bei Brühl 1983 (siehe Literatur), Seite119-130

Geboren und aufgewachsen in Warschau als Sohn eines Eisenbahnbeamten, studierte Feliks Krassowski (1895-1967) von 1911 bis 1914 an der Warschauer Zeichenschule/Klasa Rysunkowa w Warszawie. Ab 1914 arbeitete er in der Bühnenwerkstatt des im Jahr zuvor eröffneten Polnischen Nationaltheaters/Teatr Polski w Warszawie als Assistent des Malers und Bühnenbildners Wincenty Drabik (1881-1933). Als dieser 1915 nach Kiew ging, nahm er sein Kunststudium wieder auf und belegte Kurse bei dem expressionistischen Maler Konrad Krzyżanowski (1872-1922) an der Schule der Schönen Künste/Szkoła Sztuk Pięknych w Warszawie. Er nahm an Ausstellungen teil, debütierte aber 1917 auch als Bühnenbildner an dem von der Schauspielerin und Theaterregisseurin Stanisława Wysocka (1877-1941) geleiteten experimentellen Studio-Theater/Teatr Studya. In der Spielzeit 1919/20 arbeitete er am Theater in Inowrocław, 1921 bis 1924 am Nationaltheater Toruń/Teatr Narodowy w Toruniu sowie von 1924 bis 1926 in Krakau am Juliusz-Słowacki-Theater/Teatr im. Juliusza Słowackiego w Krakowie. In Krakau lernte er den futuristischen Schriftsteller und Herausgeber der avantgardistischen Literaturzeitschrift Zwrotnica, Tadeusz Peiper (1891-1969), kennen, der Kontakt zum Kreis der polnischen Konstruktivisten um Szczuka und Strzemiński ebenso wie zu Kulturschaffenden in Frankreich, Italien, den Niederlanden und Deutschland pflegte. Im Verlag von Zwrotnica veröffentlichte Krassowski 1926 eine Broschüre zu einem neuen Konzept des kontinuierlichen Bühnenaufbaus, der „Wachsenden Szene/Scena narastająca“, bei der das bewusst sparsam gestaltete Bühnenbild im Laufe eines Theaterstücks um immer neue Elemente anwachsen sollte (Abb. 37).[117] Im selben Jahr stellte er seine Bühnenentwürfe in der 1925 gegründeten Krakauer Künstlergruppe Jednoróg/Das Einhorn (Cech Artystów Plastyków „Jednoróg”) aus.

Wie Walden auf Krassowski aufmerksam wurde, ist nicht bekannt. Vermutlich besaß er dessen Broschüre „Scena narastająca“, denn bereits im Juni 1926 veröffentlichte er zwei Abbildungen daraus[118] im Sonderheft „Theater“ der Sturm-Zeitschrift (Abb. 38, 39). In den folgenden Jahren wurde Krassowski vor allem für seine expressionistisch-kubistischen Bühnenbilder bekannt (Abb. 40). Seine Dekoration für das 1927 am Neuen Theater in Poznań/Teatr Nowy w Poznaniu aufgeführte Drama „Der Maskenschnitzer/Le sculpteur de masques“ (1908) von Fernand Crommelynck gilt als konsequentestes Beispiel für die Technik der „wachsenden Szene“ (Abb. 41).[119] Zwischen 1928 und 1939 war er als Bühnenbildner an Theatern in Bydgoszcz, Toruń, Częstochowa und Sosnowiec tätig. Während des Zweiten Weltkriegs blieb er in Warschau und arbeitete in einer Fabrik. 1945/46 war er Beauftragter des Bezirks Masuren für Kultur und Kunst in Olsztyn, arbeitete dann als Bühnenbildner an Theatern in Bielsko und Cieszyn und war schließlich von 1949 bis zu seinem Eintritt ins Rentenalter 1966 am Teatr Wybrzeże in Danzig tätig. Krassowski wird in der polnischen Theatergeschichte, so Głuchowska, zusammen mit dem Maler und Bühnenbildner Andrzej Pronaszko (1888-1961) und dem Bühnenbildner und Theaterregisseur Iwo Gall (1890-1959) zum Dreigestirn der modernen polnischen Bühnendekoration gezählt.[120]

[117] Feliks Krassowski: Scena narastająca. Zasady i projekty, Krakau: Zwrotnica, 1926

[119] Głuchowska 2012 (siehe Literatur), Seite 474

[120] Zur Biographie und Einschätzung von Krassowski vgl. Głuchowska 2012 (siehe Literatur), Seite 473 f. sowie Encyklopedia teatru polskiegohttp://www.encyklopediateatru.pl/osoby/15995/feliks-krassowski

Ebenso unbekannt ist, wie der Kontakt zwischen Walden und dem Maler und Grafiker Jesekiel David Kirszenbaum (1900-1954) zustande kam, der 1925 vom Weimarer Bauhaus nach Berlin wechselte und dem Walden im April 1927 eine große Einzelausstellung im Sturm mit Gemälden, Aquarellen und Zeichnungen gewährte (PDF 29). Allerdings gab es einige Berührungspunkte mit Walden: Kirszenbaum hatte am Bauhaus im Vorkurs bei Johannes Itten (1888-1967) zusammen mit dem Maler, Zeichner und Fotografen Paul Citroen (1896-1983) studiert, der 1917 in Berlin für Walden die Sturm-Kunstbuchhandlung eingerichtet hatte und im selben Jahr als Repräsentant des Sturm in die Niederlande gegangen war. Als das Bauhaus zum Jahreswechsel 1924/25 auf politischen Druck hin aufgelöst und nach Dessau verlegt wurde, war auch Citroen nach Berlin gegangen. Mit ihm blieb Kirszenbaum bis in die Dreißigerjahre in engem Kontakt. Außerdem verkehrte Kirszenbaum in Berlin in einem Kreis jüdischer Künstler, dem der aus der Ukraine stammende Maler Issachar Ber Ryback (1897-1935) und der mit Kirszenbaum befreundete Maler Felix Nussbaum (1904-1944 in Auschwitz ermordet) angehörten, der ab 1923 in Berlin an der Lewin-Funcke-Schule studierte. Kirszenbaum stand in dem Ruf, in seiner Kunst die jüdischen Bildmotive von Marc Chagall wiederzubeleben, den Walden schon 1913 im Ersten Deutschen Herbstsalon und im Folgejahr in einer überaus erfolgreichen Einzelausstellung präsentiert hatte. 1917 hatte Citroen in der Sturm‑Zeitschrift einen Essay über Chagall publiziert. Weiter gehörte Kirszenbaum mit seiner Herkunft aus dem ehemals russisch regierten Teil Polens natürlich zu dem Kreis der osteuropäischen Künstler, die Walden in dieser Zeit besonders förderte. Walden veröffentlichte in der Sturm-Zeitschrift nicht nur regelmäßig Anzeigen der Gesellschaft der Freunde des Neuen Russland, sondern reiste selbst 1927 aus Anlass des zehnten Jahrestages der Oktoberrevolution nach Moskau.[121] Nach der Rückkehr von seiner Reise, auf der er auch die podolische Kreisstadt Proskurow/Płoskirów (heute Chmelnyzkyj) besucht hatte, berichtete er in der September-Ausgabe des Sturm von den Segnungen des Bolschewismus.[122]

Kirszenbaum, der in seiner Sturm-Ausstellung unter der deutschen Schreibweise „Kirschenbaum“ auftrat, stammte aus dem neunzig Kilometer nordöstlich von Krakau gelegenen Staszów in Kongresspolen und war jüngstes Kind eines Rabbiners.[123] Als Jugendlicher hatte er sich selbst das Zeichnen beigebracht, gegen die religiösen Unterweisungen und den Wunsch des Vaters, aus ihm einen Rabbiner zu machen, rebelliert und war 1920 nach Deutschland emigriert, um der Rekrutierung zur polnischen Armee und dem Kriegseinsatz gegen Sowjetrussland zu entgehen. Er arbeitete drei Jahre als Bergarbeiter in Duisburg, muss aber auch künstlerisch tätig gewesen sein, denn 1923 vermittelte ihn der Kunsthistoriker August Hoff (1892-1971), später Direktor des Duisburger Kunstmuseums, zum Studium ans Bauhaus, wo er Kurse bei Kandinsky und Klee belegte. 

Kirszenbaums Werk der 1920er-Jahre ist aufgrund seiner späteren dramatischen Lebensumstände bis auf wenige Beispiele verloren gegangen. Aufschluss darüber geben nur rund ein Dutzend erhaltene freie künstlerische Arbeiten, drei Abbildungen im Katalog der Sturm-Ausstellung sowie eine Serie von gedruckten Illustrationen und Karikaturen für Buchpublikationen und Zeitschriften. Wohl 1925 entstanden Arbeiten im kubistischen Stil, darunter ein Selbstporträt, das auf Vorläufer von Chagall und Schlemmer aus den Zehnerjahren anschließt, und zwei Szenen aus dem jüdischen Leben.[124] 1923, also noch während seiner Zeit am Bauhaus, begann der Künstler mit einer Serie von Radierungen, die Motive aus der Synagoge zeigen und noch in jenem naturalistischen Stil gehalten sind, den er sich selbst beigebracht hatte.[125] Daran anschließend entstanden ab 1925 in Berlin die Radierung „Im Beth Hamedrasch“ (Abb. 42) und weitere Zeichnungen und Radierungen mit Motiven aus dem jüdischen Alltag. 1926 schuf Kirszenbaum Szenen und Charakterstudien, wie er sie in seiner Jugend in Staszów, einem Städtchen mit seinerzeit rund neuntausend Einwohnern und über der Hälfte jüdischer Bevölkerung, gesehen hat: einen blinden „Geiger“ (Abb. 43), einen „Bauer mit Gänsen und Schwein“ (Abb. 44) und einen „Wasserträger“ (Abb. 45), welche jedoch erst in späteren Jahren in dem Berliner Kulturmagazin Der Querschnitt als Illustrationen erschienen. Das einzige aus der frühen Zeit erhaltene Gemälde mit dieser Thematik, „Der Geiger im Stetl“ (Abb. 46), erinnert an ein 1912/13 entstandenes kubistisches Bildmotiv von Chagall, „Le violiniste“, das noch 1917 als Holz- oder Linolschnitt in der Sturm-Zeitschrift erschien.[126] Es reflektiert jedoch ebenfalls Kirszenbaums Jugenderinnerungen und bereitet mit seinem spätimpressionistischen Stil seine Arbeiten der Dreißiger- und Vierzigerjahre vor. 

[121] Brühl 1983 (siehe Literatur), Seite 71, 77

[122] „ … hier ist kein Land der Zerstörung. Die USSR ist ein Land des Aufbaus. Ein Land der Arbeit. Und ein Land der Sehnsucht nach Menschenglück.“ Herwarth Walden: USSR 1927, in: Der Sturm, 18. Jahrgang, 6. Heft, Berlin, September 1927, Seite 73-75, online: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1927_1928/0082/image

[123] Kirszenbaum ist bislang nicht ausreichend für den Kreis der polnischen Sturm-Künstler gewürdigt worden, da seine Biografie und sein Werk erst nach Erscheinen der Arbeiten von Marina Dmitrieva und Lidia Głuchowska in einer ersten großen Monografie rekonstruiert wurden: J.D. Kirszenbaum (1900-1954). The Lost Generation. From Staszów to Paris, via Weimar, Berlin and Rio de Janeiro / La génération perdue. De Staszów à Paris, via Weimar, Berlin et Rio de Janeiro, herausgegeben von Nathan Diament, Paris 2013. Seitdem ist weitere Literatur über den Künstler erschienen. Vergleiche zusammenfassend und versehen mit einer umfangreichen digitalen Ausstellung auf diesem Portal Axel Feuß: Jesekiel David Kirszenbaum (1900-1954) – Ein Bauhaus-Schüler (2019), https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/jesekiel-david-kirszenbaum-1900-1954-ein-bauhaus-schueler; dort weitere Literatur.

[124] Alle erwähnten Werke sind, soweit nicht anders angegeben, in der oben erwähnten digitalen Ausstellung auf diesem Portal abgebildet.

[125] Beide Werke im Besitz des Leo Baeck Institute in New York, https://www.lbi.org/artcatalog/search?q=Kirszenbaum. Die dort angegebenen Titel, „Paul von Jecheskiel“, bezeichnen wohl in Wirklichkeit den ursprünglichen Besitzerwechsel (also: von Jecheskiel an Paul geschenkt).

[126] Marc Chagall: Le violiniste, 1912/13, Stedelijk Museum, Amsterdam, https://www.stedelijk.nl/en/collection/753-marc-chagall-le-violoniste; ein Holz- oder Linolschnitt von Chagall mit einem Geiger vor dem Stetl noch 1917 abgebildet in: Der Sturm, 8. Jahrgang, 2. Heft, Berlin, Mai 1917, Seite 25, online: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1917_1918/0031/image

So gut wie alle 1927 in der Sturm-Ausstellung gezeigten Arbeiten gelten heute als verschollen. Lediglich die Katalognummern 18: „Bauer mit Schwein“, 53: „Wasserträgerpaar“ und 65: „Beth hamidrasch“ sowie einige Nummern mit Geigern, Blinden und bettelnden Musikern lassen sich den erhaltenen Werken direkt oder thematisch zuordnen. In diese Reihe mit folkloristischen Motiven gehört auch die im Katalog abgebildete Tuschezeichnung Nr. 13: „Vater und Sohn im Schnee“. Das abgebildete Gemälde „Disput“ greift mit dem am Tisch vor seinen Schriften sitzenden Rabbi erneut ein Motiv von Chagall auf, und zwar dessen 1912 entstandenes Gemälde „Der Rabbiner (Die Prise)“. Ein motivgleiches Aquarell mit dem Titel „On dit“ schuf Chagall 1921. Es erschien in der Sturm‑Zeitschrift als Vierfarbendruck[127] und wurde seitdem vom Sturm-Verlag durchgehend bis in die 1930er-Jahre als Kunstdruck vertrieben. Kirszenbaums dritte im Katalog abgebildete Arbeit, das Gemälde „Chazoth“ mit dem in den Umrissformen stark vereinfachten Porträt eines Rabbi während einer bestimmten Gebetszeit, erinnert an Einzelporträts, die der Maler erst in den Vierzigerjahren wieder aufnahm. Die Titel der übrigen Arbeiten deuten bis auf wenige Ausnahmen auf Volkstypen und alltägliche oder religiöse Genremotive, wie der Künstler sie aus dem jüdischen Leben in Staszów kannte. 

Auch die zeitgenössische Kritik sah einen deutlichen Einfluss von Chagall auf Kirszenbaums Arbeiten. Ernst Collin (1886-1942 in Auschwitz ermordet), einer der Schriftleiter der linksliberalen Berliner Volks‑Zeitung, schrieb, die Motive seiner Arbeiten würden dreierlei verraten: „Erstens, dass er Russe, zweitens, dass er Jude ist, und drittens ein Jünger seines Landsmannes und Glaubensgenossen Marc Chagall. Die Seele des russischen Gettos ist in seinen Blättern. Nicht müde wird er, von alten bärtigen Juden, die den Talmud lieben, zu erzählen. Im nervösen Strich seiner Zeichnungen, in der farbigen Andeutung bei den Aquarellen zeigt sich – trotz aller Gebundenheit an Chagall – doch auch die Selbständigkeit eines überlegten stilistischen Ausdrucks.“[128]

Neben seiner freien künstlerischen Arbeit zeichnete Kirszenbaum (Abb. 47) zwischen 1926 und 1931 Karikaturen für die in Berlin erscheinende Satire-Zeitschrift Ulk, den Querschnitt und das Münchner Unterhaltungsblatt Jugend. 1929 war er auf der Jubiläumsausstellung zum zehnten Jahrestag der Novembergruppe vertreten. 1930 heiratete er Helma Joachim (1904-1944 in Auschwitz ermordet), die als Sekretärin für die Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger arbeitete. Spätestens zu dieser Zeit verkehrte Kirszenbaum in radikal linken Kreisen. Er wurde Mitglied der Assoziation revolutionärer bildender Künstler Deutschlands (Asso), trat vermutlich der KPD bei, zeigte Werke in der KPD-nahen Ausstellung Frauen in Not und veröffentlichte Zeichnungen in kommunistischen Magazinen und Zeitungen. 1933 flohen er und seine Frau über Nacht vor den Nationalsozialisten nach Paris und ließen ihren gesamten Besitz in Berlin zurück.

Kirszenbaum fand schnell Anschluss sowohl bei den französischen als auch bei den aus ganz Europa zugewanderten Künstlerinnen und Künstlern der École de Paris,[129] beteiligte sich an Gruppen- und zeigte Einzelausstellungen. Künstlerisch konzentrierte er sich auf Volksszenen aus dem Ostjudentum und verlegte in seinen Gemälden biblische Überlieferungen wie etwa den Einzug Jesu in Jerusalem nach Staszów, der Stadt seiner Kindheit. Stilistisch wechselte er zwischen einem späten Impressionismus und farbigen Szenerien nach dem Vorbild der Gruppe Fauves. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde seine Frau nahe Paris interniert, während er in ein Lager nach Südfrankreich kam. Zur Jahreswende 1943/44 wurde Helma Kirszenbaum aus dem Sammellager Drancy ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert und ermordet. Ihr Mann überlebte das Kriegsende in einem Versteck in Südfrankreich. Nach Paris zurückgekehrt, fand er neuen Lebensmut und künstlerische Betätigung mit Unterstützung der Baronin Alix de Rothschild, unternahm Reisen in die Mittelmeerländer und nach Brasilien. Kirszenbaum starb 1954 an einer Krebserkrankung.

[127] Der Sturm, 12. Jahrgang, 12. Heft, Dezember 1921, Seite 209, online: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1921/0261/image

[129] Vergleiche Nieszawer 2015 (siehe Literatur), Seite 177 f. / 428 f.

Die bislang letzte bekannte Ausstellung der Sturm-Galerie fand im April 1930 mit einer Einzelausstellung der aus Łódź stammenden Malerin und Textildesignerin Lena Pillico/Pilichowska (1884-1947) statt. Geboren als Salomea Lena Goldmann, heiratete sie den nach Studienaufenthalten in München und Paris wieder in Łódź lebenden Genremaler Leopold/Lejb Pilichowski (1869-1933)[130] und ging 1914 bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit ihm und ihren vier Kindern nach London. Sie studierte an der Slade School of Fine Art, der Kunstschule des University College London. Zwischen 1923 und 1927 nahm sie an den jüdischen Ausstellungen der Whitechapel Gallery im Londoner East End und an den Ausstellungen der Seven and Five Society teil, welcher in dieser Zeit unter anderem Ben Nicholson (1894-1982) angehörte. Nachdem ihr Ehemann 1926 Vorsitzender der Ben Uri Literary and Art Society geworden war, arrangierte sie im Folgejahr für diese Gesellschaft, die der Unterstützung nach Großbritannien immigrierter jüdischer Künstler gewidmet war, eine Ausstellung in ihrem Atelier im wohlhabenden Londoner Bezirk St. John’s Wood. Ihre Malerei umfasste Landschaften, Straßenszenen und Porträts in einem spätimpressionistischen Stil mit farbigen Akzenten (Abb. 48). Ihre Textilgestaltungen zeigten figurative und abstrakte Motive in starker, phantasievoller Farbigkeit. Auf ihrer Berliner Ausstellung präsentierte sie fünfundfünfzig abstrakte Kompositionen und Malereien auf Wandteppichen aus Samt und textilen Tischdekorationen.[131] Lena Pilichowska, genannt Madame Pillico, starb in Oxford.[132]

Zur gleichen Zeit, im März/April 1930, veröffentlichte Walden in der Sturm-Zeitschrift ein Sonderheft mit dem Titel „Sowjetunion“, in dem alle dreizehn Beiträge von ihm stammten und Berichte über seine Reisen und Erlebnisse enthielten. Im Januar 1931 wurde die finanzielle Situation der Zeitschrift so prekär, dass Walden Wertgegenstände des Sturm verpfänden, seine Kunstsammlung mit Werken von Klee und Chagall zum Kauf anbieten und für sich selbst eine Anstellung suchen musste. Diese fand er schließlich bei der sowjetischen Handelsgesellschaft in Berlin, für die er Messe-Ausstellungen in Dresden und Leipzig organisierte. Im März 1932 erschien das letzte Heft der Sturm-Zeitschrift. Im selben Jahr emigrierte er mit seiner vierten Ehefrau, Ellen Walden, nach Moskau. Er schrieb Theaterstücke und Romane und war von 1936 bis 1939 für eine Emigrantenzeitschrift tätig, die redaktionell von Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger und Willi Bredel, dem späteren Präsidenten der Akademie der Künste der DDR, geleitet wurde. Für sie rezensierte er in Deutschland erschienene Bücher und schrieb Glossen über den Nationalsozialismus. Für einen Schulbuchverlag redigierte er Werke deutscher und russischer Literatur. Im März 1941 wurde er in Moskau verhaftet und starb am 31. Oktober im Alter von dreiundsechzig Jahren in Saratow an der Wolga in einem Gefängnis.[133]


Axel Feuß, Mai 2020

 

Literatur:

Nadine Nieszawer und andere: Artistes juifs de l’École de Paris 1905-1939 / Jewish Artists of the School of Paris, Paris 2015, online: http://ecoledeparis.org/wp-content/uploads/2018/12/1.pdf

Lidia Głuchowska: Artyści polscy w orbicie „Der Sturm”. Historia i historyzacje, in: Qu/art. Kwartalnik Instytutu Historii Sztuki Uniwersytetu Wrocławskiego, Wrocław, Jg. 2013, Nr. 3 (29), Seite 3-30, online: http://quart.uni.wroc.pl/archiwum/2013/29/quart29_gluchowska.pdf

Lidia Głuchowska: Polnische Künstler und Der Sturm: Enthusiasten und Polemiker. Nationale und transnationale Narrative des postkolonialen Avantgarde- und Modernediskurses, in: Der Sturm. Band II: Aufsätze, herausgegeben von Andrea von Hülsen-Esch und Gerhard Finckh, Ausstellungs-Katalog Von der Heydt-Museum, Wuppertal 2012, Seite 455-482 

Inna Goudz: Herwarth Walden und die jüdischen Künstler der Avantgarde, in: Der Sturm. Band II: Aufsätze, herausgegeben von Andrea von Hülsen-Esch und Gerhard Finckh, Ausstellungs-Katalog Von der Heydt-Museum, Wuppertal 2012, Seite 515-540

Lidia Głuchowska: Avantgarde. Berlin – Poznań, in: My, berlińczycy! Wir Berliner! Geschichte einer deutsch-polnischen Nachbarschaft, herausgegeben von Robert Traba, Leipzig 2009, Seite 160-196

Marina Dmitrieva: Polnische Künstler und Der Sturm, in: Grenzüberschreitungen. Deutsche, Polen und Juden zwischen den Kulturen (1918-1939), herausgegeben von Marion Brandt (= Colloquia Baltica 6. Beiträge zur Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas), München 2006, Seite 45-64

Marek Bartelik: Early Polish Modern Art. Unity in Multiplicity, Manchester, New York 2005

Volker Pirsich: Der Sturm. Eine Monographie (Dissertation Universität Hamburg, 1984), Herzberg 1985

Georg Brühl: Herwarth Walden und „Der Sturm“ (Leipzig 1983), Köln 1983

Nell Walden: Herwarth Walden. Ein Lebensbild, Berlin, Mainz 1963, Download: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/walden1963

Nell Walden: Der Sturm. Ein Erinnerungsbuch an Herwarth Walden und die Künstler aus dem Sturmkreis, Baden-Baden 1954, Download: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/walden1954

 

Online:

Digitale Sammlung der Sturm-Kataloge im Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München sowie die begleitende Dokumentation: https://www.zikg.eu/bibliothek/studienzentrum/digitalisierung/kataloge-sturm

Themenportal Herwarth Walden und DER STURM auf arthistoricum.net,https://www.arthistoricum.net/themen/portale/sturm/

Der Sturm auf Monoskophttps://monoskop.org/Der_Sturm

Die digitalisierten Ausgaben der Zeitschrift Der Sturm auf: Heidelberger historische Bestände – digitalhttps://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm

Die digitalisierten Ausgaben der Zeitschrift Der Sturm auf: Blue Mountain Projecthttps://bluemountain.princeton.edu/bluemtn/cgi-bin/bluemtn?a=cl&cl=CL1&sp=bmtnabg&e=-------en-20--1--txt-txIN-------

(Sämtliche hier und in den Anmerkungen zitierten Links wurden zuletzt im Mai 2020 aufgerufen.)

[130] Vergleiche Axel Feuß: Pilichowski, Leopold, in der Encyclopaedia Polonica auf diesem Portal, https://www.porta-polonica.de/de/lexikon/pilichowski-leopold

[131] Brühl 1983 (siehe Literatur), Seite 264

[132] Zur Biografie von Lena Pillico vergleiche die Webseite Ben Uri Collectionhttps://www.benuricollection.org.uk/intermediate.php?artistid=121

[133] Brühl 1983 (siehe Literatur), Seite 81-92