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„Der Sturm“ und seine polnischen Künstler 1910–1930

Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)

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Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)
Titelseite von „Der Sturm“, 13. Jahrgang, 2. Heft, Berlin 1922, mit einer Zeichnung von Louis Marcoussis (Ludwik Kazimierz Władysław Markus, 1878-1941)

Der Chorleiter und Komponist blieb Walden und dem Sturm bis in den Anfang der 1930er-Jahre verbunden. 1931 gehörte er zu den Schirmherren der zweiten Vagabunden-Kunstausstellung, die der Sturm unter dem Protektorat von Walden und anderen berühmten Kulturschaffenden wie dem Kunstkritiker Adolf Behne, den Architekten Loos und Poelzig, den Schriftstellern Roda-Roda und Alfred Richard Meyer, dem Theaterintendanten Erwin Piscator, den Malern Robert Storm Petersen, Sascha Wiederhold und Hugó Scheiber sowie der Schauspielerin und Chansonnière Rosa Valetti veranstaltete (Abb. 35). Die Bruderschaft der Vagabunden setzte sich, gegründet 1927 in Stuttgart von dem ehemaligen Matrosen und Gärtner Gregor Gog (1891–1945), als „Reservearmee des kämpfenden Proletariats“ für die Rechte der Obdachlosen ein und stand der Freien Arbeiter-Union Deutschlands nahe. Eine zur Bruderschaft gehörende Künstlergruppe organisierte Ausstellungen und gab Grafik-Mappen heraus.[110] Die Ziele der Bruderschaft, die 1933 von den Nationalsozialisten zerschlagen wurde, standen zweifellos im Einklang mit den kommunistischen Bestrebungen von Walden und Rosebery d’Arguto. Im Rahmen einer Nachtvorstellung zeigte der Sturm unter der Leitung von Gregor Gog den 1930 unter der Regie von Fritz Weiß (*1904) produzierten österreichischen Spielfilm „Der Vagabund“, in dem Gog selbst mitspielte. Im Anschluss wurde aus dem Band „Stempellieder. Gedichte eines Erwerbslosen“ von Franz Zorn zitiert, der als Sonderheft des Sturm erschienen war (Abb. 36).

Rosebery d’Arguto wurde im Juni 1933 von den Nationalsozialisten wegen seiner politischen Tätigkeit verhaftet, konnte die Gesangsgemeinschaft nach Protesten des Chors aber noch bis Ende 1935 leiten, bis die Reichsmusikkammer dem Chorleiter Berufsverbot erteilte. 1938 wurde er im Zuge der „Polenaktion“ über die polnische Grenze abgeschoben, ging nach Warschau und arbeitete als Gesangslehrer. Nachdem er im Juli 1939 mit einer Sondergenehmigung zur Regelung persönlicher Angelegenheiten nach Berlin zurückgekehrt war, wurde er im September verhaftet und in das KZ Sachsenhausen eingeliefert. Kommunistische Mithäftlinge erkannten in ihm den berühmten Arbeiterchor-Dirigenten. 1940 gründete er einen jüdischen Gefangenenchor, für den er Lieder arrangierte und mit neuen Texten versah. Im Oktober 1942 wurde er in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert und im Frühjahr 1943 in einem Außenlager ermordet.[111]

Die Sturmbühne bestand als Verein von September 1917 bis 1921 und verstand sich nach Waldens Konzept als expressionistisches Theater. Die künstlerische Leitung hatte Lothar Schreyer. Nach seiner Auffassung kam es darauf an, das herkömmliche Theater als „Unterhaltungsmittel“ zu vergessen. Es sei nicht wichtig, „eine Dichtung darzustellen“, sondern „eine Vision zu gestalten“.[112] Eine erste Aufführung des Antikriegsstücks „Seeschlacht“ von dem expressionistischen Schriftsteller Reinhard Goering (1887-1936) war zwar im März 1918 verboten worden, fand dann aber doch, sogar in einer zweiten Aufführung vor Abgeordneten des Reichstags, statt. Die erste offizielle Vorstellung vor Vereinsmitgliedern stand als „Theater der Expressionisten“ im Oktober 1918 auf dem Programm.[113]Walden fühlte sich, so Brühl, sein ganzes Leben hindurch dem Theater verbunden.[114] Er selbst hatte Theaterstücke geschrieben, darunter die Pantomime „Die vier Toten der Fiametta“, die von 1911 bis in die Mitte der Zwanzigerjahre von Theatern im In- und Ausland aufgeführt wurde. 

Allgemein bediente sich das expressionistische Theater einer „extremen Gestik und einer Stimmenführung, die sich ständig zu crescendoartigen Schreien steigerte, um dann wieder in absolutes Schweigen zurückzusinken.“ Schreyer ließ seine Darsteller auf der Sturmbühne entweder nackt oder mit kubistischen Masken auftreten, „um das ganz Elementare oder das ganz Konstruierte, aber auf keinen Fall das Gewohnte auf die Bühne zu bringen. Manchmal sah man lediglich drei Meter hohe, mit Masken versehene Puppen, die von ihren Trägern von innen her bewegt wurden“ und sich in einer abstrakten „Klangsprache“ artikulierten. Die Bühnenbilder bestanden aus aufgetürmten Kuben, abstrakten Flächen, Treppen, Maschinenteilen oder apparateähnlichen Elementen.[115] Dabei darf nicht vergessen werden, dass die experimentelle Bühnenkunst in den Zehner- und Zwanzigerjahren eine enge Verbindung zur bildenden Kunst, zum Kunstgewerbe und zur Architektur ihrer Zeit pflegte. Die Dada-Bewegung war 1916 überhaupt erst auf Grundlage der exzentrischen Bühnenaufführungen im Zürcher Cabaret Voltaire entstanden. In Russland schufen Künstlerinnen und Künstler sowohl Kostüm- und Bühnenentwürfe für das Volkstheater als auch für die revolutionären Agitprop-Aufführungen. 

1920 fand in der Sturm-Ausstellung von Sonia Delaunay-Terk ein Theaterstück statt. Walden zeigte 1922 in der Sturm-Zeitschrift Entwürfe von Michail Larionow für Kostüme und einen Bühnenvorhang, Alexandra Exter 1927 in ihrer Einzelausstellung ausschließlich Kostüm- und Bühnenentwürfe. Das Programm der Sturmbühne endete zwar 1921 mit dem Wechsel von Schreyer ans Bauhaus. Walden setzte sich aber weiterhin für das moderne Theater ein. 1924 nahmen er und zahlreiche Sturm-Künstler wie Blümner, Schreyer, Schwitters und Léger in Wien an der Internationalen Ausstellung Neuer Theatertechnik teil, die der Architekt und Bühnenbildner Friedrich Kiesler (1890-1965) anlässlich des Musik- und Theaterfestes der Stadt Wien im Wiener Konzerthaus veranstaltete.[116] Im begleitenden Katalog schrieb Walden einen Beitrag über das „Theater“. Im Juni 1926 gab er in der Sturm-Zeitschrift ein Sonderheft „Theater“ heraus, in dem er einen ähnlichen Textbeitrag veröffentlichte und Entwürfe für Kostüme, Figurinen und Bühnenbilder von Adolf Küthe, Sandro Malmquist, Larionow, Wiederhold, aus dem Staatlichen Jüdischen Kammertheater in Moskau sowie von dem polnischen Maler und Bühnenbildner Feliks Krassowski abbildete.

[110] Im Internet finden sich zahlreiche Hinweise zur Bruderschaft der Vagabunden.

[111] Vergleiche Axel Feuß: Rosebery d’Arguto, in der Encyclopaedia Polonica auf diesem Portal, https://www.porta-polonica.de/de/lexikon/rosebery-darguto. Dort weitere Literatur.

[112] Lothar Schreyer in: Expressionismus. Die Kunstwende, herausgegeben von Herwarth Walden, Berlin 1918, Seite 90

[113] Erste Aufführung der Sturmbühne, in: Der Sturm, 9. Jahrgang, 6. Heft, Berlin 1918, Seite 88, online: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1918_1919/0096

[114] Brühl 1983 (siehe Literatur), Seite 119

[115] Richard Hamann / Jost Hermand: Expressionismus = Epochen deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart, Band 5, Frankfurt am Main 1977, Seite 128 f.

[116] Vergleiche das Kapitel „Der Sturm“ und die Bühne bei Brühl 1983 (siehe Literatur), Seite119-130