„MRR“: Sein Leben
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Interview mit Gerhard Gnauck im SWR
Interview mit Gerhard Gnauck zum Gedenken an Marcel Reich-Ranicki
In Gedenken an Marcel Reich-Ranicki im Radio "Trójka" (polnisch)
Marcel Reich-Ranicki - Hörspiel von "COSMO Radio po polsku" auf Deutsch
Marcel Reich-Ranicki im Interview mit Joanna Skibińska
Marcel Reich-Ranicki auf Polnisch! Interview mit Joanna Skibińska 2000
Die Reichs blieben bei den Gawins, bis im Herbst 1944 die Rote Armee diese Stadtviertel eroberte. Jetzt mussten die Reichs nicht mehr um ihr Leben fürchten. Stattdessen wollten sie sich dem polnischen Staat – auch wenn er 1939 wieder vom Erdboden verschwunden war – nützlich machen. Sie wanderten Richtung Lublin; dort wurde gerade die neue, kommunistisch dominierte Regierung zusammengestellt. Auch die neuen Sicherheitsorgane wurden dort gebildet. Die Reichs fanden Verwendung beim „Ressort (später: Ministerium) für Öffentliche Sicherheit“ (MBP). Zunächst als Übersetzer, die vor allem für die Militärzensur tätig waren, also für die Überwachung des Briefverkehrs.
Über die Monate der Reichs in Lublin ist nichts bekannt. Erst für Anfang Februar 1945 findet sich in den (erhaltenen) Akten des Sicherheitsministeriums eine neue Spur: Marceli Reich wurde als Chef einer „Operationsgruppe“ des Ministeriums nach Oberschlesien delegiert. Dort sollte er nach eigenen Angaben die Zensur organisieren. Von dort wurde er bald in die Hauptstadt Warschau versetzt. Nach fleißiger Arbeit im MBP stand Anfang 1946 eine weitere, brisante Entsendung an: nach Berlin.
Marceli Reich erwähnt in seiner Autobiografie nur mit einem Satz, worin seine Arbeit dort bestand, und schreibt ansonsten viel über das Theaterleben und seine Rückkehr in die Stadt seiner Jugend. Auch hier helfen polnische Aktenbestände weiter: Reich, damals im Rang eines Leutnants, war offiziell beim polnischen „Büro für Restitution und Kriegsentschädigung“ (BRiOW) beschäftigt. Er lief kreuz und quer durch Berlin, um von den deutschen Besatzern geraubte Güter und Industrieanlagen aufzuspüren und nach Polen zurückzuführen. Das Büro war in der Schlüterstraße 42 in Charlottenburg untergebracht, im Gebäude der Polnischen Militärmission.
Allerdings legen Dokumente in den Akten des Sicherheitsministeriums, die heute in der Behörde IPN lagern, nahe, dass Reich eine weitere, inoffizielle Aufgabe hatte. Diese „Berichte“, kurze Charakterisierungen, die oft Denunziationen glichen, hat ein Mann im Büro in Berlin über Reichs engste Mitarbeiter geschrieben. Unter jedem Bericht (polnisch: raport) steht der Deckname „Platon“. Viele Details lassen vermuten, dass es Marceli Reich war, der hier seine Kollegen bespitzelte. Jahrzehnte später weigerte sich Reich-Ranicki kategorisch, meine mündlich und schriftlich gestellten Anfragen zu diesem Thema zu beantworten.[3]
Die Monate in Berlin haben in Reichs Erinnerung tiefe Spuren hinterlassen. Die 1958 geschriebene Erzählung „Eine sehr sentimentale Geschichte“ zeugt davon: Sie ist der zeitlebens einzige literarische Text Reich-Ranickis. Er beschreibt darin, wie ein junger polnischer Leutnant nach dem Krieg in Berlin einem großen Wagen mit deutschem Chauffeur entsteigt, um ins Deutsche Theater zu gehen. Der Leutnant sieht „Hamlet“. Weiter heißt es:
„Nach der Vorstellung will er allein sein. Man spielt nämlich ein Stück, das ihn immer sehr aufregt. Es ist die Geschichte eines jungen Intellektuellen, der das Pech hat, in einem totalitären Staat zu leben, sich gegen seine Umwelt aufbäumt und zerrieben wird. Es ist ein vorbildlicher Polizeistaat – alle werden von allen ausspioniert.“[4]