„MRR“: Sein Leben
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Interview mit Gerhard Gnauck im SWR
Interview mit Gerhard Gnauck zum Gedenken an Marcel Reich-Ranicki
In Gedenken an Marcel Reich-Ranicki im Radio "Trójka" (polnisch)
Marcel Reich-Ranicki - Hörspiel von "COSMO Radio po polsku" auf Deutsch
Marcel Reich-Ranicki im Interview mit Joanna Skibińska
Marcel Reich-Ranicki auf Polnisch! Interview mit Joanna Skibińska 2000
Zu Anfang ein paar Sätze über Marcel Reich-Ranicki.
„MRR war/ist der einflussreichste Literaturkritiker unserer Zeit, noch bedeutender als Bernard Pivot in Frankreich.“
„MRR hat es zum Fernsehstar, Comic-Helden und Werbeträger gebracht.“
„MRR ist eine Ikone des Feuilletons.“ (Bundeskanzlerin Angela Merkel)
Als ich mir vornahm, ein Buch über ihn zu schreiben, bekam ich weitere Sätze zu hören:
„Sie wollen über Reich-Ranicki schreiben?! Der trägt ja bereits den Heiligenschein.“ (Das sagte ein deutscher Verleger, der am Ende entschied, mein Buch lieber nicht zu drucken.)
„Reich-Ranicki?? Wenn der stirbt, fährt er direkt in den Himmel.“ (Ein anderer deutscher Verleger, der am Ende ebenfalls entschied, mein Buch lieber nicht zu drucken.)
„Reich-Ranicki? Seien Sie vorsichtig. Der ist Showman und Stasi-Mann in einem.“ (Eine polnische Historikerin.)
Am Anfang war Marceli Reich. Ein Junge dieses Namens wurde am 2. Juni 1920 in der mittelgroßen Stadt Włocławek an der Weichsel geboren. Es waren bewegte Zeiten: Das lange geteilte Polen war gerade erst wiedergegründet worden; auch Włocławek, bis zum Ersten Weltkrieg zum Zarenreich gehörig, war somit befreit. Aber der Frieden währte nicht lange: im Sommer 1920 war die Rote Armee bereits auf dem Weg nach Westen. Sie stand mitten in Polen und wollte in wenigen Wochen als Vorhut der Weltrevolution Berlin erreichen. Ein Kavallerie-Korps stand auf dem östlichen Weichselufer an der Brücke, die in die Innenstadt von Włocławek hinüberführte. Wenn es den Reitertruppen gelungen wäre, hier über den Strom zu kommen... wäre die Geschichte Europas vermutlich anders verlaufen.
Die Brücke wurde im letzten Augenblick gesprengt, und das Leben der jüdischen Familie Reich, die für alle Fälle aus der Stadt geflohen war, verlief weiterhin in friedlichen Bahnen. Der fromme Vater war Unternehmer von Beruf. Er sprach Polnisch, Russisch, Jiddisch und Deutsch; die Mutter dagegen, die sich der deutschen Kultur verbunden fühlte, beherrschte das Deutsche sehr gut, das Polnische mangelhaft. Aus Reich-Ranickis späterer Autobiografie[1] erfahren wir nicht, welches die „Geschäftssprache“ der Familie war. Reich-Ranicki gab mir folgende Auskunft: „Die Geschäftssprachen waren zwei: Polnisch und Deutsch. Meine Mutter und mein Vater haben, wenn die Kinder etwas nicht verstehen sollten, deutsch gesprochen. Wir konnten besser polnisch als deutsch, damals.“[2] Marceli hatte zwei ältere Geschwister: Gerda und Herbert Aleksander.
[1] Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben. Stuttgart 1999
[2] Gerhard Gnauck: Wolke und Weide. Marcel Reich-Ranickis polnische Jahre. Stuttgart 2009, S. 27 (polnische Ausgabe: Marcel Reich-Ranicki. Polskie lata. Z przedmową Normana Daviesa. Warszawa 2009)
1929, von wirtschaftlichem Misserfolg geplagt, siedelte die Familie zu Verwandten nach Berlin über. Dort besuchte Marceli das Fichte-Gymnasium und begann eine Lehre (die Aufnahme eines Studiums war ihm wegen seiner jüdischen Herkunft verweigert worden). Die Eltern und der Bruder zogen bereits Mitte der dreißiger Jahre zurück nach Polen: nach Warschau, wo Herbert Aleksander eine Zahnarztpraxis eröffnete. Gerda gelang es, mit ihrem Mann nach England auszuwandern. Marceli blieb in Berlin – und wurde Ende Oktober 1938 im Rahmen der sogenannten „Polenaktion“, die etwa 17.000 polnische Juden umfasste, von den deutschen Behörden gegen seinen Willen nach Polen abgeschoben.
Der 18 Jahre alte Marceli Reich schlug sich nach Warschau durch und wohnte fortan bei seinen Eltern. Diese Zeit hat er später als wenig glücklich bezeichnet. Kaum jemand ahnte jedoch, was darauf folgen würde: Ein Jahr später besetzten deutsche Truppen Polen. Der junge, arbeitslose Reich wurde Zeuge des Luftkriegs und dann auch der Misshandlungen der Zivilbevölkerung, insbesondere des jüdischen Teils. Die Familie blieb in Warschau; als das Ghetto errichtet wurde, war die Złota-Straße, in der sie wohnte, die erste Straße außerhalb der Ghettomauer. (Die Wohnung im Haus Nr. 43 lag zwischen dem heutigen Kulturpalast und dem Zentralbahnhof; die Häuserzeile ist nicht erhalten). So wurde die Familie ins Ghetto umgesiedelt.
Über die erste „Volkszählung“ der jüdischen Bevölkerung, an der er mitwirkte, gelangte der junge Reich in Kontakt mit dem „Judenrat“, der jüdischen Verwaltung des Ghettos, die natürlich von den deutschen Besatzungsbehörden abhängig war. Dort wurde er Übersetzer und leitete am Ende sogar das „Übersetzungs- und Korrespondenzbüro“. Zugleich schrieb er zum ersten Mal in seinem Leben Kritiken: Konzertkritiken. Er schrieb sie unter dem Pseudonym „Wiktor Hart“ für die „Gazeta Żydowska” (Jüdische Zeitung), die im Ghetto erschien. Er war Zeuge und Übersetzer, als SS-Führer im Judenrat den Befehl zur Liquidierung des Ghettos verkündeten.
Der Dichter Antoni Marianowicz, ebenfalls Insasse des Ghettos, schrieb später, er habe Reich in jener Zeit mit der Mütze der (jüdischen) Ghetto-Polizei herumlaufen sehen. Gesichert ist lediglich die Arbeit im Judenrat; diese ist Reich später, im kommunistischen Polen, als „Kollaboration“ vorgehalten worden, wofür er sich immer wieder rechtfertigen musste. Dass solche Vorwürfe der tragischen Lage der Juden im besetzten Polen nicht gerecht werden, ist klar.
Anfang 1943, als schon viele Menschen mit unbekanntem Ziel (Vernichtungslager Treblinka) abtransportiert worden waren, darunter Reichs Eltern, fasste Marceli den Entschluss, zu fliehen. Er heiratete Teofila („Tosia“) Langnas, die er 1940 im Ghetto kennengelernt hatte, und beide flohen auf die – wie es in Polen hieß – „arische Seite“ der Mauer. Dort begann für beide eine Odyssee von Versteck zu Versteck. Die Lage besserte sich, als erst Marceli und dann auch Tosia bei der Familie des Setzers Bolek Gawin Unterschlupf fanden. In diesem Zwei-Zimmer-Häuschen am Stadtrand, in der Straße Osada Ojców, hat Reich seine „Wirtsleute“, wie er später schrieb, mit literarischen Nacherzählungen unterhalten. Barbara Rochowska, die Tochter der Familie, erinnert sich bis heute lebhaft an die Reichs; 2006 verlieh die Gedenkstätte Yad Vashem Bolek und Eugenia Gawin posthum die Medaille „Gerechte unter den Völkern der Welt“.
Die Reichs blieben bei den Gawins, bis im Herbst 1944 die Rote Armee diese Stadtviertel eroberte. Jetzt mussten die Reichs nicht mehr um ihr Leben fürchten. Stattdessen wollten sie sich dem polnischen Staat – auch wenn er 1939 wieder vom Erdboden verschwunden war – nützlich machen. Sie wanderten Richtung Lublin; dort wurde gerade die neue, kommunistisch dominierte Regierung zusammengestellt. Auch die neuen Sicherheitsorgane wurden dort gebildet. Die Reichs fanden Verwendung beim „Ressort (später: Ministerium) für Öffentliche Sicherheit“ (MBP). Zunächst als Übersetzer, die vor allem für die Militärzensur tätig waren, also für die Überwachung des Briefverkehrs.
Über die Monate der Reichs in Lublin ist nichts bekannt. Erst für Anfang Februar 1945 findet sich in den (erhaltenen) Akten des Sicherheitsministeriums eine neue Spur: Marceli Reich wurde als Chef einer „Operationsgruppe“ des Ministeriums nach Oberschlesien delegiert. Dort sollte er nach eigenen Angaben die Zensur organisieren. Von dort wurde er bald in die Hauptstadt Warschau versetzt. Nach fleißiger Arbeit im MBP stand Anfang 1946 eine weitere, brisante Entsendung an: nach Berlin.
Marceli Reich erwähnt in seiner Autobiografie nur mit einem Satz, worin seine Arbeit dort bestand, und schreibt ansonsten viel über das Theaterleben und seine Rückkehr in die Stadt seiner Jugend. Auch hier helfen polnische Aktenbestände weiter: Reich, damals im Rang eines Leutnants, war offiziell beim polnischen „Büro für Restitution und Kriegsentschädigung“ (BRiOW) beschäftigt. Er lief kreuz und quer durch Berlin, um von den deutschen Besatzern geraubte Güter und Industrieanlagen aufzuspüren und nach Polen zurückzuführen. Das Büro war in der Schlüterstraße 42 in Charlottenburg untergebracht, im Gebäude der Polnischen Militärmission.
Allerdings legen Dokumente in den Akten des Sicherheitsministeriums, die heute in der Behörde IPN lagern, nahe, dass Reich eine weitere, inoffizielle Aufgabe hatte. Diese „Berichte“, kurze Charakterisierungen, die oft Denunziationen glichen, hat ein Mann im Büro in Berlin über Reichs engste Mitarbeiter geschrieben. Unter jedem Bericht (polnisch: raport) steht der Deckname „Platon“. Viele Details lassen vermuten, dass es Marceli Reich war, der hier seine Kollegen bespitzelte. Jahrzehnte später weigerte sich Reich-Ranicki kategorisch, meine mündlich und schriftlich gestellten Anfragen zu diesem Thema zu beantworten.[3]
Die Monate in Berlin haben in Reichs Erinnerung tiefe Spuren hinterlassen. Die 1958 geschriebene Erzählung „Eine sehr sentimentale Geschichte“ zeugt davon: Sie ist der zeitlebens einzige literarische Text Reich-Ranickis. Er beschreibt darin, wie ein junger polnischer Leutnant nach dem Krieg in Berlin einem großen Wagen mit deutschem Chauffeur entsteigt, um ins Deutsche Theater zu gehen. Der Leutnant sieht „Hamlet“. Weiter heißt es:
„Nach der Vorstellung will er allein sein. Man spielt nämlich ein Stück, das ihn immer sehr aufregt. Es ist die Geschichte eines jungen Intellektuellen, der das Pech hat, in einem totalitären Staat zu leben, sich gegen seine Umwelt aufbäumt und zerrieben wird. Es ist ein vorbildlicher Polizeistaat – alle werden von allen ausspioniert.“[4]
[3] Dazu ausführlich: Gnauck, a.a.O., S. 94-119
[4] Marcel Reich-Ranicki: Eine sehr sentimentale Geschichte. In: Volker Hage, Mathias Schreiber: Marcel Reich-Ranicki. Köln 1995, S. 207-222, hier S. 217f.
Im April geht es zurück in die Zentrale, in das MBP-Gebäude in Warschau (heute Sitz des Justizministeriums). Reich wurde immer größere Verantwortung übertragen; zeitweise leitete er das Deutschlandreferat des Geheimdienstes, dann war er der Chef für Großbritannien. Anfang 1948 sollte er seine bisher größte Aufgabe im Ausland in Angriff nehmen: Er wurde nach London entsandt. Der Kalte Krieg hatte begonnen; zudem war London nicht nur die Hauptstadt der damals stärksten Militärmacht der westlichen Welt, sondern auch die Metropole des polnischen Exils und Sitz der (nichtkommunistischen) Exilregierung.
Bei der Vorbereitung auf die neue Aufgabe wurde ihm jedoch gesagt, mit dem Namen „Reich“ könne er unmöglich Polen repräsentieren. Wie etliche Juden im Nachkriegspolen, vor allem solche, die in Partei oder Staat arbeiteten, legte sich Reich also einen anderen, „polnisch klingenden“ Namen zu, der mehr war als ein Pseudonym. Fortan stand im Reisepass: Marceli Ranicki. Er habe zufällig ein Mädchen gekannt, das so hieß, sagte MRR Jahrzehnte später. Möglicherweise war es die Kollegin Janina Ranicka von der Auslandspostzensur.
Diesmal war ganz klar, dass Ranicki in London zwei Aufgaben haben würde: Er sollte Resident, also der oberste polnische Geheimdienstler in ganz Großbritannien werden; als „Legende“ gab man ihm dazu einen Job im Außenministerium, in dem er sich schnell einarbeiten musste. So wurde Mr. Ranicki zunächst Vizekonsul, später dann Konsul und Leiter des polnischen Generalkonsulats. Mit 28 Jahren war er in London der jüngste Diplomat dieses Ranges.
Neben der üblichen Konsulararbeit erfüllte Ranicki wichtige Aufgaben für das Sicherheitsministerium. In seiner Autobiografie versucht er sie auf amüsante Weise herunterzuspielen: „Ich habe weder einen künstlichen Bart gehabt noch ein Toupet.“ Er habe auch „keinerlei Kontakte mit Exilpolen“ gehabt. Allerdings leugnet er nicht, dass er „zehn bis fünfzehn Mitarbeiter, meist arbeitslose oder pensionierte Journalisten“, beschäftigt habe, die ihn und damit Warschau „regelmäßig über die polnische Emigration“ informierten.[5]
Zur ganzen Wahrheit gehört freilich auch, dass Ranicki eine Kartei über 2100 in Großbritannien lebende Polen erstellen ließ. Die Bespitzelung des führenden Oppositionspolitikers Stanisław Mikołajczyk war Chefsache – Ranicki betreute sie selbst. Mit Stanisław Cat-Mackiewicz, dem Publizisten und späteren Premier in der Exilregierung, traf er sich persönlich auf einer Bank im Waterloo Park, um ihn für eine Zusammenarbeit mit der „Sicherheit“ zu gewinnen (erfolglos). Die Belohnung dafür sollte das Angebot an Cat-Mackiewicz sein, nach Polen zurückkehren zu dürfen.
Der erste, der Ranickis Arbeit für das Sicherheitsministerium 1991 öffentlich machte, war sein zeitweiliger Untergebener in London, Krzysztof Starzyński, der 1950 die Seiten wechselte und im Westen blieb. Oft ist der Vorwurf geäußert worden, Ranicki habe an der „Heimholung“ polnischer Emigranten und Militärs mitgewirkt, worauf diese im kommunistischen Polen im Gefängnis gelandet seien – oder Schlimmeres. Konkrete Fälle und Namen, die diesen Vorwurf belegen würden, sind jedoch nicht bekannt. Reich-Ranicki hat nach 1989 zur Begründung seiner Handlungen gesagt, er habe „damals an den Kommunismus geglaubt“. Er bedauere nicht, was er getan habe.[6]
[5] Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben, S. 326f.
[6] Hage, Schreiber, a.a.O., S. 204f. (Erstmals veröffentlicht im SPIEGEL, Heft 25/1994)
Ende 1949 wurde Konsul Ranicki plötzlich nach Warschau bestellt. Wenig später wurde er aus dem MBP, dem Außenministerium und der Kommunistischen Partei, deren Mitglied er war, ausgestoßen. Warum? Lag es – wie MRR später andeutete – am im polnischen Apparat aufkommenden Antisemitismus? Oder an ideologischer Entfremdung zwischen ihm und der Partei? Das ist nicht zweifelsfrei festzustellen. Aus den Akten geht außerdem hervor, dass Ranickis Londoner Apparat aus Mitarbeitern und Agenten (unter anderem durch Seitenwechsel) fast völlig zusammengebrochen war, was beim Geheimdienstchef in Warschau die Alarmglocken läuten ließ.
Ranicki schreibt, er habe es als „Anstandspflicht“[7] angesehen, „loyal“ zu sein und dennoch nach Polen zurückzukehren. Ob er damit Loyalität gegenüber dem Land seiner Herkunft meinte, gegenüber dem herrschenden System oder einer anderen Instanz, läßt er offen. Sicher ist nur, dass er nicht „aus politischen Gründen“ um seine Abberufung bat, wie er später einmal behauptet hat[8]; mit dieser Behauptung rückt er sich selbst in die Nähe von Dissidenten und Bürgerrechtlern.
Der Sturz war dennoch schmerzhaft; auch musste Ranicki zwei Wochen in Haft verbringen. Dann war er – mit Teofila und dem in London geborenen Sohn Andrew – wieder frei, so frei, wie es im Polen der Stalinzeit eben möglich war. Und in der Zelle, in der er immerhin deutsche Literatur lesen durfte, war ein neuer Ranicki geboren worden: der Literaturkritiker.
Nach und nach etablierte sich Ranicki als Fachmann vor allem für deutsche Literatur – ein in Polen nach 1945 nicht gerade sehr beliebtes Feld. Er schrieb zahllose Texte, von der Dorfzeitung „Wieś“ über Kulturzeitungen bis hinauf zum Parteiorgan „Trybuna Ludu“. In den fünfziger Jahren kamen außerdem Autoren zu Besuch, erst Brecht aus der DDR, dann Böll und Grass aus der Bundesrepublik – Ranicki war für sie der ideale Ansprechpartner und lernte sie alle kennen. Aber auch viele der berühmtesten polnischen Schriftsteller hat er gekannt (Lec, Tuwim). Nach einer kurzen Studienreise in die Bundesrepublik unternahm Ranicki 1958 den Versuch, noch einmal ein deutsches Visum für sich und – um die Behörden irrezuführen - gleichzeitig britische Visa für Frau und Kind zu bekommen. Der Plan ging auf: Als alle im Westen waren, blieben sie dort.
Jetzt begann – nach MBP und polnischem Kulturbetrieb – die dritte Karriere dieses Mannes. Er begann sie als „Reich-Ranicki“, weil ein Redakteur der F.A.Z. ihm riet, seine beiden Namen zu einem Doppelnamen zusammenzufügen. Der Kritiker begann bei der FAZ, wechselte dann zur „Zeit“ nach Hamburg, kehrte später zur FAZ. zurück und leitete außerdem von 1988 bis 2001 die Sendung „Literarisches Quartett“ beim ZDF. Inzwischen galt er als der „Literaturpapst“ Deutschlands. Früh hatte er sich der Gruppe 47 angeschlossen, der wichtigsten Gruppierung deutschsprachiger Schriftsteller.
[7] Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben, S. 330
[8] Der Kanon, 20 Romane und ihre Autoren, Mit einer Einführung von Marcel Reich-Ranicki, Frankfurt am Main 2002, S. 90
Doch hat er Polen nie ganz losgelassen. In den ersten Jahren nach 1958 in Deutschland schrieb er immer wieder über polnische Literatur; daraus ist später ein Buch geworden[9]. MRR pflegte auch den Kontakt zu einigen polnischen und polnisch-jüdischen Emigranten sowie zu aus Polen anreisenden Intellektuellen (Szczypiorski). Allerdings sind weder er noch seine Frau noch – zumindest bis 2009 – sein Sohn jemals wieder in Polen gewesen, trotz zahlreicher Einladungen, unter anderem seitens des Staatspräsidenten Aleksander Kwaśniewski.
Auch Polen hat seinen einstigen Bürger nie ganz losgelassen. Das Regime unterstellte ihm Kontakte mit den schlimmsten „antisozialistischen Elementen“ des polnischen Exils. Reich-Ranickis Warschauer Kollege aus den fünfziger Jahren, der Germanist und Theaterwissenschaftler Andrzej Wirth, wurde beauftragt, seine Reisen in die Bundesrepublik zu nutzen, um „das Privatleben und die materiellen Verhältnisse Ranickis auf dem Gebiet Deutschlands“ auszuspionieren.[10] Er lässt sich darauf ein, trifft MRR, liefert jedoch seinen Auftraggebern fast nichts. Die polnische Staatssicherheit bekommt immer deutlicher den Eindruck, Wirth, Deckname „Bruno“, arbeite nur widerwillig für sie, und bricht die Zusammenarbeit ab.
Hier sollte schwerpunktmäßig das Polnische und Jüdische in Reich-Ranickis Leben dargestellt werden. Die deutsche Seite seines Lebens kommt ausführlich in den Biografien von Thomas Anz und Uwe Wittstock sowie (in Form eines Bildbands) bei Frank Schirrmacher zu Wort. 2011 starb Teofila, zwei Jahre später Marcel Reich-Ranicki; beide wurden auf dem städtischen Frankfurter Hauptfriedhof beigesetzt (Urnenhain, Gewann XIV 34 UG).
Sein Vaterland sei „die Literatur, die deutsche Literatur“, hat Reich-Ranicki einmal von sich gesagt. Als „halber Pole, halber Deutscher und ganzer Jude“ will er nicht in Erinnerung bleiben; diesen Satz aus den fünfziger Jahren hat er später dementiert. Jude im religiösen Sinne war er ohnehin nicht; er war bekennender Atheist. Wenn ihn etwas mit Polen verbinde, schrieb er, dann die Sprache, die Lyrik und Chopin. Und eine Stadt. Als er 1958 sein Geburtsland verlassen habe, sei seine Stimmung „wehmütig“ gewesen. „Aber nicht der Abschied von Polen fiel mir schwer, sondern der von Warschau. Beinahe zwanzig Jahre habe ich hier unendlich viel erlebt und ertragen, gelitten und geliebt.“[11]
Gerhard Gnauck, April 2017
Literatur:
Gerhard Gnauck: Wolke und Weide. Marcel Reich-Ranickis polnische Jahre, Stuttgart 2009
Hier finden Sie einen Videobeitrag zu der berühmten Rede von Marcel Reich-Ranicki im Bundestag über seine Erinnerungen an das Warschauer Ghetto. Eine Abschrift der Rede Reich-Ranickis im Bundestag finden Sie hier.
Dokumentation über MRR von seinem Sohn Andrew Ranicki:
http://www.maths.ed.ac.uk/~aar/surgery/bio.htm
Hier finden Sie den Eintrag zu Marcel Reich-Ranicki in der Encyclopaedia Polonica.
[9] Marcel Reich-Ranicki: Erst leben, dann spielen. Über polnische Literatur. Göttingen 2002. Die Widmung darin lautet: „Für Teofila Reich-Ranicki, die mich in schwerer Zeit – es war in Warschau, in den Jahren 1940 bis 1944 – für die polnische Dichtung gewonnen hat.“
[10] Aus den Akten des Sicherheitsdienstes (SB) zitiert nach: Gnauck, a.a.O. S. 207
[11] Marcel Reich-Ranicki, Mein Leben, S. 390