„MRR“: Sein Leben
Mediathek Sorted
Interview mit Gerhard Gnauck im SWR
Interview mit Gerhard Gnauck zum Gedenken an Marcel Reich-Ranicki
In Gedenken an Marcel Reich-Ranicki im Radio "Trójka" (polnisch)
Marcel Reich-Ranicki - Hörspiel von "COSMO Radio po polsku" auf Deutsch
Marcel Reich-Ranicki im Interview mit Joanna Skibińska
Marcel Reich-Ranicki auf Polnisch! Interview mit Joanna Skibińska 2000
1929, von wirtschaftlichem Misserfolg geplagt, siedelte die Familie zu Verwandten nach Berlin über. Dort besuchte Marceli das Fichte-Gymnasium und begann eine Lehre (die Aufnahme eines Studiums war ihm wegen seiner jüdischen Herkunft verweigert worden). Die Eltern und der Bruder zogen bereits Mitte der dreißiger Jahre zurück nach Polen: nach Warschau, wo Herbert Aleksander eine Zahnarztpraxis eröffnete. Gerda gelang es, mit ihrem Mann nach England auszuwandern. Marceli blieb in Berlin – und wurde Ende Oktober 1938 im Rahmen der sogenannten „Polenaktion“, die etwa 17.000 polnische Juden umfasste, von den deutschen Behörden gegen seinen Willen nach Polen abgeschoben.
Der 18 Jahre alte Marceli Reich schlug sich nach Warschau durch und wohnte fortan bei seinen Eltern. Diese Zeit hat er später als wenig glücklich bezeichnet. Kaum jemand ahnte jedoch, was darauf folgen würde: Ein Jahr später besetzten deutsche Truppen Polen. Der junge, arbeitslose Reich wurde Zeuge des Luftkriegs und dann auch der Misshandlungen der Zivilbevölkerung, insbesondere des jüdischen Teils. Die Familie blieb in Warschau; als das Ghetto errichtet wurde, war die Złota-Straße, in der sie wohnte, die erste Straße außerhalb der Ghettomauer. (Die Wohnung im Haus Nr. 43 lag zwischen dem heutigen Kulturpalast und dem Zentralbahnhof; die Häuserzeile ist nicht erhalten). So wurde die Familie ins Ghetto umgesiedelt.
Über die erste „Volkszählung“ der jüdischen Bevölkerung, an der er mitwirkte, gelangte der junge Reich in Kontakt mit dem „Judenrat“, der jüdischen Verwaltung des Ghettos, die natürlich von den deutschen Besatzungsbehörden abhängig war. Dort wurde er Übersetzer und leitete am Ende sogar das „Übersetzungs- und Korrespondenzbüro“. Zugleich schrieb er zum ersten Mal in seinem Leben Kritiken: Konzertkritiken. Er schrieb sie unter dem Pseudonym „Wiktor Hart“ für die „Gazeta Żydowska” (Jüdische Zeitung), die im Ghetto erschien. Er war Zeuge und Übersetzer, als SS-Führer im Judenrat den Befehl zur Liquidierung des Ghettos verkündeten.
Der Dichter Antoni Marianowicz, ebenfalls Insasse des Ghettos, schrieb später, er habe Reich in jener Zeit mit der Mütze der (jüdischen) Ghetto-Polizei herumlaufen sehen. Gesichert ist lediglich die Arbeit im Judenrat; diese ist Reich später, im kommunistischen Polen, als „Kollaboration“ vorgehalten worden, wofür er sich immer wieder rechtfertigen musste. Dass solche Vorwürfe der tragischen Lage der Juden im besetzten Polen nicht gerecht werden, ist klar.
Anfang 1943, als schon viele Menschen mit unbekanntem Ziel (Vernichtungslager Treblinka) abtransportiert worden waren, darunter Reichs Eltern, fasste Marceli den Entschluss, zu fliehen. Er heiratete Teofila („Tosia“) Langnas, die er 1940 im Ghetto kennengelernt hatte, und beide flohen auf die – wie es in Polen hieß – „arische Seite“ der Mauer. Dort begann für beide eine Odyssee von Versteck zu Versteck. Die Lage besserte sich, als erst Marceli und dann auch Tosia bei der Familie des Setzers Bolek Gawin Unterschlupf fanden. In diesem Zwei-Zimmer-Häuschen am Stadtrand, in der Straße Osada Ojców, hat Reich seine „Wirtsleute“, wie er später schrieb, mit literarischen Nacherzählungen unterhalten. Barbara Rochowska, die Tochter der Familie, erinnert sich bis heute lebhaft an die Reichs; 2006 verlieh die Gedenkstätte Yad Vashem Bolek und Eugenia Gawin posthum die Medaille „Gerechte unter den Völkern der Welt“.