Karol Broniatowski. Gegenwart und Abwesenheit der Skulptur
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Karol Broniatowskis Mahnmal für die deportierten Juden Berlins
Sein gestalterisches Vorgehen ist konzeptuell und dialektisch zugleich. Das Gedenken an die deportierten Juden manifestiert sich nicht etwa in der Betrachtung eines heroischen Standbilds, sondern im Abwandern ihres Weges. Die für immer abwesenden, aber in der Wand durch Negativformen materialisierten Körper wecken Assoziationen mit den plastischen Abdrücken der umgekommenen Einwohner von Pompeji oder den eingebrannten Schatten der verdampften Opfer von Hiroshima. Das Material Beton erinnere an eines der gebräuchlichsten Materialien der Nazizeit, so Broniatowski im Gespräch, aus dem nicht nur die „Reichsautobahn“ (nach einem Ausspruch der Zeit „der Beton gewordene Wille Hitlers“), sondern auch Tausende von Luftschutzbunkern gegossen wurden. Auch diese Arbeit von Broniatowski steht der Konzeptkunst nahe, wenn wir an Sol LeWitts Hamburger Mahnmal „Black Form - Dedicated to the Missing Jews“ (1987/89) denken, ein schwarzer Block, der an die zerstörte jüdische Gemeinde von Hamburg-Altona erinnert.
In seiner freien bildhauerischen Arbeit beschäftigt sich Broniatowski seit Mitte der 1980er-Jahre weiterhin mit der menschlichen Gestalt. Wie bei den „Zeitungspapierfiguren“ unterscheidet er schreitende männliche Figuren (Abb. 18), die den Typus des griechischen Kouros[19] interpretieren, und stehende weibliche Akte, darunter solche mit über dem Kopf verschränkten Armen (Abb. 19, 20), Torsi (Abb. 21) und Interpretationen von Gestalten der griechischen Mythologie wie Gäa, Venus oder Iris (Abb. 22), die sämtlich vom Miniaturformat bis zur Überlebensgröße in Bronze ausgeführt sind. Auch zu „Big Man“ besteht eine konzeptuelle Verbindung. Die 1986 ausgeführte „Gruppe 93“ aus „Kleinen Schreitenden“ (Abb. 23) besteht wie „Big Man“ und dessen spätere „Präsentationen“ aus 93 Einzelteilen, denen wie den „Zeitungspapierfiguren“ gleichzeitig Uniformität und Individualität zu eigen ist. Sie alle schreiten mit dem linken Bein voran, sind aber jeweils unterschiedlich gestaltet und können allein oder in Formationen zusammengestellt werden.
Die anschließend entstandenen mittelgroßen „Akte“ (Abb. 19-21) ebenso wie die überlebensgroßen männlichen „Schreitenden“ (Abb. 18) und die Miniaturen der 1990er-Jahre (Abb. 22) führen das schon vorher zu beobachtende Prinzip auf die Spitze, ein aus Klumpen aufgebautes und mit den Händen zurecht geknetetes Tonmodell in der rohen, nicht geglätteten, mitunter sogar unproportionierten Fassung für den Bronzeguss zu übernehmen. Wie in der Konzeptkunst und ähnlich wie bei den Segmenten des „Big Man“ beauftragt Broniatowski den Betrachter gleichsam, aus den vom Künstler aufgebauten Massen die natürliche Form der Figur, deren Modifikationen oder auch ihre antiken Vorläufer mithilfe der menschlichen Erfahrung und Vorstellungskraft zu rekonstruieren. Sein über fünf Meter hoher „Fuß von Bendern“, 1996 für die LGT-Bank in Liechtenstein ausgeführt (Abb. 24), ist so ein Vorstellungsmodell. Denn die amorph scheinende Masse aus Bronze wird erst dann zum anatomischen Detail, wenn der Betrachter sie (durch den Titel oder die eigene Anschauung) als Fuß identifiziert und sie in der eigenen Vorstellung zu einer riesenhaften Figur vervollständigt. Wieder ist der enge Bezug zu „Big Man“ gegeben, der – im Geist zu Ende konstruiert – hier eine Höhe von dreißig Metern erreichen würde.
Seit 1989 schafft Broniatowski rote und schwarze Gouachen auf Karton, eigentlich Monotypien (Einmaldrucke), bei denen er Umriss und Masse der gleichzeitig entstandenen Bronzen auf die Fläche projiziert (Abb. 25). Bei ihrer Herstellung variiert der Künstler einen Prozess, den man von der Vervielfältigung von Plastiken kennt: Er drückt mit der Hand aufgebaute und geformte Tonfiguren in feuchten Gips ab und erzeugt dadurch ein als Hohlform erscheinendes Negativ. Silikon, dort hinein gegossen und als Haut abgezogen, dient schließlich – eingefärbt – als Druckstock für die Monotypie. Auf die Gleichzeitigkeit und die Nähe der im Druck manifestierten Negativform zu den fehlenden Figuren des „Mahnmals für die deportierten Juden Berlins“ ist bereits hingewiesen worden.[20] Jedoch scheint uns das Resultat wichtiger: Die durch Abdruck erzeugte Projektion der plastischen Figur auf die Fläche weist nicht auf ihr Fehlen hin, sondern ist die für immer festgehaltene Spur ihrer Existenz. Zuletzt, in der Ausstellung des Polnischen Instituts in Berlin 2012, waren diese figürlichen Silhouetten nicht nur in Gruppen, Reihen (Abb. 26) und einzeln, sondern auch in paarweiser Interaktion zu sehen. Ausstellungsansichten belegen die enge Verbindung zwischen Broniatowskis Bronzeplastiken und Gouachen (Abb. 27).