Karol Broniatowski. Gegenwart und Abwesenheit der Skulptur
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Karol Broniatowskis Mahnmal für die deportierten Juden Berlins
Auf der Biennale von Venedig, so Skrodzki, „arrangierte Broniatowski eine gigantische Komposition, die in der Konzeption an den ‚Teufelskreis‘ von Malczewski anknüpfte. Eine Menge von Gestalten (hoch über den Köpfen der Besucher aufgehängt) drehte sich im Raum vor dem Eingang zum polnischen Pavillon, ‚ergoss sich‘ in den Korridor und füllte einen Teil des Saales aus. Dieses Arrangement brachte dem Künstler großen internationalen Erfolg.“[6] Ebenfalls 1972 waren Environments aus „Zeitungspapierfiguren“ in Gent (Galerie Richard Foncke), 1973 in Antwerpen (Galerie Zwarte Panter), Brüssel (Palais des Beaux Arts) und im Mannheimer Kunstverein zu sehen, wo die Kunsthalle Mannheim ein Ensemble aus zehn Figuren ankaufte,[7] schließlich 1975 in Philadelphia (Philadelphia Bourse). Früh im Verhältnis zur allgemeinen Entwicklung der Kunst des 20. Jahrhunderts sind Broniatowskis „Zeitungspapierfiguren“, wenn wir an die zu großen Gruppen aufgestellten kopflosen Figuren von Magdalena Abakanowicz („Crowds“, ab 1983) denken, früh, wenn wir sie zum rauen Materialismus der internationalen Skulptur der 1970er- und 80er-Jahre in Beziehung setzen.
Nach Studienaufenthalten in Belgien (1972/73) und als Gast der Copernicus Society in Ambler, Pennsylvania (1975), arbeitete der Künstler 1976 mit einem Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) in Berlin. Er blieb der Bildhauerei treu, aber sein Denken und seine Arbeitsweise näherten sich der Konzeptkunst. Mit dem Ziel, „eine mehr universelle Darstellung des Menschen“ zu finden, „dem durch die Information eine fließende und unstete Form aufgezwungen wird“, entwickelte er unter dem Titel „Big Man“ eine idealisierte laufende Figur. In seiner Vorstellung[8] wuchs sie zu „Riesengröße“, war mit einer gerade noch zu realisierenden Länge von 18,8 Metern - „so wie die höchste Tanne im Wald vor meinem Atelier“ - jedoch als liegendes Relief gedacht. Dieses gliederte er in ein quadratisches Raster aus 93 Teilen, von dem er einzelne Kompartimente – Teile des Vorderfußes sowie Randbereiche der Beine, der Hüfte und der rechten Schulter (Abb. 4) – jeweils aus Packen zusammengeschraubter Tageszeitungen und aus Impala-Granit realisierte (Abb. 5).
Die Einzelteile sind in Städten auf der ganzen Welt aufgestellt (u.a. in Antwerpen, Breslau, Łódź, Paris, Warschau, Berlin). Klassische Bildhauerei nähert sich der Konzeptkunst; denn die als Granitskulpturen verwirklichten Teile lassen sich nur mithilfe von Informationen über das Konzept des Künstlers und mit der Vorstellungskraft des Publikums als Teile der menschlichen Umrissform identifizieren. Auch Bezüge zur urbanen Skulptur etwa von Ulrich Rückriem oder zur amerikanischen Land Art stellen sich ein. Wieder scheint Broniatowski als Ideengeber zu fungieren. Denn der amerikanische Konzeptkünstler Jonathan Borowski (*1942), der sich Mitte der Siebzigerjahre noch mit Zahlenreihen („Counting“) und Zeichnungen beschäftigte, gestaltet erst seit den 1980er-Jahren über zwanzig Meter hohe, schematisierte Figuren im öffentlichen Raum („Hammering Man“, Basel 1989; „Walking Man“, München 1995), die wie vollplastische Realisierungen von Broniatowskis Konzept des „Big Man“ erscheinen.
Konzeptionellen Charakter hatte auch die „II. Präsentation des Big Man“ 1977 in der Galeria 72 in Chełm, bei der Broniatowski die 93 Einzelteile durch ebenso viele auf einer Holzplatte montierte Bronze-Eier repräsentierte – eine Arbeit mit dem Titel „Objekt 93“, die heute ohne Kenntnis der Zusammenhänge als Werk der Minimal Art identifiziert werden würde (Abb. 6). Den Charakter einer Performance hatte die „III. Präsentation des Big Man“ 1978 im Dom Plastyka in Warschau, bei der der Künstler die 93 Elemente durch Klopfen der entsprechenden Zahlen aus dem Morsealphabet auf ein Mikrofon verschlüsselte (Abb. 7). Performance war auch die Präsentation eines Kopfes aus Sand 1979 im Muzeum Sztuki in Łódź, der zu Beginn in der Hohlform eines aus mehreren Teilen bestehenden Gipsblocks verborgen war und dann mit dem Entfernen der Gipssegmente zu einem Haufen Sand zusammenfiel (Abb. 8). „This is theater of course, like so much of the fine arts for all their stasis and silence“, schrieb George Tabori.[9] Dennoch führte die Performance zu den Grundlagen der Plastik, zur Vervielfältigung der plastischen Figur durch die Negativform und damit zum Entstehungsprozess einer Bronzeplastik zurück. 1981 schlossen sich Arbeiten mit experimenteller Intention an, mit denen sich Broniatowski endgültig für die Bronzeplastik entschied: menschliche Figuren aus Einzelteilen, die durch Auf- und Abbau verändert werden konnten (Abb. 9), und ein Selbstporträt, das der Künstler in zwölf Stadien vom abstrakten Block durch Hinzufügen immer neuer Schichten vollendete (Abb. 10 a, b).
[6] Wojciech Skrodzki: Werke und Suche, in: Osęka/Skrodzki 1977, S. 42
[7] Kunsthalle Mannheim, Inv. Nr. 1831 (Die Kunst Osteuropas im 20. Jahrhundert in öffentlichen Sammlungen des Bundesrepublik Deutschlands und Berlins [West], Katalog Museum Bochum 1980, Nr. 2617, Abbildung)
[8] Karol Broniatowski: Big Man, in: Ausstellungs-Katalog Big Man 1976
[9] George Tabori: White box on a table …, in: Ausstellungs-Katalog Karol Broniatowski 1984, Seite 27