Dora Diamant. Aktivistin, Schauspielerin und Franz Kafkas letzte Lebensgefährtin
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„Wenn nur ein Medikament verfügbar gewesen wäre“ – Kafkas Krankheit und Tod
Kafkas gesundheitlicher Zustand verschlechterte sich weiter, wovon sich auch dessen Onkel, der in Mähren tätige Landarzt Dr. Siegfried Löwy (1867–1942 Suizid vor der Deportation), überzeugte, der für einige Tage nach Berlin kam und zu einer Einweisung in ein Sanatorium riet. Anfang März alarmierte Diamant Dr. Nelken vom Jüdischen Krankenhaus, der den Patienten nicht im Bett, aber in einem elenden Zustand vorfand. „Wenn nur Streptomycin oder ein anderes Medikament gegen Tuberkulose verfügbar gewesen wäre“, so erinnerte sich Nelken später: „Alles was ich tun konnte, war, etwas zur Linderung des Hustens und anderer Symptome zu verschreiben“.[70] Diamant hatte ihr Studium an der jüdischen Hochschule abgebrochen und widmete sich ganz der Pflege ihres Lebensgefährten. Mit Näharbeiten verdiente sie etwas Geld. Löwy erreichte durch Beziehungen, dass ein Sanatorium in Österreich Kafka ohne Wartezeit aufnehmen würde. Klopstock reiste zur Unterstützung nach Berlin. Am 17. März fuhr Kafka in Begleitung von Brod nach Prag. Diamant blieb in Berlin zurück.[71]
Kafka verbrachte drei Wochen, bettlägerig und abgemagert auf 49 Kilogramm, in der elterlichen Wohnung, wo Klopstock ihn besuchte. Ein Übergreifen der Tuberkulose auf den Kehlkopf zeichnete sich bereits ab. Nachdem Löwy Anfang April die Einweisung ins Sanatorium Wienerwald veranlasst hatte, reiste Diamant nach Wien und besuchte Kafka am 8. April. „D. ist bei mir, das ist sehr gut, sie wohnt in einem Bauernhaus neben dem Sanatorium“, schrieb Kafka an die Eltern.[72] Bereits drei Tage später wurde er mit der Diagnose einer Kehlkopftuberkulose zu Professor Markus Hajek (1861–1941) an die Laryngologische Universitätsklinik im Allgemeinen Krankenhaus in Wien verlegt, wo der Patient in einem mit Sterbenden belegten Krankensaal untergebracht wurde. Als Felix Weltsch jedoch die private Lungenklinik von Dr. Hugo Hoffmann in Kierling (Abb. 8 . ) 15 Kilometer nordwestlich von Wien ausfindig machte, die mit Einzelzimmern, privaten Balkonen und geringeren Kosten aufwarten konnte, bestanden Kafka und Diamant schon acht Tage später auf eine erneute Verlegung.[73]
Auch Diamant konnte dort wohnen. Sie übernahm die Korrespondenz an die Eltern und die Schwestern, die ihrerseits täglich im Sanatorium anriefen. Anfang Mai diagnostizierte der von Diamant zurate gezogene Wiener Lungenspezialist Dr. Oskar Beck einen nicht mehr therapierbaren Zustand von Lunge und Kehlkopf und riet, den Patienten zu seiner Familie nach Prag zu transportieren. Unterdessen zog Klopstock im Sanatorium ein um bei der Versorgung des Kranken zu helfen. Der Brief aus Polen von Doras Vater, den sie seit vier Jahren nicht gesehen hatte und in welchem sich dieser gegen eine Heirat von ihr und Kafka aussprach, traf am 12. Mai ein. Am selben Tag reiste Brod von Prag nach Wien um den kranken Freund für einen Tag zu besuchen. Brod, Diamant und Klopstock verständigten sich darauf, dass Kafka in Kierling bleiben sollte, weil er bei einer Rückkehr nach Prag alle Hoffnung verlieren würde.[74]
Über „Franz Kafkas Tod“ am 3. Juni 1924 berichtete der aus Prag stammende Publizist Willy Haas in der Berliner Zeitung Der Tagesspiegel vom 25. November 1953, nachdem ihm eine Schwester Anna, die Kafka im Kierlinger Sanatorium bis zuletzt gepflegt hatte, einen Brief geschrieben hatte: „Für den Todesfall hatte Kafka verschiedene Vorkehrungen getroffen. Bekannt ist die mit Dr. Klopstock, dass jener, wenn nichts mehr zu hoffen sei, das rasche Ende mit einer Spritze beschleunigen werde. Es scheint, dass Kafka auch seiner Lebensgefährtin Dora in einer schwachen Stunde die Einwilligung gegeben hatte, mit ihm zu sterben. Nichts davon wurde eingehalten; wohl aber erfüllte der treue Klopstock eine dritte, geheime Abmachung, dass er Dora unter einem Vorwand in der letzten Stunde fortschicken werde, damit sie den Todeskampf nicht sehe. Das tat Klopstock auch und sandte Dora mit einem Brief zur Post. – Aber in den letzten Minuten vermisste Kafka Dora. ‚Ich schickte das Stubenmädchen hinterher‘, schreibt die Pflegerin, ‚denn die Post war in der Nähe.‘ Dora kam atemlos zurück, Blumen in der Hand, die sie wohl eben gekauft hatte. Kafka schien völlig bewusstlos. Dora hielt ihm die Blumen vor das Gesicht. ‚Franz, sieh mal die schönen Blumen, rieche mal!‘ flüsterte Dora. ‚Da richtete sich der Sterbende auf, und er roch an den Blumen. […] Er hatte so wunderbar strahlende Augen, und sein Lächeln war so vielsagend, und Hände und Augen waren beredt, als er nicht mehr sprechen konnte.‘“[75]
Auf Anweisung von Kafkas Vater kam Löwy nach Kierling, um sich um den Leichnam zu kümmern. Mit einiger „Schroffheit“, so wird berichtet, schob er Diamant und Klopstock beiseite und regelte mit „kühler, gleichgültiger Professionalität“ die Formalien. Ein Telegramm des Vaters verfügte jedoch am 4. Juni: „Dora entscheidet“ und zwar, was mit Kafkas Leichnam zu geschehen habe.[76] Dieser wurde mit der Eisenbahn nach Prag gebracht. Nachrufe erschienen in den deutschsprachigen Prager Zeitungen von Brod, Weltsch und dem Schriftsteller Oskar Baum (1883–1941) sowie von Milena Jesenská am 6. Juni in der tschechischen Tageszeitung Národní Listy. Am 11. Juni fand im Kreis der Familie und der engsten Freunde auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Prag-Žižkov die Beerdigung statt. Der Dichter und Essayist Johannes Urzidil (1896–1970), als Presseattaché an der deutschen Botschaft in Prag tätig, erinnerte sich in einem Essay an diesen Tag: „Ich ging in dem Trauerzug, der Kafkas Sarg von der Zeremonienhalle zum offenen Grab geleitete; hinter der Familie und der bleichen Gefährtin, die von Max Brod gestützt wurde.“[77] Mit qualvollem und durchdringendem Aufschrei sei sie am offenen Grab zusammengebrochen.[78]
Am folgenden Tag fand in Diamants Beisein eine Trauerfeier mit Reden und Lesungen aus Kafkas Werk und 500 Gästen in der deutschsprachigen Kleinen Bühne in Prag statt. Während der folgenden Tage und Wochen blieb Diamant in der Wohnung von Kafkas Eltern, während Brod begann, den schriftlichen Nachlass durchzusehen. Eine dabei gefundene und von Kafka an Brod gerichtete Anweisung, „alles Geschriebene und Gezeichnete“, was sich in seinem Nachlass finde, „restlos und ungelesen zu verbrennen“,[79] brachte Brod künftig nicht nur in Konflikt mit dem eigenen Gewissen, sondern auch mit Diamant, die ihm später schrieb: „Die ganze Welt hat nichts von Franz zu wissen. Er geht sie ja nichts an, weil – ja, weil sie ihn ja doch nicht versteht.“[80]
[70] Gottgetreu 1974 (siehe Anmerkung 37).
[71] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 107–122.
[72] Postkarte Franz Kafka an Hermann Kafka, Ortmann 9.4.1924, https://homepage.univie.ac.at/werner.haas/1924/el24-021.htm (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).
[73] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 123–135.
[74] Ebenda, Seite 137–157.
[75] Willy Haas: Franz Kafkas Tod, in: Der Tagesspiegel, Band 9, Nr. 2497 vom 15.11.1953, Beiblatt, Seite 1; erneut abgedruckt als Willy Haas: Die letzten Tage, in dem Sammelband von Hans-Gerd Koch: „Als Kafka mir entgegen kam …“ 1995 (siehe Literatur), Seite 193–195.
[76] Telegramm von Hermann Kafka, Archiv der Kafka-Forschungsstelle der Bergischen Universität/Gesamthochschule Wuppertal; zitiert nach Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 161.
[77] Johannes Urzidil: 11. Juni 1924, in: derselbe, Da geht Kafka. Essays, Zürich/Stuttgart: Artemis 1965, Seite 78.
[78] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 159–166.
[79] Max Brod: Nachwort zur ersten Ausgabe, in: Franz Kafka. Die Romane. Amerika. Der Prozeß. Das Schloß, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1965, Seite 472.
[80] Dora Diamant an Max Brod, Berlin, 2.5.1930, in Max Brod: Der Prager Kreis, Stuttgart und andere: Kohlhammer 1966, Seite 113.