Dora Diamant. Aktivistin, Schauspielerin und Franz Kafkas letzte Lebensgefährtin
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Franz Kafka und Dora Diamant ziehen zusammen
Endlich, am 21. September, schien er soweit wiederhergestellt, dass er drei Tage später die Reise nach Berlin wagen konnte. Noch auf dem Weg zum Bahnhof versuchte der Vater ihn umzustimmen und Kafka seinerseits verschwieg Doras Existenz, da die Eltern schon bei seiner vorangegangenen Verlobung mit Julie Wohryzek (1891–1944 KZ Auschwitz), der Tochter eines Lebensmittelhändlers und Synagogendieners, außer sich geraten waren. An den beiden Tagen zuvor war er vor seiner eigenen „Tollkühnheit“, den Umzug nach Berlin und den Schritt in eine neue Beziehung zu wagen, fast zurückgeschreckt. In der Nacht wurde er von unbeschreiblichen „Ängsten“ um den Schlaf gebracht. In Berlin angekommen, zerstreute die gemeinsame kleine Wohnung zwar seine Befürchtungen. Die Inflation machte ein geregeltes Leben jedoch nahezu unmöglich. Im September 1923 kostete ein Brot 4 Millionen Mark. An Ottla schrieb er am 2. Oktober: „… die Preise klettern wie die Eichhörnchen bei Euch, gestern wurde mir fast ein wenig schwindelig davon und die innere Stadt ist davon und auch sonst für mich schrecklich. Aber sonst, hier draußen, vorläufig, hier ist es friedlich und schön. Trete ich abends an diesen lauen Abenden aus dem Haus, kommt mir aus den alten üppigen Gärten ein Duft entgegen, wie ich ihn in dieser Zartheit und Stärke nirgends gefühlt zu haben glaube …“.[56] Zwei Wochen nach seiner Ankunft teilte er Ottla, Brod und Klopstock mit, dass er in Berlin zu bleiben und sogar den Winter dort zu verbringen gedenke.[57] Über „D.“ schwieg er sich jedoch lange aus und schrieb Brod erst am 25. Oktober: „Diamant ist der Name“.[58]
Kafkas Prager Ruhegehalt wurde zwar in tschechischer Währung ausgezahlt, die nicht von der Inflation betroffen war, jedoch leiteten seine Eltern das Geld nur unregelmäßig weiter. Immerhin konnte er auf eine Zukunft als freier Schriftsteller hoffen. Diamant musste sich an seine schreibende Tätigkeit, sein damit verbundenes Schweigen und seine einsamen Spaziergänge erst gewöhnen. Sie schrieb sich für Kurse an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums (Abb. 6 . ) in der Artilleriestraße in Berlin-Mitte[59] ein und musste dafür lernen. Außerdem half sie im Waisenhaus und arbeitete weiterhin ehrenamtlich im Jüdischen Volksheim, wo sie auch an einem Kurs für rhythmischen Tanz teilnahm. In ihrer gemeinsamen Freizeit berichtete sie Kafka über das Leben ihrer Familie in der chassidischen Gemeinde in Polen und zusammen machten sie Pläne für eine Zukunft in Palästina, die jedoch aufgrund seines gesundheitlichen Zustands wenig wahrscheinlich schien. Nachdem die Miete bereits nach zwei Monaten umgerechnet in tschechische Kronen auf mehr als das Zehnfache erhöht worden war, zog das Paar Mitte November in zwei „schön eingerichtete Zimmer“ mit Zentralheizung und elektrischem Licht[60] im ersten Stock der zwei Straßen weiter gelegenen Villa einer Frau Dr. Rethberg in der Grunewaldstraße 13 (Abb. 7 . ).[61] Im selben Monat brachte Brod aus Prag einen schweren Koffer mit Kafkas Wintersachen nach Berlin.[62]
Inzwischen hatten Diamant und Kafka an der jüdischen Hochschule mehrere Kurse belegt und fuhren in der Woche bis zu dreimal mit der Straßenbahn ins Scheunenviertel. Diamant studierte die jüdischen Gesetze, die Halacha, Kafka bei dem in Lemberg geborenen Bibelexegeten und Semitisten Harry Torczyner (Naftali Herz Tur-Sinai, 1886–1973) die jüdischen Erzählungen und Sagen, also die Aggada. Ottla brachte aus Prag Kafkas Pensionsbezüge, die nach Einführung der Rentenmark endlich wieder zum Vorkriegskurs gewechselt werden konnten. Kafkas Schwester wurde für Diamant eine „Vertraute und Verbündete“.[63]
Vor oder nach der Erzählung „Eine kleine Frau“, die nicht nur die vorherige Vermieterin, sondern allgemeiner menschliche Verhaltensweisen beschreibt und analysiert, schrieb Kafka im Winter 1923 die nur als Fragment überlieferte Erzählung „Der Bau“. Darin gerät der Protagonist, ein Dachs oder ein Mischwesen aus Tier und Mensch, das seine unterirdische, labyrinthähnliche Wohnstätte gerade fertiggestellt hat, durch immer lauter werdende Geräusche in einen paranoiden Zustand. Die näherkommende Bedrohung, möglicherweise ein anderes grabendes Tier, veranlasst ihn zu Reflexionen über das eigene Leben, an deren Ende er jedoch vor der nicht aufzulösenden Gefahr und der eigenen Existenz resigniert und schließlich „alles … unverändert“ bleibt, wie es war.[64] Bezogen auf die Entstehungszeit ist die Erzählung mit der „Enge und Schwere des Lebens in der eigenen, viel zu teuren Wohnung“, sind das Labyrinth mit der sich verschlimmernden Krankheit und die Ausweglosigkeit mit der drohenden Rückkehr in das alte Leben in Prag gedeutet worden.[65]
Diamant berichtete J. P. Hodin später, „Der Bau“ sei „in einer einzigen Nacht geschrieben worden. Es war Winter; er begann früh am Abend und war gegen Morgen fertig, dann arbeitete er wieder daran. Er erzählte mir davon, scherzhaft und im Ernst. Es war eine autobiographische Geschichte, und vielleicht war es eine Vorahnung der Rückkehr ins Elternhaus und des Endes der Freiheit, die in ihm dies panische Angstgefühl erregte. Er erklärte mir, dass ich der ‚Burgplatz‘ in diesem Bau sei.“[66] Diesen „Hauptplatz“, also vielleicht Dora, hatte der Protagonist, so Kafka in seiner Erzählung, „wohlerwogen für den Fall der äußersten Gefahr, nicht geradezu einer Verfolgung, aber einer Belagerung … Während alles andere vielleicht mehr eine Arbeit angestrengtesten Verstandes als des Körpers ist, ist dieser Burgplatz das Ergebnis allerschwerster Arbeit meines Körpers in allen seinen Teilen.“[67] „Er hatte das Leben als ein Labyrinth erfahren, aus dem er keinen Ausweg erblicken konnte“, schloss Diamant ihre Betrachtung.
Vermutlich um Weihnachten herum berichtete Ottla den Eltern erstmals von Dora. Diese unterstützten das Paar mit Lebensmittelsendungen. Von den Schwestern traf ein schweres Paket mit Haushaltsgegenständen ein. Vor Weihnachten wurde Kafka krank. In den ersten beiden Januarwochen kehrten allabendliches Fieber, Schüttelfrost, Darmleiden und ein bis zum Morgen anhaltender Husten zurück. Diamant rief einen Arzt vom Jüdischen Krankenhaus, dessen Rechnung, die sie um die Hälfte herunterhandelte, Kafka deutlich machte, dass eine stationäre Einweisung für ihn unbezahlbar werden würde. Laufende Preissteigerungen der Rentenmark veranlassten das Paar zur Kündigung der Wohnung zum 1. Februar 1924 und nährten Befürchtungen, Berlin ganz verlassen zu müssen. Zum besagten Termin zogen sie in eine Einzimmerwohnung in der Villa der Witwe des verstorbenen Lyrikers und Literaturkritikers Carl Hermann Busse (1872–1918) in der Heidestraße 25-26 in Zehlendorf.[68] Inzwischen nahm Diamant die Abendtermine von Kafka, der das Haus seit Monaten zur Nachtzeit nicht mehr verlassen hatte, wahr. Dazu gehörte auch ein Vortragsabend des mit Kafka bekannten Rezitators und Schauspielers Ludwig Hardt im Meistersaal am Potsdamer Platz. Erneut entdeckte auch Diamant ihre eigene Begabung für das Theater, worin Kafka und die Prager Schauspielerin Midia Pines (Midia Kraus, 1893–1965), eine Freundin Kafkas, sie bestärkten.
Es geschah offenbar in der Zehlendorfer Wohnung, dass Diamant einige von Kafkas Arbeiten verbrannte. Von dieser Vorstellung sei er wie besessen gewesen, berichtete sie Hodin, es habe darin gewissermaßen ein trotziges Aufbegehren gelegen: „He wanted to burn everything that he had written in order to free his soul from these ‚ghosts‘. I respected his wish, and when he lay ill, I burnt things of his before his eyes. What he really wanted to write was to come afterwards, only after he had gained his ‚liberty‘.“[69]
[56] Franz Kafka an Ottla Kafka, Berlin-Steglitz 2.10.1923, in: Franz Kafka: Briefe an Ottla und die Familie, Frankfurt am Main 2011, Seite 134 f., https://homepage.univie.ac.at/werner.haas/1923/ok23-106.htm (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).
[57] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 59–74.
[58] Franz Kafka an Max Brod, Ankunftsstempel Praha-Hrad 25.10.1923, in: Max Brod, Franz Kafka – eine Freundschaft 1989 (siehe Anmerkung 1), Seite 434 f., https://homepage.univie.ac.at/werner.haas/1923/bk23-012.htm (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).
[59] Heute Tucholskystraße 9, als Leo-Baeck-Haus Sitz des Zentralrats der Juden in Deutschland.
[60] Franz Kafka an die Eltern, Berlin-Steglitz, Anfang November 1923, https://homepage.univie.ac.at/werner.haas/1923/el23-003.htm (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).
[61] Vergleiche Karen Noetzel: Vor 90 Jahren genoss Franz Kafka das Vorstadtidyll, in: Berliner Woche vom 6.1.2014, https://www.berliner-woche.de/steglitz/c-sonstiges/vor-90-jahren-genoss-franz-kafka-das-vorstadtidyll_a43304 (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).
[62] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 75–92.
[63] Ebenda, Seite 93–105.
[64] Franz Kafka: Der Bau, in: Franz Kafka. Romane und Erzählungen, Frankfurt am Main 2010, Seite 940–968.
[65] Florian Kraiczi: Der Einfluss der Frauen auf Kafkas Werk. Eine Einführung (Schriften aus der Fakultät Geistes- und Kulturwissenschaften, 1), Bamberg: University of Bamberg Press 2008, Seite 119–124, https://fis.uni-bamberg.de/bitstream/uniba/118/1/Dokument_1.pdf (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).
[66] Hodin 1948 (siehe Literatur), Seite 38; zitiert nach Dora Diamant: Mein Leben 1995 (siehe Literatur), Seite 179.
[67] Kafka: Der Bau (siehe Anmerkung 64), Seite 942.
[68] Heute Busseallee 9, neu bebaut; dort Gedenktafel für Franz Kafka. Die Witwe Paula Busse (*1876) wurde 1945 im Getto Theresienstadt befreit.
[69] Hodin 1948 (siehe Literatur), Seite 39.