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Dora Diamant. Aktivistin, Schauspielerin und Franz Kafkas letzte Lebensgefährtin

Dora Diamant, vermutlich Düsseldorf um 1928. Porträtfoto, ein Ausschnitt als Passbild markiert

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Dora Diamant, vermutlich Düsseldorf um 1928. Porträtfoto, ein Ausschnitt als Passbild markiert
Dora Diamant, vermutlich Düsseldorf um 1928. Porträtfoto, ein Ausschnitt als Passbild markiert

Ein engagiertes Mitglied der jüdischen Gemeinde in London
 

Im August 1941 wurde ihr erlaubt, inzwischen als politisch unbelastet eingestuft, nach Manchester in das Haus der britischen Philosophin Dorothy Emmet (1904–2000) überzusiedeln, welche zu dieser Zeit eine junge Kafka-Forscherin beherbergte. Nachdem sie Marianne in einem von Quäkern geleiteten Internat nördlich von Lancaster untergebracht hatte, kehrte sie 1942 nach London zurück. Im Stadtviertel Whitechapel im jüdisch geprägten Londoner East End traf sie Stencl wieder, der dort schon vor Kriegsbeginn eine Gruppe zur Förderung der jiddischen Literatur und Kultur, die bis heute bestehende Friends of Yiddish Group, gegründet hatte und sich seit 1940 der Neuausgabe der Zeitschrift Loshn un lebn widmete. In Diamant fand er eine begeisterte Mitstreiterin für seine „Kampagne, das Jiddische als lebendige Sprache zu bewahren“[104]. Später berichtete er, Diamant habe sich sofort nach ihrer Ankunft seiner Gruppe und der gemeinsamen Arbeit angeschlossen: „Sie veranstaltete Lesungen an den Nachmittagen des Schabbat, las aus jiddischer Literatur vor, besonders aus den Klassikern. Dora Dymants Lesungen von Auszügen aus jiddischen Geschichten oder beispielsweise des Gedichts ‚Monish‘ machten den jiddischen literarischen Nachmittag immer zu einem ‚Yontif‘, einem heiligen Tag.“[105] Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen arbeitete sie als Schneiderin und eröffnete ein Restaurant.

Nach Kriegsende, während Marianne weiterhin schwer krank in einem Kinderkrankenhaus in London lag, versuchte sie sich als Schauspielerin am New Yiddish Theatre im East End, konnte ihre Kunst nach Stencls Einschätzung aber nicht mit den aktuell geltenden Standards in Einklang bringen. Stattdessen schrieb sie Theaterkritiken für Stencls Zeitschrift. Marianne konnte 1947 wieder die High School in South Hampstead besuchen, obwohl sie und inzwischen auch Dora schwer nierenkrank waren. Im selben Jahr empfing sie Josef Paul Hodin zu einem viele Stunden dauernden Interview über Kafka in ihrer Londoner Wohnung. 1948 traf sie in London Marianne Steiner[106] wieder, die Tochter von Kafkas Schwester Valli, welche 1942 im Vernichtungslager Kulmhof ermordet worden war.[107]

Während Doras überlebende Geschwister mit ihren Familien 1948 und im Folgejahr von Deutschland aus in den neu gegründeten Staat Israel auswanderten, musste Dora wegen eines erneuten zweijährigen Krankenhausaufenthalts ihrer Tochter in London bleiben. In der Zwischenzeit engagierte sie sich weiter bei jiddischen Vorträgen, Lesungen und Aufführungen, „bei denen sie sich verkleidete und mehrere Rollen gleichzeitig las – vortragend, mimend, singend und zum Singen ermunternd, alles vor diesem Publikum aufbietend, das man zu alten, fast vergessenen Gefühlen zurückbringen musste“,[108] während die jiddische Kultur und Lebenswirklichkeit nach und nach verschwanden und die jiddische Sprache von Israel ausgehend gegenüber dem Hebräischen aus der Mode kam.

Sie stand in engem Kontakt mit Marianne Steiner und erhielt durch sie Tantiemen aus Kafkas Nachlass. Mit Brod wechselte sie monatlich Briefe. Im Oktober 1949 reiste sie für vier Monate nach Israel. Brod organisierte einen Vortragsabend mit ihr im Habima Theater in Tel Aviv, dem späteren Nationaltheater, zu dem Publikum aus dem Kibbuz Mischmar haScharon, aus Będzin stammende Personen und Kafka-Begeisterte kamen. Sie wohnte natürlich bei ihren Geschwistern, traf Tile Rössler und im Kibbuz En Charod ihren Będziner Hebräischlehrer David Maletz wieder. Ihre Rückreise nach London im Februar 1950 trat sie mit dem Versprechen an, mit ihrer Tochter Marianne zurückzukommen.[109]

Ihre Reise führte sie über Paris, wo sie über mehrere Tage als Ratgeberin und Kritikerin für den Schauspieler und Regisseur Jean-Louis Barrault (1910–1994) fungierte, der am Théâtre Marigny eine Bühnenfassung von Kafkas Roman „Der Prozess“ inszenierte. Sie führte lange Gespräche mit Nicolas Baudy und begründete ihre Freundschaft mit Marthe Robert, die beide anschließend bzw. später ihre Artikel über Dora Dymants Erinnerungen an Kafka veröffentlichten. Zurück in London erwies sich Diamants Tochter Marianne weiterhin als zu krank für eine Reise nach Israel. Im Januar 1951 wurde bei Dora eine schnell fortschreitende chronische Nierenentzündung diagnostiziert. Im März begann sie mit ihren schriftlichen Aufzeichnungen über Kafka, die sie im Wesentlichen in deutscher Sprache verfasste. Über Wochen ans Bett gefesselt, begann sie einen ausführlichen Briefwechsel mit Marthe Robert. Während sie im Krankenhaus lag, kümmerte sich das Ehepaar Steiner um Marianne.

Diamant erlebte, wie seit Beginn der 1950er-Jahre in den USA und in Europa immer mehr Ausgaben und Analysen von Kafkas Werken erschienen. Im März 1952 besuchte der deutsche Schriftsteller Martin Walser (1927–2023) sie in ihrer Wohnung, der im Jahr zuvor über Kafka promoviert hatte[110] und in London an einem Gemeinschaftsprojekt der BBC und des Süddeutschen Rundfunks mitarbeitete. Er berichtete darüber anlässlich des Erscheinens von Kafkas zwischen 1922 und dessen Tod geschriebenen „Briefen an die Eltern“[111]:

„Es war der dunkelste Spätnachmittag meines Lebens. Im Treppenhaus des alten Mietshauses in Chelsea herrschte eine Art Nacht, gegen die die wirkliche Nacht Tag genannt werden muss. Ich tastete mich am Treppengeländer hinauf. Oben öffnete ein dreizehn- oder sechzehnjähriges Mädchen. Das führte mich zu Dora Diamant. – Ich wusste von ihr nur, dass sie bis zuletzt bei Kafka gewesen war. Wie es dabei zugegangen ist, kann man erst jetzt wissen, seit diese wunderbar genaue Brief-Edition vorliegt. Ich sage das, weil ich wenige Gelegenheiten so vollkommen verpatzt habe wie diesen Nachmittag auf dem Stuhl am Bett der Frau, die die letzten zwei Jahre mit Kafka zusammenlebte. Ich kannte ihren Namen nur aus Max Brods Kafka-Biographie. Dort heißt sie Dora Dymant, ist neunzehn oder zwanzig Jahre alt und wird in einer allerdings unvergesslichen Szene eingeführt. […] Am Bett dieser Frau saß ich jetzt, runde dreißig Jahre später. Es gab eine minimale Nachttischlampe, die dem vor Dunkelheit grenzenlos wirkenden Raum ein Lichtinselchen abrang. Dora Diamants Haare, offen. Vielleicht gerade gekämmt von der Tochter. Die mich zu dem Stuhl am Bett brachte und verschwand. Dora Diamant sah krank aus. Aber die eigentliche Katastrophe für mich wurde nicht ihr Zustand, sondern meine Unfähigkeit, diesem Zustand zu entsprechen. Kaum saß ich, griff sie unter eines der vielen Kissen, vor denen sie mehr saß, als dass sie auf ihnen gelegen hätte. Sie holte eine Art Schulheft hervor und fing an vorzulesen. Es waren ihre Aufzeichnungen über Franz Kafka. […] Durch die jetzt erschienenen Briefe an die Eltern und durch Dora Diamants Zusätze zu diesen Briefen kann man ahnen, dass sie zu den wenigen gehört, die in Kafka ein Lebensinteresse geweckt haben. Aber ihre Aufzeichnungen, die sie nach Kafkas Tod gemacht hat, handelten nicht von meinem Kafka, sondern von ihrem. Das war ein Religionsstifter, den ich nicht kannte und den ich, weil ich literarisch borniert war, nicht kennenlernen wollte. Ich war nicht imstande, die ganz und gar religiös bestimmte Erlebnisart einer aus der ostjüdischen Tradition stammenden Frau als Sprache für ein Kafka-Erlebnis gelten lassen zu können. Sie sprach von Kafka wie von einem Erlöser. Das Licht, in dem uns jemand erscheint, stammt immer aus uns selbst. […] Trotzdem hätte ich doch die wirkliche Herkunft des Religionstons der Dora Diamant hören müssen. Aber nein, ich fühlte mich eher abgestoßen von dem Ton, in dem sie ihren Kafka religiös verklärte. Ich hätte doch wenigstens neugierig bleiben müssen. Aber nein, ich war das Gegenteil: borniert. So habe ich eine einmalige Gelegenheit lächerlich verpatzt. Als ich in dieser Brief-Edition, die Dora Diamants Mitwirkung so genau bewahrt, die Sätze dieser Frau las, sah ich, wie nah sie Kafka war, was für eine Hilfe sie für Kafka hätte sein können. Dadurch ist mir das Ausmaß meines damaligen Versagens noch einmal ganz bewusst geworden. Ich ließ Dora Diamant vor ihren Kissen sitzen, fuhr von Chelsea zurück zum Picadilly Circus und ging ins Theater.“[112]

Am 15. August 1952 starb Dora Diamant im Beisein ihrer Tochter Marianne im Plaistow Hospital in West Ham, East London (Abb. 17 . ). Sie wurde drei Tage später im Kreis ihrer engsten Freunde auf dem Friedhof der United Synagogue in der Marlow Road in East Ham bestattet (Abb. 18 . ). Marianne Lask beantragte anlässlich ihrer Volljährigkeit die britische Staatsbürgerschaft. Ihr Vater Lutz hatte das sibirische Arbeitslager überlebt und war 1946 nach Nowosibirsk entlassen worden. Berta Lask, die in Ost-Berlin lebte und 1948 die Rückkehr ihres Sohnes Hermann und seiner Familie aus der Sowjetunion erreicht hatte, gelang es 1953, Lutz nach Berlin zu holen. In einer alten Zeitung fand er zufällig einen Nachruf auf Dora und erfuhr von der Existenz seiner Tochter Marianne in London. 1955 gelang der erste briefliche Kontakt. Im Jahr darauf reiste Marianne nach Ost-Berlin und lernte auch ihre Großmutter und andere Familienmitglieder kennen. Lutz Lask starb 1973 in Berlin. Marianne Lask starb 1982 im Alter von 48 Jahren vereinsamt und geistig umnachtet in London.[113]

 

Axel Feuß, Mai 2023

 

 

[104] Valencia 1997 (siehe Anmerkung 85), Seite 8.

[105] A. N. Stencl: Über den ersten Jahrestag des Todes der Schauspielerin Dora Dimant, in: Yoyvl-almanakh. Loshn un lebn, 1956. Unzer beyshteyer tsu der fayerung der tsurikker fun yidn for 300 yor in england, London 1956; zitiert nach Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 280.

[106] Über Kafkas letzte Nachlassverwalterin Marianne Steiner vergleiche Hanns Zischler: Kafkas Nichte. Gedenkblatt für Marianne Steiner, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 264 vom 13.11.2000, Seite 55; erneut auf https://www.franzkafka.de/fundstuecke/kafkas-nicht-gedenkblatt-fuer-marianne-steiner (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).

[107] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 272–307.

[108] Robert 1952 (siehe Literatur), zitiert nach Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 312.

[109] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 309–322.

[110] Erstmals publiziert als Martin Walser: Beschreibung einer Form. Versuch über Franz Kafka (Reihe Literatur als Kunst), München: Hanser 1961.

[111] Franz Kafka: Briefe an die Eltern aus den Jahren 1922–1924, herausgegeben von Josef Čermák und Martin Svatoš, Frankfurt am Main: S. Fischer 1990.

[112] Martin Walser: Kafkas Stil und Sterben. Letzte Briefe und Postkarten, in: Die Zeit, Nr. 31 vom 26.7.1991, https://www.zeit.de/1991/31/kafkas-stil-und-sterben/komplettansicht (zuletzt aufgerufen am 04.08.2023).

[113] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 323–363.