Dora Diamant. Aktivistin, Schauspielerin und Franz Kafkas letzte Lebensgefährtin
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Flucht in die Sowjetunion und Emigration nach Großbritannien
Am 1. März 1934 brachte Dora ein Mädchen, Franziska Marianne, zur Welt. Bei der Gestapo erreichte sie die vorzeitige Entlassung ihres Mannes, der sich jedoch täglich auf dem Polizeirevier zu melden hatte. Ende Oktober floh er zu seiner Mutter nach Prag, die wenig später nach Moskau emigrierte. Lutz folgte ihr vier Monate später in die Sowjetunion. Während Berta als Bibliothekarin bei der Russischen Staatsbibliothek arbeitete, erhielt Lutz eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Marx-Engels-Lenin-Institut. Dora stellte im November 1934 einen Ausreiseantrag in die Sowjetunion. Während sie auf die Einreiseerlaubnis nach Russland wartete, erneuerte sie ihren Kontakt zu Stencl, dessen polnisch-jüdischer Literatengruppe sie beitrat. Die Verabschiedung der „Nürnberger Gesetze“ am 15. September 1935 zementierte die Ausgrenzung der Juden aus der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“. Gegen Ende des Jahres 1935 gelang es Berta, Jacobsohn eine Einladung in die Sowjetunion zu verschaffen, damit er seine Forschungen an der Universität in Sewastopol fortführen konnte. Dora und ihrer Tochter (Abb. 15 . ) wurde erlaubt, den Schwiegervater auf der Reise zu begleiten.
Für den Abend vor der Abreise am 11. Februar 1936 organisierte Stencl eine heimliche Feier in einem jüdischen Restaurant zu Ehren des russisch-jüdischen Dichters Mendele Moicher Sforim (Scholem Jankew Abramowitsch, 1835/36–1917), die zugleich als fiktive Hochzeitsfeier zwischen Diamant und Stencl getarnt war. Stencl berichtete noch im selben Jahr in einer in Warschau erschienenen jiddischen Zeitschrift über diesen Abend: „Am Kopf des Tisches war Dora Dymant, eine professionelle Schauspielerin und Freundin von Franz Kafka, die ‚Braut‘, und ich war der ‚Bräutigam‘. Um uns herum waren ein paar Dutzend Mitglieder unserer nun nicht existierenden Gruppe, die noch in Berlin waren, und ein paar andere Liebhaber des Jiddischen.“ Dora habe ein Kapitel aus Mendeles Geschichte „Dos wintschfingerl“ [Der Wunschring] gelesen, Stencl habe einen Vortrag über Mendele gehalten. „Wir sangen alle jiddische Lieder, die dadurch, dass wir, eine Gruppe in Nazi-Deutschland verfolgter Juden, noch immer am Hundertjährigen unseres großen klassischen Autors teilhaben konnten, fröhlich und lustig machten.“[99] Diamant habe mit einer Geldspende dafür gesorgt, dass Stencls Vortrag in einer besonderen Ausgabe gedruckt werden konnte. Am folgenden Tag reisten Jacobsohn, Diamant und Marianne, von der Gestapo genau beobachtet, vom Berliner Bahnhof nach Moskau ab.[100] Bei einem kurzen Aufenthalt in Będzin stellte Dora ihre Tochter der Familie vor.
In Moskau staunte Diamant über die Existenz des 1924 gegründeten jiddisch-sprachigen Staatlichen Jüdischen Theaters, welches sie an einem der ersten Abende besuchte. Im Februar 1936 beantragte sie die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Ihre Aufnahmeformulare und der darin enthaltene Lebenslauf bildeten später die Quelle für die Rekonstruktion ihrer Biografie. Während Jacobsohn und Berta Lask in Sewastopol lebten, blieben Lutz und Dora in Moskau. Die stalinistischen Schauprozesse und wechselseitige Bespitzelungen unter den aus Deutschland eingewanderten ehemaligen KPD-Mitgliedern belasteten ihre Ehe. Schwere Erkrankungen von Marianne, darunter Scharlach und Kindertuberkulose, machten Aufenthalte im milderen Klima von Sewastopol notwendig. Im Frühjahr 1937 beantragte Diamant erstmals die Ausreise in die Schweiz für einen Klinikaufenthalt ihrer Tochter.
Im Juni 1937 wurde Diamants „Überführung“ von der deutschen KPD in die Kommunistische Partei der Sowjetunion wegen politischer Inaktivität und aufgrund von Verbindungen zu mittlerweile verhafteten Personen abgelehnt. Lutz Lask wurde wie alle übrigen ausländischen Mitarbeitenden des Marx-Engels-Lenin-Instituts entlassen und bald darauf wegen früherer Kontakte zu inzwischen inhaftierten ehemaligen KPD-Mitgliedern verwarnt. Im März 1938 wurde er vom Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (NKWD) verhaftet, als Spion angeklagt, wenig später ohne Verhandlung zu fünf Jahren Arbeits- und Erziehungslager verurteilt und in die Kolyma-Region im fernöstlichen Sibirien deportiert. Die Verbindung zu Dora, die weiterhin ihren deutschen Pass besaß, brach für immer ab. Ihr und Marianne (Abb. 16 . ) gelang kurz darauf auf unbekannten Wegen die Flucht aus der Sowjetunion.[101]
An der Schweizer Grenze wurden sie abgewiesen. In Deutschland war ihr Name als „Lask, Dora, geborene Dymant“ auf Fahndungslisten vermerkt. Im Winter 1938 gelang die Einreise in die Niederlande, wo sie und Marianne bei der älteren Schwester von Lutz und deren Mann, Ruth und Ernest Friedländer, welche im Oktober 1933 von Berlin nach Den Haag emigriert waren, Unterschlupf fanden. Mehrere Versuche, mit der Fähre von Hoek van Holland nach Großbritannien einzureisen, scheiterten. In Friedländers Wohnung traf sie mit dem niederländischen Schriftsteller, Kafka-Forscher und Antifaschisten Menno ter Braak (1902–1940 Freitod anlässlich der deutschen Invasion) zusammen. Am 14. März 1939 gelang es Brod, der zwei Jahre zuvor seine erste Kafka-Biografie veröffentlicht und darin auch über Diamants Beziehung zu Kafka berichtet hatte, von Prag nach Palästina auszuwandern.
Diamant erhielt schließlich am 16. März eine befristete Aufenthaltsgenehmigung für Großbritannien und holte Marianne Ende August 1939 nach. Ihre Heimatstadt Będzin wurde am 9. September 1939 und in den Tagen danach von deutschen Truppen zerstört. Ihr Vater war im Jahr zuvor gestorben. Andere Familienmitglieder wurden in deutsche Arbeits- und Konzentrationslager verschleppt. Von Diamants elf Geschwistern überlebten nur drei das Kriegsende in einem Sammellager in Dachau.[102] Ende Mai 1940 wurden Diamant und ihre Tochter zunächst in London und vier Tage später zusammen mit weiteren über 3.000 aus dem „feindlichen Ausland“ stammenden Frauen und Kindern auf der Isle of Man interniert. Freie Zeit verbrachte sie damit, Theatervorstellungen, Konzerte, Vorträge und jiddische Lesungen zu organisieren.[103]
[99] Avrom-Nokhem Shtentsl: A Mendele-ovnt in Berlin, in: Literarisze bleter. Ilustrirte vokhnshrift far literatur, teater un ḳunst, Warschau: Farlag B. Kletskin, 17.1.1936, Seite 33 f.; hier zitiert nach dem Manuskript im Archiv Bibliographia Judaica e.V., Goethe-Universität Frankfurt am Main; Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 234.
[100] Landesarchiv Berlin; ebenda, Seite 235.
[101] Kathi Diamant 2013 (siehe Literatur), Seite 237–252.
[102] Ebenda, Seite 291.
[103] Ebenda, Seite 253–271.