Die Kinder vom Bullenhuser Damm
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Ende April 1944 fuhr Heißmeyer erstmals zusammen mit dem Leiter des Amtes für Sanitätswesen und Lagerhygiene des SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamts, Dr. Enno Lolling, ehemals Lagerarzt der Konzentrationslager Dachau und Sachsenhausen, nach Neuengamme. Lagerkommandant Max Pauly hatte dort eine Baracke für Heißmeyers Experimente vorbereiten lassen. Die Fenster waren weiß gestrichen und ein Bretterzaun war errichtet worden, damit das Innere nicht eingesehen werden konnte. Heißmeyer lernte dort auch den Standortarzt, Dr. Alfred Trzebinski, kennen, der die Versuche überwachen sollte.
Die Experimente begannen im Juni 1944 und wurden zunächst überwiegend an polnischen und sowjetischen Gefangenen durchgeführt. Die Probanden kamen zunächst aus drei Gruppen von Kranken: solchen mit doppelseitiger Lungentuberkulose, Personen mit nur einem befallenen Lungenflügel und solchen mit Tuberkulosebefall in anderen Organen. Anschließend wurden „zur Kontrolle“ gesunde Gefangene mit Tuberkulose infiziert. Die hoch ansteckenden lebenden Tuberkelbazillen, die Heißmeyer verwendete, stammten aus einem bakteriologischen Institut in Berlin, das jedoch nichts von den Menschenversuchen wusste. Schon die Herstellung der Injektionslösungen in der Baracke in Neuengamme fand unter unprofessionellen und damit lebensgefährlichen Bedingungen statt. Den Gefangenen wurden lebende Bazillenstämme in den Bereich des Herzmuskels injiziert. Nach einer Woche wurde ihnen Lymphknoten entnommen, diese nach Berlin geschickt und aus ihnen neue TB-Kulturen gewonnen. Diese wurden den Probanden im Abstand von 14 Tagen erneut gespritzt, aber auch eigener infizierter Speichel wurde ihnen in Hautritzungen eingerieben. Den gesunden Probanden wurde Tuberkulose-Serum durch einen Gummischlauch in die Lungen eingeführt.
Mit der medizinischen Betreuung der Probanden wurden anfangs zwei inhaftierte polnische Ärzte betraut, Dr. Tadeusz Kowalski, der zuvor im KZ Auschwitz eingesessen war, und Dr. Zygmunt Szafrański. Beide überlebten das Kriegsende und konnten 1946 vor Gerichten aussagen: Kowalski im Neuengamme-Hauptprozess vor dem britischen Militärgericht in Hamburg, Szafrański vor dem Untersuchungsrichter Kazimierz Borys in Radom.[8] Heißmeyer ersetzte Kowalski und Szafrański später durch zwei inhaftierte französische Ärzte, Prof. Gabriel Florence und Dr. René Quenouille, die am 20. April 1945 gemeinsam mit den Kindern erhängt wurden, damit sie nicht mehr aussagen konnten. Wie viele Erwachsene sich Heißmeyers pseudo-medizinischen Experimenten unterziehen mussten, ist nicht bekannt. Insgesamt sind es vermutlich über 100 gewesen. Von 32 Versuchspersonen haben sich Krankenakten erhalten. Mindestens 16 ursprünglich gesunde Probanden wurden mit Tuberkulose infiziert.[9] Die Folgen waren hohes Fieber, Schwellungen der Lymphknoten, Entzündungen und die Bildung von Abszessen. Nach Abschluss der Experimente wurden einige Häftlinge exekutiert, anschließend seziert und die Befunde von Heißmeyer ausgewertet. Andere starben Tage oder Wochen nach den Versuchen. Die Überlebenden blieben gesundheitlich schwer geschädigt.[10]
Dr. Tadeusz Kowalski sagte am 22. März 1946 in Hamburg im Neuengamme-Hauptprozess, auch Curiohaus-Prozess genannt, aus: „Das erste Mal kam er [Heißmeyer] im Sommer 1944 und gab dem SDG [SS-Sanitätsdienstgrad] Befehl vom Revier II 50 Kranke zu bringen […]. Von diesen 50 hat er 20 oder 25 ausgesucht mit einseitiger Tbc. […] Es waren Russen und Polen. […] Dr. Schrapansky [Szafrański] wurde mit diesen sechs Tage eingesperrt. Es war ihm streng untersagt hinauszugehen. Das Essen wurde ihm vom SDG gebracht. Er musste Krankengeschichten machen und klinische Beobachtungen, dabei für Sauberkeit und Ordnung sorgen. […] Ich habe Aufnahmen gesehen, mit Gummischläuchen, die durch die Bronchien in die Lungen geleitet worden waren. Die Aufnahmen hat Prof. Heißmeyer gemacht. Quenouille war dabei und hat gesagt, dass er entweder Tbc-Sputum oder Spezial-Tbc in die gesunde Lunge gespritzt hat. […] Nach ein paar Wochen hat Quenouille neue Röntgenaufnahmen gezeigt, auf denen große spezifische Infiltrate zu sehen waren. Auch mit anderen Kranken haben sie Einreibungen gemacht und nach ein paar Wochen Drüsen von diesen Kranken entfernt. Der Zustand dieser Kranken war später sehr schwer und ich weiß genau, dass bis zum 18. April [1945] 50 % von diesen Kranken gestorben sind.“[11]
[8] „Vor Gericht machte [Kowalski] detaillierte Angaben zu den Menschenversuchen, die der Arzt Dr. Kurt Heißmeyer dort an Häftlingen durchführte.“ (Ausstellungstafel Die Zeugen im Hauptprozess zum KZ Neuengamme, http://media.offenes-archiv.de/Rathausausstellung_2017_Curio_10.pdf) In Polen berichtete Kowalski in einer Vorlesung vor der lokalen medizinischen Gesellschaft in Kowary am 27.6.1946 von den Experimenten. Eine Zusammenfassung erschien in der Zeitschrift Śląska Gazeta Lekarska, Band 2, 1946, Nr. 11, Seite 712; Online-Ressource: https://sbc.org.pl/dlibra/publication/391232/edition/368708/content. – Witness Szafrański Zygmunt, auf: Zapisy terroru, https://www.zapisyterroru.pl/dlibra/publication/2017/edition/1999/content?&navref=MWswOzFqaSAyeDE7MndpIDFrMTsxamo
[9] Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 33–36, sowie Sterkowicz 1977/2021, siehe Literatur und Online
[10] Medizinische Experimente an Häftlingen: Die Tuberkuloseexperimente des SS-Arztes Dr. Kurt Heißmeyer, auf: auf: Mediathek Ausstellungen Neuengamme, http://www.neuengamme-ausstellungen.info/content/documents/thm/ha3_5_1_2_thm_2523.pdf
[11] Curiohaus-Prozess 1969 (siehe Literatur), Seite 100 f., zitiert nach: Medizinische Experimente an Häftlingen (siehe Anmerkung 10)