Die Kinder vom Bullenhuser Damm
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Eduard Reichenbaum wurde am 15. November 1934 als Sohn von Sabina und Ernst Reichenbaum, die schon einen zwei Jahre älteren Sohn, Jerzy, hatten, im polnischen Kattowitz geboren. Der Vater arbeitete als Buchhalter in einem deutschsprachigen Verlag. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zog die Familie nach Piotrków, wo die Großeltern wohnten. 1943 wurde sie von den Deutschen im Zwangsarbeitslager Bliżyn südwestlich von Radom interniert, wo Eduard und Jerzy Strümpfe für die deutsche Wehrmacht produzieren mussten. Im September 1944 wurde die Familie in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Jerzy und sein Vater kamen in das Männerlager, wo Ernst Reichenbaum im November 1944 starb. Eduard und seine Mutter kamen zunächst ins Frauenlager, bis Sabina Reichenbaum im November 1944 wie die Mütter von Riwka Herszberg und Walter Jungleib in das KZ-Außenlager Lippstadt gebracht wurde. Eduard wurde in die Kinderbaracke verlegt und am 28. November 1944 ins KZ Neuengamme gebracht. Zwei Wochen zuvor war er zehn Jahre alt geworden. Jerzy wurde bei der Räumung des KZs Auschwitz erst ins KZ Sachsenhausen und dann ins KZ Mauthausen transportiert. Er überlebte und konnte nach der Befreiung nach Israel emigrieren, wohin ihm seine Mutter 1947 folgte. Jerzy, der sich in Israel Ytzhak nannte und heiratete, starb 2020 in Haifa.
Marek Steinbaum (Szteinbaum, Sztajnbaum) wurde am 26. Mai 1937 als Sohn von Mania, geborene Tauber, und Rachmiel Steinbaum in Radom geboren. Die Familie besaß dort eine kleine Lederfabrik. Aus dem im März 1941 von den deutschen Besatzern eingerichteten Getto kam die Familie in das Zwangsarbeitslager Pionki und wurde vermutlich Anfang Oktober 1944 ins KZ Auschwitz deportiert. Der Vater kam von dort in die Konzentrationslager Buchenwald, Groß-Rosen und in ein Außenlager des KZs Natzweiler-Struthof bei Stuttgart, wo er das Kriegsende überlebte. Die Mutter kam im November 1944 in das Frauen-Außenlager des KZs Groß-Rosen im böhmischen St. Georgenthal/Jiřetín, wo auch die Mütter von Marek James und von Eleonora und Roman Witoński inhaftiert waren, und überlebte ebenfalls. Als Marek am 28. November 1944 ins KZ Neuengamme transportiert wurde, war er sieben Jahre alt. Rachmil und Mania Steinbaum lebten nach Kriegsende in Memmingen, wo sie 1947 eine Tochter bekamen. 1949 wanderte die Familie in die USA aus.
H. Wasserman, ein Mädchen aus Polen, acht Jahre alt, wurde vermutlich 1937 geboren. Nachname, Alter, Geschlecht und Herkunft sind lediglich von jener Liste bekannt, die Dr. Henry Meyer 1945 in dem Buch „Rapport fra Neuengamme“ in Kopenhagen veröffentlichte. Die Anfangsbuchstaben H.W. sind außerdem auf einem Notizblatt des Lagerarztes Kurt Heißmeyer vermerkt, der die medizinischen Experimente an den Kindern durchführte.
Eleonora und Roman Witoński stammten aus Radom in Polen. Roman wurde am 8. Juni 1938 geboren, Eleonora am 16. September 1939. Zusammen mit ihrer Mutter Rucza und ihrem Vater Seweryn Witoński, einem Kinderarzt, mussten sie in dem im Frühjahr 1941 von den deutschen Besatzern in Radom eingerichteten Getto leben. An mehreren Tagen um den 21. März 1943 organisierte die deutsche Schutzpolizei in Radom und umliegenden Orten die sogenannte „Purim-Aktion“, bei der ca. 150 Jüdinnen und Juden ermordet wurden. Dabei wurden aus dem Getto Radom über 100 Personen, die sich zuvor beim Judenrat für eine Ausreise ins Ausland gemeldet hatten, darunter auch die Familie Witoński, zum jüdischen Friedhof in Szydłowiec 20 Kilometer südwestlich von Radom gebracht. Auf der Fahrt dorthin stießen zwei Lastwagen mit Freiwilligen hinzu, die auf dem Friedhof begannen die Menschen zu erschießen.[5] Dabei wurde auch Seweryn Witoński ermordet. Nachdem das Feuer aus unerfindlichen Gründen eingestellt wurde, entdeckte man seine Ehefrau und die Kinder versteckt hinter einem Grabstein und brachte sie zusammen mit anderen Überlebenden ins Getto zurück. Sie wurden Ende Juli 1944 über das NS-Zwangsarbeitslager Pionki in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Rucza Witońska überlebte das Kriegsende, emigrierte nach Frankreich, heiratete und bekam einen weiteren Sohn. Unter ihrem neuen Namen Rose Grumelin suchte sie über dreißig Jahre nach ihren Kindern und erfuhr schließlich 1981 von deren Schicksal in Hamburg. Sie hatte sie zuletzt im November 1944 im KZ Auschwitz gesehen, als man die drei auf das Frauenlager und auf die Kinderbaracke verteilte. Als Roman und Eleonora wenig später ins KZ Neuengamme gebracht wurden, waren sie sechs und fünf Jahre alt. Rose Grumelin starb 2012 mit 99 Jahren in Paris.[6]
[5] Wolfgang Curilla: Der Judenmord in Polen und die deutsche Ordnungspolizei 1939-1945, Paderborn 2011, Seite 483. Vergleiche auch: Szydłowiec, auf: Cmentarze żydowskie w Polsce, https://bloodandfrogs.com/wp-content/uploads/encyclopedia/poland/kirkuty/szydlowiec.htm
[6] Vergleiche ausführlicher http://media.offenes-archiv.de/Koffer_Kind_H_17_Witonski_110228_1.pdf