Die Kinder vom Bullenhuser Damm
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Pauly hatte nach der Säuberung des Lagers 2.000 übrig gebliebene Verpflegungspakete des schwedischen Roten Kreuzes auf einen Lastwagen geladen und war damit zum Wohnhaus seiner Schwiegereltern in Westerdeichstrich unweit von Büsum im Kreis Dithmarschen gefahren. Dort teilten sich Pauly und der ihn begleitende ehemalige Kantinenverwalter Jacobsen die Beute in Form von 400.000 Zigaretten, 20.000 Tafeln Schokolade sowie 20.000 Päckchen Tee und Kaffee. Ab dem 3. Mai versteckte sich Pauly im Haus seiner Schwägerin in Flensburg, wohin die provisorische Reichsregierung unter der Führung von Dönitz geflohen war. Zwölf Tage später verhafteten ihn dort Zivilfahnder der britischen Armee und brachten ihn ins Internierungslager nach Neumünster. Frahm wurde in seinem Heimatort Kleve in Dithmarschen, Dreimann und Speck wurden in der Umgebung von Lübeck gefasst und ebenfalls nach Neumünster gebracht. Jauch wurde von der Militärpolizei in seiner Heimatstadt Schwenningen im Schwarzwald verhaftet und ins britische Internierungslager Eselsheide bei Paderborn transportiert.
Auch Trzebinski hatte schwedische Rotkreuz-Pakete an sich gebracht, damit einen Krankenwagen beladen und war mit seiner Fracht zu Kameraden nach Husum gefahren. Dort tauschte er die SS-Insignien an seiner Uniform und fungierte seitdem, wie er später selbst zu Papier brachte, „im dortigen Reservelazarett als Stabsarzt der Wehrmacht.“ Später ließ er sich an ein Hamburger Lazarett versetzen und gelangte von dort als Militärarzt ans britische Entlassungslager in Hesedorf bei Neumünster. Frau und Tochter ließ er in einem benachbarten Gasthof wohnen. Niemand fragte nach seinen Papieren, bis schließlich Ende Januar 1946 der spätere Major Anton Walter Freud von der in Bad Oeynhausen stationierten WCIT No. 2 den Weg von Trzebinski bis nach Hesedorf verfolgt hatte, ihn dort festnehmen und ins Internierungslager Westertimke nordöstlich von Bremen bringen ließ.[33] Wiehagen war als SS-Bewacher auf dem Gefangenenschiff Cap Arcona eingesetzt gewesen, soll bei dessen Untergang auf Häftlinge geschossen haben und war daraufhin offenbar von einem Gefangenen erschlagen worden. Petersen, der den LKW mit den Kindern von Neuengamme zum Bullenhuser Damm gefahren hatte, blieb von den Strafverfolgern unbehelligt und wurde auch nicht als Zeuge befragt. Er lebte nach dem Krieg im dänischen Sonderburg.
Strippel tauchte nach Kriegsende bei einem SS-Kameraden im schleswig-holsteinischen Büdelsdorf und anschließend als Landarbeiter in Hessen unter. Im Dezember 1948 wurde er in der Innenstadt von Frankfurt am Main von einem ehemaligen Häftling des KZs Buchenwald erkannt und wenig später festgenommen. Im Juni 1949 wurde er in Frankfurt wegen gemeinschaftlichen Mordes an 21 Häftlingen im KZ Buchenwald zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. 1970 wurde das Urteil aufgehoben und wegen Beihilfe auf sechs Jahre verkürzt. Für die zu viel verbüßten Jahre enthielt er eine Haftentschädigung von 121.500 DM. Im Curiohaus-Prozess war er zwar von den Mittätern belastet worden. Jedoch stellte die Staatsanwaltschaft Hamburg das Verfahren gegen ihn wegen der Morde am Bullenhuser Damm im Juni 1967 aus Mangel an Beweisen ein, da auch eine Verschwörung der anderen Tatbeteiligten gegen ihn infrage gekommen wäre. In der rechtlichen Würdigung des Falls erkannte der zuständige Staatsanwalt Helmut Münzberg: „Die Ermittlungen haben nicht mit der erforderlichen Sicherheit ergeben, dass sich die Kinder über Gebühr lange quälen mussten, bevor sie starben. Im Gegenteil spricht manches dafür, dass sämtliche Kinder gleich nach Empfang der ersten Spritze das Bewusstsein verloren und aus diesem Grunde alles weitere, was mit ihnen geschah, nicht wahrgenommen haben. Ihnen ist also über die Vernichtung des Lebens hinaus kein weiteres Übel zugefügt worden, sie hatten insbesondere nicht besonders lange seelisch oder körperlich zu leiden.“[34] Nach einer erneuten Strafanzeige von den Angehörigen der Opfer nahm die Staatsanwaltschaft Hamburg 1979 die Ermittlungen wieder auf und klagte Strippel 1983 wegen 42fachen Mordes an den Kindern, den Häftlingsärzten und Pflegern sowie den sowjetischen Gefangenen an. Wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten stellte das Landgericht Hamburg das Verfahren 1987 ein. Strippel starb 1994 in Frankfurt am Main.[35]
[33] Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 77–79
[34] Zitiert nach: Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 126; außerdem bei Hans Canjé: „Aber grausam war der Mord nicht …“ in: Ossietzky – Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft, Nr. 23, 2007; Online-Ressource: https://www.sopos.org/aufsaetze/473d628b6a511/1.phtml.html
[35] Schwarberg: SS-Arzt 1997 (siehe Literatur), Seite 118–120. Zur Biografie von Arnold Strippel und den anderen Tätern vergleiche auch: Die Täter, auf: Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm e.V., http://www.kinder-vom-bullenhuser-damm.de/die_taeter.php