Wojciech Kossak: Erinnerungen, 1913
Nach einjähriger Dienstzeit ging Kossak 1877 – der Autor nennt selten konkrete Jahreszahlen, die sich der Leser daher aus dem Zusammenhang erschließen muss – auf Anraten des Vaters nach Paris, um sein Studium der Malerei in den Kunstschulen von Léon Bonnat (1833-1922) und Alexandre Cabanel (1823-1889) zu vervollständigen. Einer seiner ersten Wege galt einem Freund des Vaters, dem Grafen Konstantin Branicki und dessen Frau,[9] die „ihr Heim zum Sammelpunkt der polnischen Kreise gemacht“ hatten, täglich eine Gruppe polnischer Exilanten zum Morgentee einluden, Almosen an Bittsteller verteilten und außerdem die polnische Schule von Batignolle, ein Projekt des Bruders Xavier, sowie die polnische Kirche von Paris, Notre-Dame de l'Assomption, finanziell unterstützten (S. 61 f.). Durch Vermittlung des polnischen Malers Henryk Rodakowski (1823-1894) lernte Kossak Bonnat kennen, der ihn in seine private Malschule aufnahm. Wer hofft, kunsthistorische Einblicke in Kossaks immerhin sechsjährige Studienzeit in Paris zu gewinnen, wird im entsprechenden Kapitel lediglich zwei ausführlich geschilderte Anekdoten vorfinden: die von allerlei Schabernack begleitete Aufnahme des Neulings in die Malschule (S. 64-67) und die misslungene Hängung eines von Kossak gemalten Damenporträts im Pariser Salon (S. 69-74). Ohne Erwähnung in den „Erinnerungen“ bleiben auch Kossaks Rückkehr von Paris nach Krakau 1884, seine Heirat, die Eröffnung eines eigenen Ateliers und die folgenden neun Jahre seiner dortigen künstlerischen Tätigkeit.
Jedoch berichtet er im Kapitel „Gödöllő“ von der ersten Präsentation eines Bildmotivs im Wiener Künstlerhaus im Jahr 1886, das auf den Erlebnissen seiner militärischen Dienstzeit beruhte (S. 77). Die lebensgroß gemalte Szene eines Bajonettangriffs von Infanteriejägern mit einem berittenen Offizier und einem Trompeter zu Pferd, im Buch als Schwarzweißtafel abgebildet (Abb. 3), erregte das Interesse Kaiser Franz Josephs I., der die Ausstellung eröffnete und bei einem Rundgang den Maler des Bildes kennen zu lernen wünschte. Kossak, in der Uniform eines Ulanen-Leutnants, erklärte dem Kaiser seine Herkunft als Sohn von Juliusz Kossak, erläuterte seine militärische und künstlerische Laufbahn und gab Auskunft zu seinem Bild. Der Ankauf des Gemäldes, das später im Arbeitszimmer des Kaisers in der Hermesvilla in Lainz hing, mündete in einer Einladung zu einer Parforcejagd in die königlich-ungarische Jagdresidenz Schloss Gödöllő nordöstlich von Budapest. Natürlich machte Kossak, „ein Vollblutpole, das schönste Kavalleriematerial von Geburt“, bei der Jagd eine hervorragende Figur und wurde vom Kaiser mit Lob honoriert (S. 89). Seitenlange Schilderungen der Hetzjagd mit Pferden und Hunden werden heute nur noch für Jagdhistoriker und Kenner der Donaumonarchie von Interesse sein.
Ab 1893 arbeitete Kossak gemeinsam mit dem Lemberger Maler Jan Styka (1858-1925) am Panorama der Schlacht von Racławice, das im Jahr darauf auf der Landesausstellung in Lemberg der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Der Erfolg dieses Rundgemäldes[10] bewegte den seit 1886 in Berlin lebenden und im Dienst Kaiser Wilhelms I. arbeitenden polnischen Maler Julian Fałat (1853-1929)[11], Kossak die Zusammenarbeit an einem weiteren Panoramagemälde anzubieten. Gemeinsam einigten sie sich auf das Thema „Die Überquerung der Beresina durch die Truppen Napoleons“. Während Fałat für die Errichtung eines entsprechenden Gebäudes in Berlin und die technischen Vorbereitungen zu sorgen hatte, reiste Kossak gemeinsam mit den Malern Michał Gorstkin Wywiórski (1861-1926) und Kazimierz Pułaski (1861-1947)[12], ein Cousin Kossaks, nach Litauen „um die Ufer der Beresina kennen zu lernen“. Aus dem Kriegsministerium in Wien ließ er große Mengen an Literatur kommen, um die historischen Grundlagen zu studieren.
Das Kapitel „Berlin“ in Kossaks „Erinnerungen“, das mit der Arbeit an diesem Panorama beginnt, berichtet über einen Zeitraum von sieben Jahren und umfasst 35 Seiten des Buches. Kossak selbst bezeichnet diesen Abschnitt als den vielleicht interessantesten seines Lebens.[13] Vermutlich aufgrund der Anfeindungen aus Polen war es der besondere Wunsch des Autors, diese Erinnerungen noch zu seinen Lebzeiten zu veröffentlichen um jedem „Vorwurf der Unwahrheit oder auch nur einer allzu üppigen Phantasie“ persönlich entgegentreten zu können (S. 93 f.).
Das Gebäude für das Panoramagemälde wurde gegenüber dem am Königsplatz (heute Platz der Republik) gelegenen Gebäude des kaiserlichen Generalstabs unweit des Reichstags errichtet. Im Inneren wurden Gerüste und Öfen aufgebaut. Auf vier großen Leinwänden, die den Himmelsrichtungen entsprachen, legte Fałat die Farben der Landschaften nach dem jeweiligen Sonnenstand an, reiste dann aber nach Krakau, weil er als Nachfolger des verstorbenen Jan Matejko (1838-1893) zum Direktor der Schule der Schönen Künste/Szkoła Sztuk Pięknych ernannt worden war. Wywiórski übertrug die von Fałat im Aquarell entworfenen Schneelandschaften auf die Leinwände, während Kossak, unterstützt von Pułaski, die figürlichen Kompositionen entwarf und ausführte.
[9] Gemeint ist offenbar der jüngere Bruder und Erbe des Grafen Xavier/Franciszek Ksawery Branicki (1816-1879), eines enorm vermögenden Exilpolen, der sowohl patriotische Aktivitäten in Polen als auch die polnischen Emigranten und Institutionen in Frankreich unterstützte.
[10] Das Panorama von Racławice wurde 1946 aus dem seit 1944 sowjetrussischen Lvov/Lemberg nach Wrocław/Breslau gebracht und ist heute in einem 1985 eigens dafür errichteten Gebäude zu besichtigen. Siehe auch: https://mnwr.pl/category/oddzialy/panorama-raclawicka/ und https://www.youtube.com/watch?v=bLNoOpOIXTw
[11] Ausführliche Biografie zu Julian Fałat auf diesem Portal in der Encyclopaedia Polonica, https://www.porta-polonica.de/en/node/599
[12] Ausführliche Biografie zu Kazimierz Pułaski auf diesem Portal in der Encyclopaedia Polonica, https://www.porta-polonica.de/en/node/739
[13] Außerdem sind von Kossaks Aufenthalt in Berlin über 400 Briefe an seine Frau in Krakau erhalten, in denen der Maler nahezu täglich über die Berliner Ereignisse berichtete. Kossaks in verschiedenen Bibliotheken erhaltene Briefe wurden in zwei Bänden auf Polnisch herausgegeben von Kazimierz Olszański (Herausgeber): Wojciech Kossak. Listy do żony i przyjaciół (dt. Briefe an die Ehefrau und an Freunde), Krakau 1985.