Daniel Libeskind. Ein Virtuose der Architektur
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Ground Zero
Kaum zwei Tage später, am 11. September 2001, wurde die Welt von terroristischen Anschlägen in den USA erschüttert, bei denen unter anderem die beiden Zwillingstürme des New Yorker World Trade Centers durch die Einschläge zweier entführter Flugzeuge zerstört wurden. Die brutalen Anschläge markierten den Beginn einer neuen Ära der Weltgeschichte, die von Angst, Misstrauen und Terror geprägt ist. Die Bilder der brennenden, kurz darauf einstürzenden Türme, die Daniel Libeskind auf einem Fernsehbildschirm in Berlin sah, schockierten den Architekten und weckten persönliche Erinnerungen an den Bau der Türme, den er als Architekturstudent aus der Nähe verfolgt hatte, an die Tatsache, dass sein Schwager mehrere Jahre in einem der Türme gearbeitet hatte und schließlich an die Druckerei in der Nähe der Zwillingstürme, in der sein Vater lange Zeit beschäftigt war. Die Euphorie über das erste eigenständig entworfene, gerade eben erst eröffnete Gebäude wich einer schmerzvollen Traurigkeit.
Unter dem Eindruck dieser Ereignisse beschließt Libeskind, nach New York zurückzukehren. Bei dem einige Monate später ausgeschriebenen Wettbewerb zur Bebauung von Ground Zero hat er zunächst nicht vor, teilzunehmen: die Planungsgesellschaft LMDC hat ihn zum Mitglied der Jury ernannt, deren Aufgabe darin bestand, die eingereichten Projekte zu bewerten. Doch als die Sitzungstermine der Jury und seine beruflichen Verpflichtungen nur noch schwer miteinander in Einklang zu bringen waren, entscheidet er sich, aus der Jury auszutreten und am Wettbewerb teilzunehmen. Seine Botschaft soll erneut darin bestehen, „die Leere zu füllen“. Libeskinds ursprüngliche Absicht ist, anstelle der zerstörten Türme einen Gebäudekomplex zu errichten, der unter anderem aus einer Gedenkstätte für die Anschlagsopfer, aus Museen und Kultureinrichtungen sowie aus Hotels, Bürogebäuden, Läden und Restaurants bestehen soll. Dieses Konzept wird von der Idee getragen, das Leben in all seinen Aspekten wieder herzustellen. Doch alles ändert sich, als Libeskind den Ort der Katastrophe besucht, an dem die Reinigungskräfte noch immer damit beschäftigt sind, die aufgetürmten Trümmer wegzuräumen. „Es ist schwer zu erklären, aber je weiter wir in das tiefe Loch hinabstiegen, desto intensiver konnten wir die Gewalt und den Hass spüren, die diese Bauwerke zum Einstürzen gebracht hatten; der Gedanke an diesen enormen Verlust machte uns auch körperlich zu schaffen. Aber wir spürten auch die Anwesenheit anderer mächtiger Kräfte: Freiheit, Hoffnung, Glaube – die menschliche Energie, die das Gelände nach wie vor durchdrang.“[6]
Dieses direkte Erlebnis vor den Ruinen des World Trade Centers trug zu einer neuen Konzeption für die Bebauung der Ground Zero Zone bei – diesmal zu einer siegreichen, wie sich im Februar 2003 herausstellte. Libeskinds Idee überzeugte die Jury, da sie seinen Respekt vor den Opfern des Anschlags zum Ausdruck brachte und zeigte, dass das Leben in New York und in Amerika trotz der unermesslichen Tragödie immer noch pulsierte. An der Stelle der zerstörten Türme entstanden zwei riesige, viereckige Wasserfälle mit einer Länge von jeweils 60 Metern, was der Breite der einzelnen Wände der Zwillingstürme entsprach. Der neue Wolkenkratzer One World Trade Center wurde zu einem Symbol der Hoffnung und es ist kein Zufall, dass er 541 Meter, also 1776 Fuß, hoch ist, da sich dieses Detail auf das Jahr der Unabhängigkeitserklärung der Vereinten Staaten bezieht. Doch der Entwurf von Daniel Libeskind konnte nicht vollständig umgesetzt werden. Beispielsweise wurde die Spitze des Bauwerks, die nach seinem Plan an die Freiheitsstatue erinnern sollte, verworfen (ursprünglich sollte das Hochhaus Freedom Tower heißen, also Freiheitsturm – Anm. d. Autorin). Die Investoren warfen dem Architekten unter anderem eine zu geringe Rentabilität der Idee vor, obwohl er die Stadtverwaltung von New York mit dem prominenten Bürgermeister Michael Bloomberg an der Spitze auf seiner Seite hatte. Letztlich wurde Libeskinds preisgekrönte Konzeption nach langen Debatten und vielen Kompromissen den Vorstellungen der Investoren angepasst und von David Childs, seinem größten Konkurrenten im Wettbewerb, umgesetzt. Diese Zusammenarbeit hat Libeskind in seiner Autobiographie als „Zwangsehe“ bezeichnet.
[6] Breaking Ground..., Seite 25.