Daniel Libeskind. Ein Virtuose der Architektur
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Libeskind offenbarte in einem Interview: „Gebäude sind mehr als nur Wände. Sie müssen Geschichten erzählen.“[1] Dieser spezielle Ansatz des Architekten ist der Grund dafür, warum die von ihm erschaffenen Gebäude nicht nur die getreue Ausführung seiner zeichnerischen Entwürfe sind. In jedem Bauwerk stecken Emotionen, die dessen Einzigartigkeit bedeuten. Ebenso emotional ist auch die Rezeption der Werke des polnisch-amerikanischen Architekten, die von ihrer Bewunderung bis zu ihrer Ablehnung konträre Gefühle hervorrufen können, nie aber gleichgültig lassen. Daniel Libeskind gesteht, dass er sich in seinen Entwürfen von der Welt um ihn herum inspirieren lässt, nicht selten aber auch von seiner Biografie, was vielleicht auch erklärt, warum er die Sprache der Gefühle in der Architektur so gut wie kaum jemand sonst beherrscht. Zumal sein Leben wie das seiner Familie von vielen Grenzerfahrungen wie dem Holocaust, dem Überleben, der gesellschaftlichen Ausgrenzung, von Exil und dem daraus resultierenden Gefühl der Entwurzelung geprägt worden ist.
Anfänge in Polen
Der künftige Architekt wurde am 12. Mai 1946 in Lodz geboren. Seine Mutter Dora, geborene Blaustein, stammte aus Warschau (Warszawa) und war erklärte Zionistin. Vater Nachman kam aus Lodz und hatte obwohl er einer traditionellen jüdischen Familie aus der Kleinstadt Przedbórz [heute Woiwodschaft Łódź - Anm. d. Übers.] entstammte, eine säkulare Ausbildung genossen. Vor dem Krieg gehörte er dem Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland (kurz: Bund) an, der sich für die kulturelle Autonomie der Juden in Osteuropa verwandte, ein weltliches Schulwesen schaffen wollte und die jiddischsprachige Kultur gefördert hat. Nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf Polen 1939 beschlossen Dora und Nachman, die sich damals noch nicht kannten, vor den Verfolgungen durch die Nationalsozialisten, die in ihrer Heimat zu erwarten waren, in die Sowjetunion zu fliehen. Dort wurden beide von den Rotarmisten verhaftet und in Lager in Sibirien bzw. an der Wolga deportiert, wo sie unter unmenschlichen Bedingungen drei Jahre verbrachten. Im Sommer 1942 wurden Dora und Nachman dann auf Grund der zwischen Stalin und der polnischen Exilregierung geschlossenen Vereinbarung wie zig Tausende andere polnische Gefangene auch aus den Lagern entlassen. Da die Rückkehr in die vom Krieg geprägte polnische Heimat unmöglich war, kamen beide unabhängig voneinander in ein kirgisisches Flüchtlingslager, wo sie sich kennengelernt und schließlich geheiratet haben. Dort kam Doras und Nachmans Tochter Annette zur Welt. 1946, kurz nach ihrer Rückkehr nach Lodz, wurde Daniel geboren.
In Polen gelangten die Eheleute Libeskind bald zu der Überzeugung, dass ihre Flucht in die Sowjetunion trotz des Hungers, der Demütigungen und der schweren Sträflingsarbeit in den Lagern ein Segen für sie gewesen war: zur gleichen Zeit hatte die Nazi-Besatzung in Polen 85 Mitgliedern ihrer Familien das Leben gekostet. In den folgenden Jahren warf die Holocaust-Tragödie Schatten auf Daniels Kindheit sowie auf das Leben seiner Familie, die nach dem Krieg als eine von ganz wenigen jüdischen Familien in Lodz geblieben war. Die Libeskinds wohnten trotz den Schwierigkeiten in den Nachkriegsjahren, trotz den oft erlebten Ressentiments in der polnischen Bevölkerung und trotz antisemitischer Übergriffe elf Jahre in der Stadt und führten dort ein bescheidenes Leben. Ihre Entscheidung, nach Israel auszuwandern, haben sie erst 1957 getroffen. Der junge Daniel zeigte damals schon in Polen sein musikalisches Talent. Er lernte als Kind früh, Akkordeon zu spielen und begeisterte mit seinem Spiel ein wachsendes Publikum. 1953 trat er im Alter von sechs Jahren sogar in einem der ersten polnischen Fernsehprogramme nach dem Krieg auf.
[1] Alexandra Wolfe, Daniel Libeskind Thinks Buildings Should Tell Stories, The Wall Street Journal, 30.11.2018, https://www.wsj.com/articles/daniel-libeskind-thinks-buildings-should-tell-stories-1543611894 (letzter Zugriff: 14.03.2021).