Stanislaus Kostka in Recklinghausen-Suderwich. Darstellung eines polnischen Nationalheiligen auf einem Farbfenster in der St.-Johannes-Kirche
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Ruhrpolen
Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts führte die fortschreitende Industrialisierung von Steinkohlenförderung und Stahlerzeugung zu einem immensen Arbeitskräftebedarf. Vor allem zwischen 1890 und 1914 zogen zahllose Menschen von nah und fern in das rheinisch-westfälische Montanrevier zwischen Ruhr und Lippe. Nahezu eine halbe Million stammte aus den preußischen Ostprovinzen Schlesien, Posen, West- und Ostpreußen und war mit polnischer Muttersprache aufgewachsen. Abgesehen von Protestant:innen aus dem ostpreußischen Masuren, war das Gros dieser Migrant:innen katholischer Konfession.
Den regionalen Schwerpunkt dieser Zuwanderung bildeten die neu erschlossenen Kohlenreviere im nördlichen Ruhrgebiet. In der Stadt Recklinghausen waren 1890 ungefähr 5% der Einwohner:innen polnischer Nationalität, zwanzig Jahre später bereits 23%. Im umliegenden Landkreis stieg der polnische Bevölkerungsanteil in diesem Zeitraum von 5,8% auf 15,7%. Zusammengenommen lebten 1910 in Stadt- und Landkreis Recklinghausen mehr als 53.000 Menschen mit polnischer Muttersprache und damit mehr als 10% der Pol:innen des Ruhrgebiets überhaupt.
Diese „ruhrpolnischen“ Zuwander:innen brachten ihr spezifisches religiöses Brauchtum mit in ihre neue Heimat. Das betraf im katholischen Bereich neben dem nationalpolnischen Kult um die Madonna von Tschenstochau auch die Verehrung bestimmter Heiliger, zum Beispiel von Hedwig (Jadwiga), Adalbert (Wojciech), Kasimir (Kazimierz), Michael (Michał Archanioł) oder Stanislaus (Stanisław) Kostka. Diese Verehrung äußerte sich in Vereinsgründungen sowie in ihrer künstlerischen Darstellung auf Altarbildern, als Skulptur oder in einem Farbfenster. Darüber hinaus war aber auch die Verehrung bestimmter ruhrgebietstypischer Heiliger unter den Ruhrpol:innen verbreitet. Das galt vor allem für den heiligen Josef, der als gelernter Zimmermann einen glaubwürdigen Schutzpatron für die Arbeiter:innen abgab, sowie für die heilige Barbara, die Patronin der Bergleute. Wie Vereinsnamen bezeugen, stellten sich ruhrpolnische Vereine in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts nicht selten unter den Schutz von Josef oder von Barbara.
Stanislaus Kostka
Im Ruhrgebiet zählte Stanislaus Kostka [ . ] zu den am meisten verehrten polnischen Nationalheiligen. Dokumentiert sind katholische Stanislaus-Vereine unter anderem für Duisburg-Marxloh, Mülheim-Styrum, Essen, Essen-Altenessen, Essen-Katernberg, Bottrop, Gelsenkirchen-Schalke, Herne, und Dortmund-Eving. Außerdem für die Recklinghäuser Vororte Bruch, Röllinghausen, Hochlar und Suderwich. Aus den Vereinen in Bottrop und Altenessen sind auch kunstvoll gestaltete Fahnen überliefert [ ., ., ., . ].
In Dortmund-Lütgendortmund und Dortmund-Eving fielen Kirchenfenster, die Stanislaus gewidmet waren, den Bombenangriffen des Zweiten Weltkriegs zum Opfer. Das Evinger Fenster ist als ruhrpolnische Vereinsstiftung nachgewiesen. Als einziges erhaltenes Stanislaus-Fenster gilt heute ein Farbfenster in der St.-Johannes-Kirche in Recklinghausen-Suderwich [ . ]. Vermutlich handelt es sich hierbei sogar um das einzige erhaltene Kirchenfenster des Ruhrgebiets, das einen polnischen Nationalheiligen darstellt.
Geboren wurde Stanislaus Kostka am 28. Oktober 1550 auf Schloss Rostkowo in Masowien, 90 Kilometer nördlich von Warschau. Er stammte aus einer prominenten Adelsfamilie. In Wien besuchte Stanislaus 1564–1567 das Jesuitenkolleg. Als er 1566 dramatisch erkrankte, erlebte er im Fieberwahn mystische Visionen: In Erwartung, sterben zu müssen, bat er die heilige Barbara, die Patronin eines guten Todes, um sofortige Hilfe. Daraufhin ließ ihm Barbara durch zwei Engel die heilige Kommunion reichen [ . ]. In einer zweiten Vision erschien ihm die Jungfrau Maria und legte ihm den Jesusknaben in den Arm [ . ]. Die Gottesmutter forderte den Schüler zum Eintritt in den Jesuitenorden auf. Sein Vater verbot ihm allerdings diesen Schritt, und aus furchtsamer Rücksicht auf die einflussreiche polnische Familie verweigerte die österreichische Ordensprovinz die Aufnahme des Sohnes in die Societas Jesu.
Daraufhin verließ Stanislaus Kostka fluchtartig Wien und wandte sich in Bayern an Petrus Canisius, den Jesuiten-Provinzial von Oberdeutschland und engagierten Vorkämpfer der katholischen Gegenreformation. Canisius war dem eifrigen Schüler, den er im Jesuiten-Kolleg in Dillingen an der Donau traf, sehr gewogen. Er unterzog ihn einer Prüfung und schickte ihn nach Rom weiter, wo Stanislaus im Oktober 1567 endlich in die Societas Jesu aufgenommen wurde. Allerdings verstarb der junge Novize bereits zehn Monate später nach einem schweren Fieberanfall, offenbar an Malaria. Anscheinend war seine Gesundheit durch die kräftezehrende Wanderung von Wien über Dillingen nach Rom – der Überlieferung nach barfuß und in armseliger Bettlerkleidung – entscheidend geschwächt worden.
In seinem kurzen Leben hatte Stanislaus Kostka seine Mitmenschen durch ein fröhliches Wesen, persönliche Bescheidenheit und tiefe Frömmigkeit beeindruckt. Begraben wurde er in der Kirche Sant'Andrea al Quirinale in Rom. Bald darauf begann ein religiöser Kult um seine Person. 1605 erfolgte die Seligsprechung, 1726 die Heiligsprechung. Stanislaus gilt als Schutzpatron der studierenden Jugend, der Novizen des Jesuitenordens sowie von schwer Erkrankten und von Sterbenden.
Weil seine Fürsprache zu mehreren Siegen bei wichtigen Schlachten geführt haben soll, wurde Stanislaus Kostka 1674 zum Patron der polnisch-litauischen Krone proklamiert. Vor allem in seinem Heimatland dauert seine Verehrung bis heute an; es gibt dort mehrere Dutzend Gotteshäuser, die ihm geweiht sind. Hervorzuheben sind der monumentale Dom in Lodz (Łódź), [ ., ., . ] sowie die Stanislaus-Kostka-Kirche im Warschauer Vorort Żoliborz, wo der charismatische Priester Jerzy Popiełuszko während der kommunistischen Ära zwei Jahre lang seine „Messen für das Vaterland“ (Msze za Ojczyznę) zelebrierte, bevor er im Oktober 1984 von Offizieren des polnischen Staatssicherheitsdiensts ermordet wurde [ ., . ]. Ein barocker Altar in der Kathedrale von Frauenburg (Frombork) zeigt Stanislaus Kostka auf dem zentralen Gemälde. Außerdem Statuen von zwei weiteren polnischen Nationalpatronen: Adalbert von Prag und einen weiteren heiligen Stanislaus, der im 11. Jahrhundert als Bischof von Krakau amtierte [ ., ., . ]. Der Legende nach sei dieser Stanislaus 1410 während der Schlacht von Tannenberg (Grunwald) am Firmament erschienen und habe das polnisch-litauische Heer zum Sieg über die Ritter des Deutschen Ordens geführt.
Im Industriezeitalter brachten polnische Migrant:innen den Stanislaus-Kostka-Kult auch nach Übersee. Das betraf vor allem die Vereinigten Staaten von Amerika, wo zwischen 1880 und 1910 fast eine Million Pol:innen eintrafen, die zumeist aus den preußischen Ostprovinzen stammten. Noch heute zeugen prachtvolle Stanislaus-Kostka-Kirchen von diesem Zustrom, unter anderem in Chicago, Cleveland, Milwaukee, Pittsburgh und New York [ ., . ]. Aber auch in Keetmanshoop in Namibia wurde 1904 eine Kirche dem heiligen Stanislaus geweiht, inspiriert offenbar durch polnische Auswander:innen aus dem Deutschen Kaiserreich, zu dem dieses Territorium 1884–1915 als „Kolonie“ gehörte [ . ]. Sogar in River Hill in Australien schufen Zuwanderer:innen 1871 eine Stanislaus-Kostka-Kirche [ ., . ]. Fazit: Noch heute ist dieser polnische Nationalheilige geradezu weltweit populär!
Bei der ruhrpolnischen Stanislaus-Verehrung in Recklinghausen-Suderwich spielte sicherlich eine Rolle, dass sich der Jesuiten-Schüler in seiner gesundheitlichen Krise 1566 hilfesuchend an die heilige Barbara gewandt hatte, die auch im rheinisch-westfälischen Montanrevier als populäre Schutzpatronin der Bergleute verehrt wird. Der Legende nach war die Märtyrin Barbara während einer römischen Christenverfolgung von ihrem heidnischen Vater in einem Turmverlies eingesperrt worden. In dieser Einkerkerung sahen die Ruhrbergleute eine Parallele zu ihrer eigenen Arbeitssituation, einem Gefangensein im dunklen Streb untertage, bei ständiger Todesgefahr durch eine Schlagwetter- oder Kohlenstaub-Explosion. Und auch zur Stanislaus-Legende gab es eine Parallele: In Wien war der sterbenskranke Schüler von der Außenwelt isoliert worden, und sein protestantischer Hauswirt verweigerte ihm den Besuch eines katholischen Priesters. Daher intervenierte die heilige Barbara und schickte zwei Engel, die Stanislaus die eucharistische Wegzehrung ans Krankenbett brachten.
Recklinghausen
Als Hauptort des gleichnamigen „Vests“ gehörte die Stadt Recklinghausen seit dem hohen Mittelalter zum Herrschaftsbereich der Kölner Erzbischöfe. Infolgedessen blieb die Bevölkerung während der Reformationszeit katholisch. 1815 teilte der Wiener Kongress die Region dem protestantisch geprägten Königreich Preußen zu, was unter anderem den Zuzug von evangelischen Führungskräften und Verwaltungsbeamten nach sich zog. Mit dem Beginn des Steinkohlenbergbaus verstärkte sich diese Zuwanderung in erheblichem Ausmaß. Nach der Deutschen Reichsgründung von 1871 kam es durch den preußischen „Kulturkampf“ auch hier zu erheblichen Spannungen zwischen den beiden christlichen Konfessionen. So blockierte die preußische Regierung 1879 in Suderwich nach dem Tod des Pastors eine Wiederbesetzung der Pfarrstelle mehrere Jahre lang. In diesem Dorf, das 1926 nach Recklinghausen eingemeindet werden sollte, war diese Diskriminierung noch nach mehreren Jahrzehnten nicht vergessen.
Südöstlich der Stadt wurden 1856/57 erste Grubenfelder für die Zeche Henriettenglück I/II/III verliehen. Unter dem Eindruck der Reichsgründung erfolgte 1872 eine Umbenennung in König Ludwig I/II/III. Als neuen Namensgeber wählte man den bayrischen Monarchen Ludwig II., dessen Andenken als romantischer „Märchenkönig“ noch heute aufgrund seiner prunkvollen Schlösser (Neuschwanstein, Herrenchiemsee, Linderhof) Popularität genießt. In Recklinghausen sollte diese Namensänderung an die Proklamation des preußischen Königs Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser erinnern, die 1871 durch einen (von Otto von Bismarck verfassten) „Kaiserbrief“ Ludwigs II. initiiert worden war. Somit beinhaltete dieser Zechenname eine patriotisch-protestantische Symbolkraft [ . ].
Die Zeche König Ludwig I/II/III nahm 1885 die Förderung auf. Zur Jahrhundertwende war mehr als die Hälfte der Gesamtbelegschaft polnischsprachig. Sechs Kilometer entfernt ging 1902 das Bergwerk Ludwig IV/V in Betrieb. Dessen Schächte waren am Ortsrand von Suderwich abgeteuft worden. Im bitterkalten Nachkriegswinter 1946/47 bekam diese Zeche unerwartet eine bemerkenswerte kulturelle Bedeutung, indem sie dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg „illegal“ Ruhrkohle lieferte. Das Theater bedankte sich fortan mit Gastspielen: Keimzelle der weltberühmten Ruhrfestspiele. Bis zur Errichtung eines eigenen Festspielhauses fanden die Aufführungen im Recklinghäuser Saalbau statt. Darüber hinaus veranstaltete die Hamburger Staatsoper auch „Invalidenkonzerte“ in der Lohnhalle von König Ludwig I/II/III und bekundete dadurch ihre besondere Verbundenheit mit den Bergleuten [ ., ., ., ., ., . ].
Die St.-Johannes-Kirche in Suderwich
Bereits um 1250 gab es in Suderwich eine kleine Holzkirche, die Johannes dem Täufer geweiht war. Nach einem Brand wurde sie 1441 durch ein Gotteshaus aus Sandstein ersetzt. 1626 errichtete man einen neuen Glockenturm, 1821/22 ein neues Kirchenschiff.
Seit den 1870er Jahren wohnten in Suderwich vereinzelt auch Bergleute, die auf den Zechen der benachbarten Ortschaften arbeiteten. Als sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Förderbeginn auf König Ludwig IV/V abzeichnete, nahm der Zustrom von Bergarbeitern binnen kurzem enorme Ausmaße an. Die Einwohnerzahl des Dorfes stieg allein zwischen 1900 und 1914 von 1.448 auf 6.953 Personen. Da die kleine Dorfkirche bald nicht mehr ausreichte, beschloss die Gemeinde 1899 einen großzügigen Neubau. Den Entwurf lieferte der Architekt Franz Lohmann, von dem auch die Baupläne für vier weitere Gotteshäuser auf heutigem Recklinghäuser Stadtgebiet stammen [ ., ., ., . ].
Der „Suderwicher Dom“ wurde am 20. Oktober 1904 eingeweiht, eine weiträumige Hallenkirche mit einem Turm von 75 Metern Höhe. Der Innenraum wurde mit qualitätsvollem Inventar ausgestattet, das bis heute weitgehend erhalten geblieben ist: drei neugotische Schnitzaltäre, vier Beichtstühle, zahlreiche Kirchenbänke. Erhalten blieben auch sämtliche Farbfenster, was für das Ruhrgebiet sehr selten ist. Daher fasziniert diese Kirche auch gegenwärtig noch als ein sakrales „Gesamtkunstwerk“. Darüber hinaus ist sie ein eindrucksvoller Erinnerungsort an Bergbau- und Kulturgeschichte im vestischen Ruhrrevier [ . ].
Auch in Suderwich waren längst nicht alle Zuwander:innen deutscher Nationalität, sondern kamen aus den tschechischen Sprachgebieten der österreich-ungarischen Doppelmonarchie sowie vor allem – mit polnischer Muttersprache – aus den preußischen Ostprovinzen. Infolgedessen feierte die katholische Kirchengemeinde seit den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts auch Gottesdienste in polnischer und tschechischer Sprache. 1904 kam ein Pater aus dem Dortmunder Franziskanerkloster zu einzelnen Terminen nach Suderwich. Danach amtierten hier westfälische Kapläne, die sich die erforderlichen Fremdsprachenkenntnisse zuvor angeeignet hatten: Heinrich Theißelmann (1905–1907) und Robert Zumloh (1910–1914).
Die nationale Vielfalt spiegelte sich in Suderwich auch im kirchlichen Vereinswesen wider. Nachgewiesen sind unter anderem ein Sankt-Wenzel-Verein (für die Tschechen) und ein Sankt-Stanislaus-Verein (für die Polen). 1909 gründeten polnische Bergleute zudem einen „Arbeiterverein St. Josef“. Dies geschah als Antwort auf die Weigerung des einheimischen, bereits 1881 gegründeten „Knappenvereins Sankt Barbara“, zugewanderte Arbeiter aufzunehmen. Offenbar wollten sich die standesbewussten deutschen Bergleute gegenüber den polnischen Kollegen abgrenzen. Der heilige Josef wurde damals auch zum Schutzpatron einer 1906 gegründeten ruhrpolnischen „Bruderschaft des Hl. Rosenkranzes der Frauen in Suderwich“ ausgewählt, von der eine Vereinsfahne mit polnischer Beschriftung zeugt [ . ]. Außerdem erinnert – wie anfangs erwähnt – eine Fensterdarstellung des heiligen Stanislaus Kostka in der St.-Johannes-Kirche an den Zuzug von ruhrpolnischen Katholik:innen nach Suderwich [ . ].
Farbfenster-Zyklus
Die drei Farbfenster für die zentrale Apsis hinter dem Mittelschiff der neugotischen Suderwicher Kirche wurden 1904 von der Glasmalerwerkstatt Wilhelm Derix aus Kevelaer gefertigt. Weitere sechs Fenster folgten 1907 für die Nebenchöre hinter den beiden Seitenschiffen. Jedes Fenster misst zehn Meter in der Höhe und 2,20 Meter in der Breite. In seiner Leuchtkraft kommt der Zyklus vor allem bei einfallender Morgensonne gut zur Wirkung. Die Werkstatt berechnete allein für die drei Fenster des Hauptchors 4.700 Goldmark. Der Suderwicher Autor (und evangelische Pastor) Walter Zillessen vermutete, dass sich das Generalvikariat des Bistums Münster an den Gesamtkosten beteiligt habe. Die Hauptlast musste allerdings die Kirchengemeinde tragen: „Sie war durch den Einzug des Bergbaus und dem damit verbundenen Verkauf von Ländereien nicht unvermögend. Dazu gab es die damals vorhandenen kirchlichen Vereine, die bereitwillig ihren Anteil beisteuerten, und finanzkräftige Gemeindemitglieder.“ (Zillessen, 1987)
Zillessen nimmt auch an, dass der örtliche Pfarrer Heinrich Hauling das Bildprogramm der Farbfenster entworfen habe. Hauling galt als „Kunstliebhaber“ und war vor seiner Suderwicher Amtszeit (1884–1921) als Kaplan auf Schloss Darfeld im Münsterland mit der „damaligen geistigen westfälischen Führungsschicht“ in Kontakt gekommen. Beim Kirchbauprojekt wurde der betagte Pfarrer (geb. 1831) von seinem Kaplan Hermann Öchtering eifrig unterstützt, der sich ansonsten auch um die örtliche Seelsorge für Migrant:innen kümmerte und 1906 – allerdings erfolglos – für die Aufnahme von polnischen Bergleuten in den „deutschen“ Knappenverein votierte. Aufgrund einer solchen Haltung darf man vermuten, dass Stanislaus Kostka auf Anregung Öchterings hin in den Suderwicher Fenster-Zyklus aufgenommen wurde.
Die neun Chorfenster sind ein farbenprächtiges Zeugnis vom religiösen Selbstverständnis einer katholischen Ruhrgebietsgemeinde in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts. Das stimmige Bildprogramm wirft nicht nur im Fall von Stanislaus Kostka ein Schlaglicht auf die Ruhrpolen-Thematik. Auch die symbolträchtige Darstellung der Verklärung des heiligen Josef geschah im Einklang mit der Polen-Seelsorge, denn der Pflegevater Jesu wurde in Suderwich gleich von zwei polnischen Vereinen als Schutzpatron verehrt.
Jedes der neun Chorfenster zeigt im oberen Bereich eine Szene aus dem Leben Jesu, der Gottesmutter oder des heiligen Josef. Im unteren Bereich der meisten Fenster werden Heiligengestalten präsentiert. In der Apsis des Mittelschiffs steht die Kreuzigung Christi im Zentrum, flankiert von Darstellungen der Taufe Jesu durch Johannes Baptista sowie der Enthauptung des Täufers [ ., ., . ]. Die Chorkapelle hinter dem linken Seitenschiff ist der Gottesmutter geweiht. Das mittlere Fenster feiert ihre Himmelfahrt. Links ist Maria als junges Mädchen bei ihrem Tempelgang zu sehen, rechts als Pietà, mit ihrem toten Sohn auf dem Schoß. Außerdem wird auf dem Mittelfenster noch die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies gezeigt [ ., ., ., . ].
Die drei Farbfenster am Ende des rechten Seitenschiffs sind dem heiligen Josef gewidmet. Rechts blicken wir in seine Zimmermannswerkstatt. Links sehen wir, wie Josef seiner Familie – der Gottesmutter und dem Jesusknaben – die Heilige Schrift erläutert [ ., . ].
Das Mittelfenster stellt ihn als Kirchenpatron dar, umgeben von vier Engeln, die Insignien des päpstlichen Primats präsentieren: zwei gekreuzte Schlüssel, einen dreifach gekreuzten Hirtenstab, den römischen Petersdom, die Tiara. Im unteren Bereich des Fensters sieht man links einen Bauern und rechts einen Bergmann, die beide mit gefalteten Händen zur Josefs-Gestalt aufblicken. Links wird diese Darstellung durch den Glockenturm der Suderwicher Dorfkirche ergänzt, rechts durch ein Fördergerüst der Zeche König Ludwig IV/V [ ., . ].
Auf diese Weise wird nicht nur die Josefs-Verehrung, sondern zugleich auch der päpstliche Primatsanspruch in Recklinghausen-Suderwich präsent. In der Mitte der unteren Zone des Fensters wird dieser Anspruch weiter untermauert. Hier thront Pius IX. (1792–1878), der 1870 durch das Erste Vatikanische Konzil die päpstliche „Unfehlbarkeit“ festschreiben ließ. In der linken Hand hält er ein Dokument mit dem Schriftzug „Decretum 7. Juli 1871“. In diesem Text berichtet der Papst, die allgemeine Angst vor dem (1870 erfolgten) Ausbruch des deutsch-französischen Kriegs habe die Josefs-Verehrung unter den Gläubigen immens anwachsen lassen. Infolgedessen hätten auch die Konzilsväter leidenschaftlich von ihm verlangt, dass er – „in diesen trauervollen Zeiten, um alle Übel zu vertreiben“ – Gottes Gnade wirkungsvoller durch die Fürsprache des heiligen Josef erbitten solle, indem er ihn zum Patronus Ecclesiae erkläre. Er sei diesem Wunsch gefolgt und habe den Pflegvater Jesu am 8. Dezember 1870 feierlich zum Schutzpatron der gesamten katholischen Kirche proklamiert.
Bei der Personalauswahl der Heiligengestalten in der unteren Zone der Suderwicher Chorfenster wird mehrfach ein Ruhrgebiets-Bezug deutlich. Berücksichtigt werden zum Beispiel Barbara als Bergbau-Patronin oder Elisabeth als Patronin der Caritas [ . ]. Stanislaus Kostka ist im rechten Seitenfenster des Hauptchors abgebildet. Er wird rechts von dem berühmten Kirchenlehrer Thomas von Aquin flankiert, links vom jugendlichen Märtyrer Tarcisius, der – so eine populäre Heiligenlegende – während einer antiken Christenverfolgung geweihte Hostien zu seinen inhaftierten Glaubensgenoss:innen in den Kerker geschmuggelt habe [ . ].
In der Suderwicher Fensterdarstellung hält Stanislaus einen Pilgerstab mit einer Jakobsmuschel in der linken Hand, was auf seine Fußwanderung von Wien nach Rom anspielt. Auf dem rechten Arm trägt er den Jesusknaben, dessen universale Herrschaft durch eine kleine Weltkugel angedeutet wird. Auf diese Weise wird an die Marienerscheinung erinnert, die der polnische Schüler in Wien im Fieberwahn erlebte: Er verinnerlichte als mystische Vision, dass ihm die Gottesmutter ihren Sohn gereicht habe.
Schlussbetrachtungen
Im Zeitalter der Gegenreformation gab der jung verstorbene Jesuiten-Novize Stanislaus Kostka aufgrund seiner innigen und kompromisslosen Liebe zu Jesus und zur Gottesmutter Maria das Idealbild eines Heiligen ab. Dass er nach seinem Tod sein Heimatland – nach katholischer Auffassung – vom Jenseits aus militärisch unterstützte, qualifizierte ihn zudem als einen wirkmächtigen Schutzpatron Polens. Noch im Industriezeitelter besaß diese Fürsorge im Dienst von nationaler Integration eine große politische Bedeutung, da zwischen 1795 und 1918 nach drei territorialen Teilungen kein polnischer Staat existierte.
Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verbreiteten polnische Migrant:innen den Stanislaus-Kult weltweit. Sie verankerten ihn auch intensiv im rheinisch-westfälischen Montanrevier. Dabei war es sicherlich von Vorteil, dass sich eine legendäre Vision des Jesuiten-Schülers mit der Verehrung der heiligen Barbara als Bergbau-Patronin in Beziehung setzen ließ.
Im Ruhrgebiet stand der Kult um Stanislaus Kostka damals in einem politischen Spannungsfeld mit konfessionellen, sozialen und nationalistischen Akzenten. In diesem Sinn lässt sich auch das Bildprogramm der Suderwicher Kirchenfenster interpretieren. Ausgangspunkt ist hierbei das mittlere Josefs-Fenster, das den Pflegevater Jesu als Ecclesiae Patronus zeigt. Dabei verweist die Berücksichtigung von Pius IX. demonstrativ auf eine Unterordnung der katholischen Kirche Deutschlands unter den päpstlichen Primat. Ein solcher „Ultramontanismus“ wurde damals im protestantisch dominierten Preußen als Ausdruck mangelnder Vaterlandstreue beargwöhnt.
Durch die Darstellung der Dorfkirche und des Fördergerüsts der Zeche König Ludwig IV/V auf diesem Fenster wird die Verklärung des heiligen Josef nach Suderwich verortet. Der Zimmermann aus Nazareth ist hier gleichzeitig Schutzpatron der ortsansässigen Berg- und Landarbeiter:innen. Zwei lokale Vereine dokumentieren, dass auch die polnischen Bergleute und ihre Frauen den Pflegevater Jesu verehrten.
Aus der Sicht der preußischen Behörden galten die polnischen Staatsbürger:innen in der späten Kaiserzeit nicht nur aufgrund ihrer katholischen Konfession als unzuverlässig. Vor allem machte sie ihre nationale Identität verdächtig. Trotz mancher Spannungen vereinigte damals die gemeinsame Verehrung von ruhrgebietstypischen Heiligengestalten – außer Josef auch Barbara – sowie ein engagiertes Bekenntnis zum Ultramontanismus deutsche und polnische Katholik:innen in ihrer Selbstbehauptung gegenüber dem protestantisch geprägten Selbstverständnis des Staates.
In Ergänzung zum Josefs-Kult noch einmal ein Blick auf das Stanislaus-Fensterbild: Zwar gibt es hier keinen schriftlichen Beleg für eine direkte polnische Stiftungsfinanzierung, das Fenster steht aber als Zeugnis ultramontan-katholischer Frömmigkeit und nationalpolnischer Identität in dem skizzierten politischen Spannungsfeld. In der Gesamtschau dürfen wir daher den Suderwicher Farbfensterzyklus als ein eindrucksvolles Dokument von facettenreicher Ruhrgebietsgeschichte – auch in Bezug auf „Ruhrpolen“ – würdigen.
Thomas Parent, Mai 2024
Literatur in Auswahl
Arbeitsgruppe „König Ludwig“ im Förderverein Bergbauhistorischer Stätten e.V. und Christoph Thüer (Hg.): Unsere Zeche König Ludwig. Wiege der Ruhrfestspiele und mehr…, Werne 1905.
Burghardt, Werner: „Die polnischen Arbeiter sind … fleißig und haben einen ausgeprägten Erwerbssinn …“. Zur Geschichte polnischer Bergarbeiter in Recklinghausen, in: Bresser, Klaus und Christoph Thüer (Hg.): Recklinghausen im Industriezeitalter, Recklinghausen 2000, S. 401–423.
Festschrift zum 50jährigen Jubiläum des katholischen Knappen- und Arbeitervereins St. Barbara, Recklinghausen 1932.
Haida, Sylvia: Die Ruhrpolen. Nationale und konfessionelle Identität im Bewusstsein und im Alltag 1871–1918, phil. Diss. Bonn [masch.] 2012.
Schäfer, Joachim: Artikel Stanislaus Kostka, Ökumenisches Heiligenlexikon, https://www.heiligenlexikon.de//BiographienS/Stanislaus_Kostka.html (abgerufen am 28.1.2024).
Schröder, Heinrich: Fest- und Heimatschrift der Pfarrgemeinde St. Johannes Recklinghausen-Suderwich zum 50. Jahrestag der jetzigen Kirche am 20. Oktober 1904, Recklinghausen 1954.
Zillessen, Walter: Die Predigt der Bibelfenster von St. Johannes in Suderwich, Recklinghausen-Suderwich 1987.
Zillessen, Walter: Kirche im Zeitalter der Industrialisierung am Beispiel Suderwichs, in: Möllers, Georg und Richard Voigt: 1200 Jahre christliche Gemeinde in Recklinghausen, Recklinghausen 1990, S. 185–198.