Kasimir Zgorecki (1904–1980) – von Recklinghausen in den Pantheon der französischen Fotografie

Kazimierz Zgórecki: Autoportrait (Selbstportrait 1994), schwarz-weiß Fotografie, Print 2019, im Privatbesitz der Familie, veröffentlicht im Ausstellungskatalog Louvre-Lens
Kazimierz Zgórecki: Autoportrait (Selbstportrait 1994), schwarz-weiß Fotografie, Print 2019, im Privatbesitz der Familie, veröffentlicht im Ausstellungskatalog Louvre-Lens

1980 verstirbt Kasimir Zgorecki in Nordfrankreich, nachdem er dort viele Jahre als erfolgreicher Fotograf tätig war. Seine Leidenschaft für die Fotografie gab er auch an seine beiden Söhne Jacques und Alfred weiter. Auch sie leiteten ihre eigenen Fotostudios, dabei übernahm Jacques das seines Vaters in Rouvroy, in dem bereits viele Jahrzehnte lang Fotos entstanden waren.[1] Der historische Wert von Zgoreckis langjähriger Leidenschaft wurde erst nach seinem Tod in den 1990er Jahren bewusst wahrgenommen, nachdem der Ehemann seiner Enkelin, Frédéric Lefever, im Nachlass der Familie an die 4.000 Negative entdeckte, bestehend aus alten Glasplatten, die auf dem Dachboden der Wohnung über dem Studio lagen.[2] Seine Gesamtkollektion muss dabei noch viel größer gewesen sein, da der Krater eines Bombenanschlags während des Zweiten Weltkriegs im Garten des Studios mit Negativen zugeschüttet wurde.[3] Weitere Negative wurden nach dem Anschlag, der auch einen Teil des Fotolabors zerstörte, von der Polizei beschlagnahmt.[4]

Die von Lefever wiederentdeckten Fotografien entstanden zwischen 1924 und 1939 und bewahren als Dokumente der Zeitgeschichte ein Stück polnischer Tradition außerhalb des freien polnischen Staates. Viele polnische Bürger strebten auch in der Nachkriegszeit nach besseren Lebensbedingungen im Ausland und zogen die Repatriierungsoption nicht in Erwägung. Daher zeigen die Motive Zgoreckis den Alltag polnischer Emigranten in einer französischen Bergbauregion, die ihre Kultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufrechterhielten.

Kasimir Zgoreckis Familie stammt ursprünglich aus der Region um Posen, in der sein Vater 1876 geboren wurde.[5] Diese gehörte damals zum preußischen Staatsgebiet, die dortigen Arbeitsmöglichkeiten lagen überwiegend in der Landwirtschaft.[6] Der seit Mitte des 19. Jahrhunderts anhaltende Bevölkerungswachstum und die Ausdehnung des Großgrundbesitzes brachte insbesondere in Posen eine Vielzahl verarmter Landarbeiter hervor, die als Saisonarbeiter oder Tagelöhner angestellt waren.[7] Die Lebensumstände führten daher zur Landflucht, die teils ungelernten Arbeiter zog es in Städte, die in Bergbauregionen lagen, was unter anderem zu einem erheblichen Bevölkerungsverlust in und um Posen führte.[8] Die Migrationsbewegungen fallen auf die Zeit der Ansiedlung von Zgoreckis Vater im Ruhrgebiet, der die sogenannte Binnenwanderung in Preußen auf sich nahm, um vermutlich als ungelernter Arbeiter neu Fuß zu fassen.

 

[1] Frédéric Lefever: Kasimir Zgorecki, S.11.

[2] Frédéric Lefever: Kasimir Zgorecki, S. 5.

[3] Frédéric Lefever: Kasimir Zgorecki, S. 7.

[5] Frédéric Lefever: Kasimir Zgorecki, S. 7.

[6] Matthias Kordes: Wohnen, Leben und Arbeiten von Fremden im Revier, S. 285.

[7] Frank Braßel: Die polnische Hauptstadt Westfalens, S. 24.

[8] Matthias Kordes: Wohnen, Leben und Arbeiten von Fremden im Revier, S. 285.

Mediathek
  • Abb. 1: Selbstportrait, 1920er Jahre

    Kasimir Zgorecki: Selbstportrait, Fotografie, 1920er Jahre
  • Abb. 2: Geburtsurkunde, 1904

    Geburtsurkunde von Kasimir Zgorecki, Urkunde, 1904
  • Abb. 3: Meldekarte, 1907

    Meldekarte der Familie Zgorecki, Dokument, 1907
  • Abb. 4: Herner Adressbuch, 1912

    Adresse der Familie Zgorecki, Adressbuch, 1912
  • Abb. 5: Herner Adressbuch, 1914

    Adresse der Familie Zgorecki, Adressbuch, 1914
  • Abb. 6: Bahnhofstraße in Herne, Datum unbekannt

    Zentrum in Herne, Fotografie, Autor und Datum unbekannt
  • Abb. 7: Farbpostkarte der Bahnhofstraße in Herne, um 1912

    Zentrum in Herne, Postkarte, Autor unbekannt, um 1912
  • Abb. 8: Sokół, Datum unbekannt

    Sokół-Auftritt während eines Festes, Fotografie, Autor und Datum unbekannt
  • Abb. 9: Werbeanzeige „Kraft“, Datum unbekannt

    Werbeanzeige des Fotostudios „Kraft“, Anzeige, Datum unbekannt
  • Abb. 10: Adressbuch Herne, 1912

    Adressen in Herne, Adressbuch, 1912
  • Abb. 11: Parade in Herne, Datum unbekannt

    Parade im polnischen Viertel, Fotografie, Autor und Datum unbekannt
  • Abb. 12: Kundgebung in Herne, 1920

    Aufruf gegen das radikale Polentum, Zeitschriftenanzeige, 1920
  • Abb. 13: Familie Zgorecki in Frankreich, 1920er Jahre

    Kasimir Zgorecki und seine Familie, Fotografie, 1920er Jahre
  • Abb. 14: Frauenportrait, 1920er Jahre

    Portrait einer jungen Frau, Fotografie, 1920er Jahre
  • Abb. 15: Turnbewegung, 1930er Jahre

    Fotografie eines Vereins, Fotografie, 1930er Jahre
  • Abb. 16: Familienfeier, 1930er Jahre

    Fotografie einer Familienfeier, Fotografie, 1930er Jahre
  • Abb. 17: Straßenumzug, 1930er Jahre

    Festlichkeiten in den Straßen Nordfrankreichs, Fotografie, 1930er Jahre
  • Abb. 18: Krippenspiel, 1930er Jahre

    Fotografie eines Krippenspiels, Fotografie, 1930er Jahre
  • Abb. 19: Trauernde Familie, 1930

    Fotografie einer trauernden Familie, Fotografie, 1930
  • Abb. 20: Totenfotografie, 1930er Jahre

    Fotografie eines verstorbenen Kindes, Fotografie, 1930er Jahre