Kasimir Zgorecki (1904–1980) – von Recklinghausen in den Pantheon der französischen Fotografie
Kasimir arbeitete ein halbes Jahr in der Zeche an der Seite seines Vaters.[57] Die Familie lebte in Rouvroy, einem Ort, an dem die polnische Gemeinschaft vor allem im Nouméa Viertel angesiedelt war. Viele Händler führten ihre Geschäfte in diesem Viertel, wie auch Kasimirs Schwager François Kmieciak, der dort ein Fotostudio betrieb.[58] Dieses übernahm Kasimir im August 1924 von seinem Schwager, der ihn in die Fotografie einführte und somit den Grundstein für Kasimirs erfolgreiche Tätigkeit in den Jahren zwischen 1924 und 1939 legte.[59] Das Studio besaß einen Kundenbereich, einen Fotoraum sowie einen Bereich zur Aufnahme von Filmen.[60] Auf einem Familienfoto vor dem Studio ist im Schaufenster die Aufschrift „François Kmieciak-Successeur (=Nachfolger) Kasimir Zgorecki“ zu sehen und zeugt von der erfolgreichen Übernahme eines namenhaften Studios (siehe Abb. 13).
Frédéric Lefever, der Nachlassverwalter von Zgoreckis Fotografien vermutet hinsichtlich der Beweggründe Kasimirs für die Übernahme des Fotostudios, dass die Arbeit im Bergbau auf Dauer unattraktiv für ihn wurde, weil sie bekanntlich sehr kräftezerrend war.[61] Daher widmete er sich der Fotografie und begann zunächst mit ausgefallenen Selbstportraits, um mit dem Licht zu experimentieren und verkleidete sich als trauriger Clown, als Künstler, Hamlet oder auch als Hollywoodschauspieler.[62] Diese Portraits verweisen auf seine sensible Persönlichkeit und deuten auf eine Auseinandersetzung mit seiner Identität. Insgesamt sind in dem Nachlass 30 Selbstportraits gefunden worden. Zgoreckis nachfolgende Fotografien zeigen aber hauptsächlich Menschen in der polnischen Enklave. Der Fund beinhaltet unter anderem viele Bilder von Familien und ihren Angestellten vor ihren Geschäften. Diese dienten hauptsächlich dazu, den Angehörigen in Polen zu veranschaulichen, dass die Familie sozialen Erfolg in Frankreich genoss.[63] Sie zeigen dabei eine idealisierte Realität in der Diaspora. Außerdem wird die Entscheidung der Immigration dadurch unterstrichen und zeigt die erfolgreiche Integration in die Gesellschaft.
Als 1917 die Ausweispflicht für alle Ausländer eingeführt wurde, die sich länger als 15 Tage in Frankreich aufhielten, erstellte Kasimir zahlreiche Passfotos mit neutralem Hintergrund, auf dem die Menschen emotionslos abgelichtet waren.[64] Die Personen wurden dabei frontal oder seitlich dargestellt, trugen in der Regel nicht alltägliche Kleidung und wurden mit einem Teil ihres Oberkörpers fotografiert. Zgorecki lichtete generell sehr viele Einzelpersonen ab. Das Bild einer jungen Dame sticht unter diesen Fotografien besonders hervor: Sie wurde in Frankreich als „polnische Mona Lisa“ bezeichnet (siehe Abb. 14) und ziert auch den Umschlag des Katalogs zur Ausstellung, die der Louvre-Lens im Jahr 2019 den Fotografien von Kasimir Zgorecki widmete.[65]
[57] Frédéric Lefever: Kasimir Zgorecki, S. 11.
[58] Henri Dudzinski: Les Polonais du Nord, S. 8.
[59] Frédéric Lefever: Kasimir Zgorecki, S. 11.
[60] Frédéric Lefever: Kasimir Zgorecki, S. 9.
[61] Emailkontakt mit Lefever im Mai und Juni 2020.
[62] Frédéric Lefever: Kasimir Zgorecki, S.8.
[63] Frédéric Lefever: Kasimir Zgorecki, S. 27.
[64] Frédéric Lefever: Kasimir Zgorecki, S.19.
[65] siehe: https://www.louvrelens.fr/en/exhibition/casimir-zgorecki/ (zuletzt abgerufen am 26.06.2020)