Kasimir Zgorecki (1904–1980) – von Recklinghausen in den Pantheon der französischen Fotografie

Kazimierz Zgórecki: Autoportrait (Selbstportrait 1994), schwarz-weiß Fotografie, Print 2019, im Privatbesitz der Familie, veröffentlicht im Ausstellungskatalog Louvre-Lens
Kazimierz Zgórecki: Autoportrait (Selbstportrait 1994), schwarz-weiß Fotografie, Print 2019, im Privatbesitz der Familie, veröffentlicht im Ausstellungskatalog Louvre-Lens

Kasimir arbeitete ein halbes Jahr in der Zeche an der Seite seines Vaters.[57] Die Familie lebte in Rouvroy, einem Ort, an dem die polnische Gemeinschaft vor allem im Nouméa Viertel angesiedelt war. Viele Händler führten ihre Geschäfte in diesem Viertel, wie auch Kasimirs Schwager François Kmieciak, der dort ein Fotostudio betrieb.[58] Dieses übernahm Kasimir im August 1924 von seinem Schwager, der ihn in die Fotografie einführte und somit den Grundstein für Kasimirs erfolgreiche Tätigkeit in den Jahren zwischen 1924 und 1939 legte.[59] Das Studio besaß einen Kundenbereich, einen Fotoraum sowie einen Bereich zur Aufnahme von Filmen.[60] Auf einem Familienfoto vor dem Studio ist im Schaufenster die Aufschrift „François Kmieciak-Successeur (=Nachfolger) Kasimir Zgorecki“ zu sehen und zeugt von der erfolgreichen Übernahme eines namenhaften Studios (siehe Abb. 13).

Frédéric Lefever, der Nachlassverwalter von Zgoreckis Fotografien vermutet hinsichtlich der Beweggründe Kasimirs für die Übernahme des Fotostudios, dass die Arbeit im Bergbau auf Dauer unattraktiv für ihn wurde, weil sie bekanntlich sehr kräftezerrend war.[61] Daher widmete er sich der Fotografie und begann zunächst mit ausgefallenen Selbstportraits, um mit dem Licht zu experimentieren und verkleidete sich als trauriger Clown, als Künstler, Hamlet oder auch als Hollywoodschauspieler.[62] Diese Portraits verweisen auf seine sensible Persönlichkeit und deuten auf eine Auseinandersetzung mit seiner Identität. Insgesamt sind in dem Nachlass 30 Selbstportraits gefunden worden. Zgoreckis nachfolgende Fotografien zeigen aber hauptsächlich Menschen in der polnischen Enklave. Der Fund beinhaltet unter anderem viele Bilder von Familien und ihren Angestellten vor ihren Geschäften. Diese dienten hauptsächlich dazu, den Angehörigen in Polen zu veranschaulichen, dass die Familie sozialen Erfolg in Frankreich genoss.[63] Sie zeigen dabei eine idealisierte Realität in der Diaspora. Außerdem wird die Entscheidung der Immigration dadurch unterstrichen und zeigt die erfolgreiche Integration in die Gesellschaft.

Als 1917 die Ausweispflicht für alle Ausländer eingeführt wurde, die sich länger als 15 Tage in Frankreich aufhielten, erstellte Kasimir zahlreiche Passfotos mit neutralem Hintergrund, auf dem die Menschen emotionslos abgelichtet waren.[64] Die Personen wurden dabei frontal oder seitlich dargestellt, trugen in der Regel nicht alltägliche Kleidung und wurden mit einem Teil ihres Oberkörpers fotografiert. Zgorecki lichtete generell sehr viele Einzelpersonen ab. Das Bild einer jungen Dame sticht unter diesen Fotografien besonders hervor: Sie wurde in Frankreich als „polnische Mona Lisa“ bezeichnet (siehe Abb. 14) und ziert auch den Umschlag des Katalogs zur Ausstellung, die der Louvre-Lens im Jahr 2019 den Fotografien von Kasimir Zgorecki widmete.[65]

 

[57] Frédéric Lefever: Kasimir Zgorecki, S. 11.

[58] Henri Dudzinski: Les Polonais du Nord, S. 8.

[59] Frédéric Lefever: Kasimir Zgorecki, S. 11.

[60] Frédéric Lefever: Kasimir Zgorecki, S. 9.

[61] Emailkontakt mit Lefever im Mai und Juni 2020.

[62] Frédéric Lefever: Kasimir Zgorecki, S.8.

[63] Frédéric Lefever: Kasimir Zgorecki, S. 27.

[64] Frédéric Lefever: Kasimir Zgorecki, S.19.

[65] siehe: https://www.louvrelens.fr/en/exhibition/casimir-zgorecki/ (zuletzt abgerufen am 26.06.2020)

Mediathek
  • Abb. 1: Selbstportrait, 1920er Jahre

    Kasimir Zgorecki: Selbstportrait, Fotografie, 1920er Jahre
  • Abb. 2: Geburtsurkunde, 1904

    Geburtsurkunde von Kasimir Zgorecki, Urkunde, 1904
  • Abb. 3: Meldekarte, 1907

    Meldekarte der Familie Zgorecki, Dokument, 1907
  • Abb. 4: Herner Adressbuch, 1912

    Adresse der Familie Zgorecki, Adressbuch, 1912
  • Abb. 5: Herner Adressbuch, 1914

    Adresse der Familie Zgorecki, Adressbuch, 1914
  • Abb. 6: Bahnhofstraße in Herne, Datum unbekannt

    Zentrum in Herne, Fotografie, Autor und Datum unbekannt
  • Abb. 7: Farbpostkarte der Bahnhofstraße in Herne, um 1912

    Zentrum in Herne, Postkarte, Autor unbekannt, um 1912
  • Abb. 8: Sokół, Datum unbekannt

    Sokół-Auftritt während eines Festes, Fotografie, Autor und Datum unbekannt
  • Abb. 9: Werbeanzeige „Kraft“, Datum unbekannt

    Werbeanzeige des Fotostudios „Kraft“, Anzeige, Datum unbekannt
  • Abb. 10: Adressbuch Herne, 1912

    Adressen in Herne, Adressbuch, 1912
  • Abb. 11: Parade in Herne, Datum unbekannt

    Parade im polnischen Viertel, Fotografie, Autor und Datum unbekannt
  • Abb. 12: Kundgebung in Herne, 1920

    Aufruf gegen das radikale Polentum, Zeitschriftenanzeige, 1920
  • Abb. 13: Familie Zgorecki in Frankreich, 1920er Jahre

    Kasimir Zgorecki und seine Familie, Fotografie, 1920er Jahre
  • Abb. 14: Frauenportrait, 1920er Jahre

    Portrait einer jungen Frau, Fotografie, 1920er Jahre
  • Abb. 15: Turnbewegung, 1930er Jahre

    Fotografie eines Vereins, Fotografie, 1930er Jahre
  • Abb. 16: Familienfeier, 1930er Jahre

    Fotografie einer Familienfeier, Fotografie, 1930er Jahre
  • Abb. 17: Straßenumzug, 1930er Jahre

    Festlichkeiten in den Straßen Nordfrankreichs, Fotografie, 1930er Jahre
  • Abb. 18: Krippenspiel, 1930er Jahre

    Fotografie eines Krippenspiels, Fotografie, 1930er Jahre
  • Abb. 19: Trauernde Familie, 1930

    Fotografie einer trauernden Familie, Fotografie, 1930
  • Abb. 20: Totenfotografie, 1930er Jahre

    Fotografie eines verstorbenen Kindes, Fotografie, 1930er Jahre