Kasimir Zgorecki (1904–1980) – von Recklinghausen in den Pantheon der französischen Fotografie
Könnte sich Kasimir Zgoreckis erstes Interesse an der Fotografie schon durch Einflüsse in Herne entwickelt haben? Diese Vermutung lässt sich aufgrund der Quellenlage nicht eindeutig belegen. Ausgeschlossen ist es jedoch nicht, denn in diesem Wirkungskreis entstand in Herne 1909 der Druck der polnischen Zeitung „Narodowiec“.[41] Sie veröffentlichte Artikel und Fotos für die polnisch sprachige Bevölkerung. Ralf Piorr verwies zudem auch auf das in der Bahnhofstraße liegende Fotostudio Kraft (siehe Abb. 9). Da die Familie Zgorecki nicht unweit der Einkaufsstraße lebte, wird Kasimir das Studio bekannt gewesen sein. Zudem erwähnte Piorr in unserem Gespräch, dass die Fotografie im Bergbau allgemein sehr präsent war. Oftmals wurden Arbeiter auf Fotos hierarchisch angeordnet, was ihre sozialen Status verdeutlichte. Kasimir hat diese sehr wahrscheinlich wahrgenommen, sein Vater könnte selbst fotografiert worden sein.[42] Neben dem Fotostudio Kraft gab es auch weitere Studios und Geschäfte, die fotografische Artikel verkauften. Ralf Piorr verwies diesbezüglich auf ein Herner Adressbuch von 1914, in dem mehrere Geschäfte aufgelistet wurden (siehe Abb. 10).
Nachdem Kasimir Zgorecki seine Ausbildung im Bergbau absolvierte, entschied sich die Familie 1922 zur Abwanderung nach Nordfrankreich. Durch die Wiederherstellung des freien polnischen Staates 1918 gab es im Ruhrgebiet einige Rückkehrer nach Polen. In Kasimirs Fall war dies jedoch durch die Voraussetzungen für eine Repatriierung nicht möglich. Denn nur volljährige Polen mit deutscher Reichsangehörigkeit und deutschen Wohnsitz erhielten dieses Optionsrecht.[43] Bei der Verabschiedung dieses Rechts waren Kasimir und seine jüngere Schwester Maria noch minderjährig. Das Optionsrecht endete am 10.01.1922, einige Monate vor Kasimirs achtzehntem Geburtstag.[44] Die Familie hätte sich für eine Rückkehr nach Polen vorerst trennen müssen, entschied sich aber dagegen. Warum blieben sie also nicht in Herne?
Anfang der 1920er Jahre gab es wirtschaftliche Probleme, die Ende der 1920er Jahre zu einer Weltwirtschaftskrise führten. Eine Bergbaukrise und die Besetzung des Ruhrgebiets durch die Franzosen nach dem Ersten Weltkrieg führten zur deutlichen Verschlechterung der Lebensumstände.[45] Die Präsenz der Franzosen ist auf einer Postkarte aus dem Stadtarchiv in Herne zu sehen, die einen Straßenumzug in einem polnischen Viertel zeigt (siehe Abb. 11). Nach der Ankunft der Franzosen wurde im Dezember 1921 ein Werbebüro in Duisburg errichtet, das Ruhrpolen in die Bergbaugebiete Frankreichs abwarb.[46] Die Unzufriedenheit der Ruhrpolen stieg auch durch die immer lauter werdende antipolnische Stimmung. Ein Jahr zuvor, am 22.08.1920 gab es in Herne eine Kundgebung der Ostmarkendeutschen und Oberschlesier, die gegen das „radikale Polentum“ protestierten und die Ausweisung polnischer Agitatoren und Sokół-Mitgliedern forderten.[47] Diese Unruhen müsste Familie Zgorecki miterlebt haben (siehe Abb. 12). Sie könnten einer von mehreren Gründen für die Abwanderung nach Frankreich gewesen sein, die Kasimirs Werdegang als Fotografen in der polnischen Diaspora ebneten.
[41] siehe:https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/der-narodowi… (zuletzt abgerufen am 01.07.2020)
[42] Telefonat am 19.06.2020 zum Thema Ruhrpolen in Herne.
[43] Horst Pöttker; Harald Bader: Gescheiterte Integration, S. 21.
[44] Horst Pöttker; Harald Bader: Gescheiterte Integration, S. 21.
[45] Horst Pöttker; Harald Bader: Gescheiterte Integration, S. 23.
[46] Horst Pöttker; Harald Bader: Gescheiterte Integration, S. 23.
[47] Frank Braßel: Die polnische Hauptstadt Westfalens, S. 30f.