Kasimir Zgorecki (1904–1980) – von Recklinghausen in den Pantheon der französischen Fotografie
Kasimir Zgoreckis Jugend in Herne
Von einem polnischen Hotspot führte es Kasimir und seine Familie zur „polnischen Hauptstadt Westfalens“, wie Herne von dem Historiker Frank Braßel in seinem Aufsatz betitelt wurde.[27] „Die Ruhrpolen prägen um die Jahrhundertwende maßgeblich das Bild von Herne und Wanne-Eickel.“[28] Auch dort wuchs die Bevölkerung zwischen 1871 und 1910 um ein Zehnfaches.[29] Familie Zgorecki kam 1907 mit diesem Strom in die Stadt und lebte bis 1922 auch im Zentrum. Dabei zogen sie laut Rechercheergebnissen im Stadtarchiv Herne mindestens fünf Mal um, was aus den alten Adressbüchern der Stadt hervorgeht. In ihnen ist 1908/09, 1910, 1912 sowie 1914 Kasimirs Vater vermerkt, dessen Beruf des Hauers ebenfalls angegeben wurde. Sie lebten viele Jahre auf der Bochumerstraße und waren wahrscheinlich des Öfteren im Zentrum auf der berühmten Bahnhofstraße einkaufen (siehe Abb. 4 und 5).
Wie sehr die Zechen von polnischen Arbeitern geprägt wurden, wird an Mont-Cenis/Unser Fritz und Shamrock deutlich. Im Volksmund hießen diese nämlich „polnisches Viertel“ und „Polenwinkel“.[30] Dabei setzten sich die Belegschaften aus landsmannschaftlichen Kriterien zusammen, auf Mont-Cenis dominierten dadurch Posener Bergleute.[31] Es kann also angenommen werden, dass auch Kasimirs Vater in dieser Zeche arbeitete. Wie aber das alltägliche Leben abseits der Arbeit aussah, geht vor allem aus einem Artikel des Schriftstellers Aurel von Jüchen hervor. Dieser verfasste 1911 einen Reisebericht über Herne und beschrieb das Erscheinungsbild der Stadt. Sein erster Eindruck war weniger positiv, er bezeichnete den Bahnhof als schmutzig und überfüllt mit Menschen, Kohlewagen und Karren.[32] Die Bahnhofstraße selbst faszinierte ihn jedoch sehr (siehe Abb. 6 und 7). „Es herrscht denn auch auf dem Broadway von Herne zu jeder Tageszeit ein Leben wie in einer richtigen Großstadt.“[33] Von Jüchen berichtete von imposanten Gebäudefronten, der elektrischen Bahn, zahlreichen Geschäften und Straßenschildern, die den Weg sowohl auf Deutsch als auch auf Polnisch kennzeichneten.[34] Das Zentrum Hernes war eine moderne Stadt mit polnischen Spuren. Bei einem Besuch in einer Wirtschaft fielen ihm einige Plakate auf, deren Slogans besagten, dass kein „hurra“ gerufen werden dürfe, die Hände nicht auf den Tisch geschlagen werden sollten und auch das Klopfen mit den Füßen verboten wäre. Auf seine Nachfrage hieß es, dass diese Plakate an die Ruhrpolen gerichtet seien.[35] Im Reisebericht beschrieb er die Polen weiterhin als leidenschaftlich aber mit leicht erregbarer Natur, die sich jedoch in der Arbeitswelt durchsetzen konnten.[36]
[27] Frank Braßel: Die polnische Hauptstadt Westfalens, S. 22-33.
[28] Frank Braßel: Die polnische Hauptstadt Westfalens, S. 22.
[29] Frank Braßel: Die polnische Hauptstadt Westfalens, S. 23.
[30] Frank Braßel: Die polnische Hauptstadt Westfalens, S. 26.
[31] Frank Braßel: Die polnische Hauptstadt Westfalens, S. 26.
[32] Aurel von Jüchen: Herne 1911, S. 183.
[33] Aurel von Jüchen: Herne 1911, S. 183.
[34] Aurel von Jüchen: Herne 1911, S. 183.
[35] Aurel von Jüchen: Herne 1911, S. 184.
[36] Aurel von Jüchen: Herne 1911, S. 184f.