„Polenaktion“ 1938
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Interview mit Alina Bothe - Kuratorin der Ausstellung "Ausgewiesen!" in Berlin
Die „Polenaktion“ war die erste Massendeportation von Juden aus dem Dritten Reich. Sie wurde völlig offen durchgeführt, so dass sie der deutschen Bevölkerung nicht entging. Antisemitische Stimmungen in der Gesellschaft waren damals schon so weit verbreitet, dass die Verhaftungen von stillschweigender Zustimmung und manchmal auch offen geäußerter Begeisterung begleitet wurden. Mendel Max Karp erinnert sich so: „Ein Auto nach dem anderen verließ mit uns den Kasernenhof, eine lange Kette dieser Monsterwagen schlängelte sich über den ‚Alex‘ (Alexanderplatz – Anm. der Autorin) weiter durch die Stadt unter ungeheurem Sirenenlärm der Autos, der wohl absichtlich gemacht wurde, um die Bevölkerung Berlins auf unsern zwangsweisen Abtransport aufmerksam zu machen. Die Menschen stauten sich in den Straßen, sie sollten Zeugen sein der ›historischen‹ Austreibung von Juden aus Deutschland.“[15]
Schließlich wurde die „Polenaktion“ im Hinblick darauf, ob die staatlichen Organe in der Durchführung von Deportationen funktionierten, zur logistischen Generalprobe für die Nationalsozialisten. Und obwohl enorme Kräfte mobilisiert worden waren, lief nicht überall alles nach Plan. So auch in Leipzig, wo zu dieser Zeit über drei Tausend Juden polnischer Herkunft lebten. Sie stellten ein Drittel aller jüdischen Einwohner der Stadt dar. Der Generalkonsul Polens in Leipzig, Feliks Chiczewski (1889-1972), hatte schon länger die immer schlechter werdende Lage der Juden in Deutschland wahrgenommen. Kaum zwei Tage vor der „Polenaktion“ hat Chiczewski daraufhin dem polnischen Botschafter in Berlin, Józef Lipski, einen Bericht gesandt, indem er die Verschärfung der Politik gegen die Anhänger jüdischen Glaubens als einen „Krieg, den die nationalsozialistische Partei gegen die Juden erklärt hat und der mit ihrer totalen Vernichtung enden muss“[16] bezeichnet.
Als dann die Nachricht von den ersten Verhaftungen in anderen Städten des Reichs Leipzig erreichte, versuchte der Diplomat, mit der Polizei und den lokalen Behörden darüber zu verhandeln, dass Frauen, Kinder und Kranke von der Deportation auszunehmen seien. Der Polizeipräsident stimmte dem zunächst zu, allerdings unter der Bedingung, dass die auszuweisenden Juden darlegen konnten, Deutschland ohnehin verlassen zu wollen. Als die Verhandlungen dann aber ins Stocken gerieten, forderte Chiczewski alle polnischen Juden auf, im Konsulat zu erscheinen. Wer ein Telefon besaß, informierte seine Familien, Freunde und Bekannte, so dass in kürzester Zeit rund 1.300 Personen in die Villa des Konsulats an der Wächterstraße 32 kamen.[17] In einem Bericht aus diesen Tagen steht zu lesen: „Der gesamte große Garten, alle Eingänge, die Treppen, der Warteraum, die Kellerräume sowie ein Teil der Privaträume des Konsuls und das Wachhäuschen waren voller Flüchtlinge.“[18]
Durch die Aufnahme der Juden auf dem Gelände des Konsulats garantierte Chiczewski ihnen exterritorialen Schutz. Außerdem stellte er ihnen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus Pässe aus. Die Gestapo, deren Sitz sich in der gleichen Straße befand, wagte es nicht, auf dem gesamten Gelände des Konsulats zu intervenieren, da es als unverletzlich gilt. Die am 29. Oktober von Chiczewski geretteten Juden verließen die Villa in der Wächterstraße daraufhin und kehrten in ihre Häuser zurück, wobei viele von ihnen kurz darauf tatsächlich aus Deutschland ausgewandert sind. Die, denen es nicht gelang, ins Konsulat zu flüchten, wurden von der Polizei festgenommen und zum Hauptbahnhof gebracht. Von dort aus wurden sie in vier Zügen nach Beuthen (heute Bytom) abtransportiert, wo sie über die Grenze nach Polen verjagt wurden.
In kaum zwei Tagen wurden über 17.000 Juden aus dem Dritten Reich abgeschoben. Die Zahlen der Deportierten aus einzelnen Städten sind nur als Schätzungen überliefert: aus Berlin 1.500 Personen, aus Hamburg 1.000, darunter auch Frauen und Kinder, aus Dortmund und Köln 600, aus Essen 420, aus Düsseldorf 361, aus Gelsenkirchen 70.[19] Trotz alledem war die „Polenaktion“ noch bis vor kurzem nur wenigen Leuten bekannt, obwohl sich unter den Ausgewiesenen auch Menschen befanden, die damals schon oder in ihrem späteren Leben sehr erfolgreich waren.
[16] S. Held, Leipziger Geschichte(n): Generalkonsul Chiczewski warf einen Rettungsanker aus, in: Online-Ausgabe der Leipziger Volkszeitung vom 26.10.2013.
[17] A. Lustiger, Rettungswiderstand. Über die Judenretter in Europa während der NS-Zeit, Wallstein Verlag GmbH, Göttingen 2011, S. 72.
[18] Zitiert nach: J. Tomaszewski, The Expulsion of Jewish Polish Citizens, Acta Poloniae Historica 76, 1997, S. 106.