Hermann Scheipers
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Gespräch mit Jacek Barski
„W porządku!“ („In Ordnung!“) sagt mir in akzentfreiem Polnisch Hermann Scheipers zu meinem Vorschlag, zahlreiche Fotos aus seiner Privatsammlung im Internetportal Porta Polonica zu publizieren. Hermann Scheipers ist katholischer Priester und er wird am 24. Juli 2015 102 Jahre alt. Die Verehrung von den in Deutschland lebenden Polen ist ihm sicher. Sein beispielloses Engagement für die polnischen Zwangsarbeiter führte ihn 1940 ins Gefängnis. Bald folgte die Inhaftierung im Konzentrationslager Dachau, in dem er mithilfe seiner Zwillingsschwester Anna nur knapp der Gaskammer entgangen ist.
Heute spreche ich mit ihm in seinem Wohnort, im westfälischen Ochtrup, nochmals über die schier unglaublichen Stationen seines Lebens und seinen Leidensweg unter zwei deutschen Diktaturen. Es entsteht sofort der Eindruck, dass Scheipers gerne darüber spricht. Seine Stimme ist brüchig geworden, aber er strahlt immer noch die Kraft, die Überzeugung und das Selbstbewusstsein aus, die ihm damals sicherlich geholfen haben, das Ungeheuerliche des Konzentrationslagers zu überstehen und sogar die Flucht aus dem Todesmarsch nach Evakuierung des Lagers 1945 zu meistern (siehe das Gespräch mit Hermann Scheipers von Jacek Barski am 12. Mai 2015 in Ochtrup in der Mediathek).
Hermann Scheipers ist ein Mann der Tat und voller Ideen. Und ein Mann des Glaubens. Darauf weisen alleine schon seine Portraitfotos aus einem ganzen Jahrhundert hin. Charismatisch, innerlich überzeugt, zielstrebig und unbeugsam scheint er zu blicken. Mit seinem beinah schon geheimnisvoll anmutenden Lächeln, selbst auf den Fotos aus der KZ-Zeit, vermittelt er Zuversicht, Freude und sein christlich gelebtes Credo: Der Glaube kennt keine Furcht.
Hermann Scheipers wurde am 24. Juli 1913 in Ochtrup geboren. 1928 legte er das Abitur in Rheine ab. Ein Jahr später befreit er sich symbolisch von seinem alten Leben: Er wirft bei der Jahresfeier des Abiturs seine alten Lehrhefte in die Ems und entschließt sich, Priester zu werden. Dabei bleibt er stets weltoffen und interessiert an fremden Ländern und Sprachen. So bereist er Frankreich mit dem Fahrrad und schafft es sogar, mithilfe eines Tricks einen Platz für eine Kreuzfahrt nach Norwegen zu ergattern, die von der nationalsozialistischen Organisation „Kraft durch Freude“ veranstaltet wird.
Am 1. August 1937 erhält er die Priesterweihe im St. Petri Dom zu Bautzen und wird Kaplan in Hubertusburg bei Leipzig. Bereits damals knüpft er zahlreiche Kontakte zu dort lebenden Polen. Eine bemerkenswerte Episode beschreibt er in seinem Buch „Gratwanderungen“: „1939 fuhr ich mit dem Pkw eine Polin, die zur polnischen Botschaft wollte, nach Leipzig; es war am Tag nach der ‚Reichskristallnacht’. Wir fuhren durch die Scherben zerschlagener Schaufenster, eine Anzahl Juden stand im Wasser der Pleiße, und der Hof der Botschaft war gedrängt voll mit polnischen Juden, die dort Schutz suchten“. [1]
Nach dem Überfall Deutschlands auf Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 begegnet dem Priester zum ersten Mal das Unrecht, das die Deutschen über Polen brachten: Polen, die von den Deutschen als Zwangsarbeiter nach Deutschland zur Sklavenarbeit deportiert worden waren. Ihnen war es verboten, an den deutschen Gottesdiensten teilzunehmen. Hermann Scheipers organisierte kurzerhand die Seelsorge für sie, da es nicht ausdrücklich verboten war, extra Gottesdienste für die polnischen Zwangsarbeiter stattfinden zu lassen. Mithilfe eines Dolmetschers aus dem Zwangsarbeiterlager in Mahlis, der das Evangelium ins Polnische übersetzte, bereitete er einen Sondergottesdienst für die Polen vor. Der Bürgermeister von Wermsdorf machte darüber bei der Gestapo in Leipzig eine Meldung.
1940 wird Scheipers dorthin zu einem Verhör bestellt. Da er sich weigert, von seinem Glauben und von seiner Berufung als Priester Abstand zu nehmen und sich von der Seelsorge an die polnischen Zwangsarbeiter loszusagen, wird er verhaftet. Es ist an Zynismus nicht zu überbieten, dass ihm der sogenannte Schutzhaftbefehl am 24. Dezember 1940 um 16 Uhr ausgehändigt wird. Sein Martyrium in Nazi-Deutschland nimmt seinen Lauf. Am 28. März 1941 wird er in das KZ Dachau eingeliefert. Dort, im Block 26, werden ständig mehr als 1000 Priester und Geistliche zusammengelegt. Sie werden täglich erniedrigt und schikaniert.
[1] Scheipers, Hermann, Gratwanderungen, Priester unter zwei Diktaturen, Leipzig, 2013, S. 23
Insgesamt waren im KZ Dachau 2720 Geistliche inhaftiert. 1034 von ihnen sind umgekommen. Besonders schwer war die Lage der polnischen Priester, die vor allem, wie sich Scheipers erinnert, von den kommunistisch orientierten „Funktionshäftlingen“ Grausamkeiten erfahren haben. Als sie isoliert wurden und ihnen verboten wurde, die täglichen Gottesdienste zu feiern, schmuggelte Scheipers couragiert Wein und Hostien für sie.
Später wird Oscar-Preisträger Volker Schlöndorff Hermann Scheipers bei den Dreharbeiten zu seinem Film „Der neunte Tag“ (2004) konsultieren, in dem nach dem autobiographischen Roman von Jean Bernard „Pfarrerblock 25487“ das Schicksal der Geistlichen in Dachau dargestellt wurde.
Hermann Scheipers wird am 13. August 1942 von seiner Zwillingsschwester vor der Gaskammer gerettet. Nachdem sie ihren Bruder heimlich in Dachau getroffen hatte, suchte sie anschließend den für die dort inhaftierten Priester zuständigen Beamten des Reichssicherheitshauptamtes in Berlin privat auf. Nach einem dramatischen Gespräch erhält sie das Versprechen des Beamten, dass ihr Bruder nicht vergast wird. Diese Zusage erstreckt sich auch auf alle anderen Priester. Tatsächlich kommt es seitdem in Dachau zu keinen Vergasungen von Geistlichen mehr. Anna Scheipers hat damit nicht nur ihrem Bruder, sondern mehr als 500 Priestern das Leben gerettet.
Immer wieder wird Scheipers in Dachau Zeuge von Grausamkeiten wie von den tödlichen Menschenversuchen. Die im kalten Wasser eingetauchten Häftlinge sollten die Unterkühlungsgrenze bestimmen lassen, die für die Entwicklung eines Spezialanzugs für das Militär behilflich sein sollte. Scheipers: „Alle starben bei 27 Grad Körpertemperatur. Nur ein Russe hat bis 17 Grad ausgehalten“. Der Glaube und die durch ihn bestärkte innere Überzeugung lassen Scheipers jedoch nicht abstumpfen. Ganz im Gegenteil. Er ist stets voller Hoffnung und hilft seinen Mithäftlingen und insbesondere den polnischen Priestern, wie er kann. Und er beginnt, sich für Russisch zu interessieren.
Im Vorfeld der anrückenden Alliierten wird das KZ Dachau im April 1945 evakuiert. Für die Häftlinge beginnen die Todesmärsche. Am 27. April 1945 flieht Scheipers von dem Todesmarsch und hält sich versteckt bei einer Pfarrei in Starnberg. Nach Kriegsende bekommt er bereits am 16. Mai 1945 von den amerikanischen Besatzungsbehörden in der Stadt Starnberg einen Personalausweis ausgestellt. Diesen Ausweis betrachtet er bis heute als „Reliquie“.
Nach der Rückkehr und etwa einjährigem Aufenthalt in Ochtrup übernimmt er 1946 für das Bistum Meißen eine Kaplan-Stelle in Radebeul, später in Pirna, Wilsdruff und als Pfarrer in Schirgiswalde. Scheipers gerät in die zweite deutsche Diktatur der Deutschen Demokratischen Republik. Trotz Schikanen beharrt er auf seinen Posten und lässt sogar 1956 den ersten Kirchen-Neubau in der DDR entstehen, die Pfarrkirche in Wilsdruff.
1974 stirbt in der Tschechoslowakei Stephan Kardinal Trochta, mit dem Scheipers in der gemeinsamen Haft in Dachau befreundet war. Trochta, ebenfalls durch die zwei Diktaturen drangsaliert (darunter eine siebenjährige Haft in der Tschechoslowakei), wurde 1948 Bischof von Litoměříce / Leitmeritz. Seine Beerdigung wurde zum Politikum und demonstrativen Treffpunkt der Kardinäle und Bischöfe aus Osteuropa mit über 3000 Besuchern. Der Staatssicherheitsdienst hat es verboten, Grabreden abzuhalten. Scheipers hält sich nicht daran und sagt spontan auf Deutsch: „Lieber Mitbruder und Lebensgenosse im KZ-Dachau! Von Jugend an hast du deinem Herrn Jesus Christus gedient und bist ihm mutig und treu auf seinem Kreuzesweg gefolgt. Unermüdlich hast du gekämpft für die Freiheit des Glaubens und der Kirche, ohne die Drohungen der Feinde zu fürchten, und hast dafür Gefängnishaft und schwere Drangsale ertragen. Der Herr schenke dir nun seinen Frieden und die Krone des ewigen Lebens“.[2] Zusätzlich organisiert Scheipers einen Kranz im Namen der Dachau-Häftlinge. Auf der Schleife steht in Deutsch und Tschechisch: „Unserer Herr Jesus Christus schenke dir die Siegeskrone - Die deutschen Priester, die mit dir im Konzentrationslager Dachau gelitten haben“. Der Kranz befindet sich ganz vorne am Sarg und ist nicht zu übersehen. An der Beerdigungszeremonie nimmt schweigend der Erzbischof von Krakau, Kardinal Karol Wojtyla teil, der vier Jahre später zum Papst Johannes Paul II. wird, womit das Ende des kommunistischen Systems im Osten Europas entscheidend eingeleitet wurde.
Erst im August 1983 kommt Hermann Scheipers nach seiner Pensionierung in die Bundesrepublik Deutschland und 1990 nach Ochtrup zurück. Dort erhalten er und seine Zwillingschwester Anna am 25. November 2002 den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland (Verdienstkreuz am Bande). Am 26. Februar 2013 erhält Hermann Scheipers das Kavalierskreuz des Verdienstordens der Republik Polen. Hermann Scheipers ist Ehrenbürger der Städte Ochtrup, Wilsdruff und Williamsport (USA).
Hermann Scheipers ist am 2. Juni 2016 in Ochtrup gestorben.
Nachdem die CDU-Ratsfraktion mit einem Initiativantrag dafür gesorgte hatte, dass Hermann Scheipers in Ochtrup zum Ehrenbürger ernannt wurde, beantragte sie im August 2016 nach dessen Tod als weiteren Beitrag zur Geschichtspolitik und Erinnerungskultur, einen "Stolperstein" für Hermann Scheipers zu verlegen – ein inzwischen internationales Projekt des Kölner Künstlers Gunter Demnig, das die Erinnerung an alle Verfolgten im Nationalsozialismus lebendig hält. Am 3. Februar 2018 wurde von dem eigens dazu aus Köln angereisten Künstler der Stolperstein mit den Lebensdaten von Hermann Scheipers auf eine quadratischen Messingtafel vor der früheren elterlichen Wohnung in das Pflaster des Bürgersteiges eingesetzt. Eine Gedenktafel erinnert zudem auf Augenhöhe an die besondere Zivilcourage der Zwillinge Anne und Hermann Scheipers.
Jacek Barski, Juni 2015
[2] Ebd. S. 156
Die Märtyrer-Liste der Priester, die Hermann Scheipers auf der Basis seiner persönlichen Erinnerungen und Recherchen erstellte:
Wegen seelsorglicher oder humanitärer Hilfe für Zwangsarbeiter erlitten den Märtyrertod:
Adametzki, Josef (Breslau), gestorben 1944 im KZ Auschwitz
Aeltermann, Johnnes (Danzig), erschossen 1939 in Danzig
Bioly, Peter (Leitmeritz), vergast 1942 in Hartheim-Dachau
Boehm, Franz (Köln), gestorben 1945 in Dachau
Drosdek, Paul (Breslau), gestorben 1945 im Gefängnis Magdeburg
Drosniak, Peter (Hiltrup – Missionar), gestorben 1945 in Russland
Fränznick, Anton (Freiburg), gestorben 1944 in Dachau
Froehlich, August (Berlin), gestorben 1942 in Dachau
Görsmann, Gustav (Osnabrück), gestorben 1942 in Dachau
Guzy, Johann (Breslau), erschossen 1945 in Freystadt
Karbaum, Ernst ( Danzig), gestorben 1940 im KZ Stutthof
Koplin, Anizet (O.M.Cap.), ermordet 1941 in Auschwitz
Korczok, Anton (Breslau), gestorben 1941 in Dachau
Kremer, Joh.-Leodegar (Pallotiner-Bruder), hingerichtet 1944 in Brandenburg-Görden
Lenzel, Josef (Berlin), gestorben 1942 in Dachau
Markötter, Elpidius (OFM), gestorben 1942 in Dachau
Moritz, Aloys (Ermland), gestorben 1945 in Russland
Olszewski, Leo (Ermland), gestorben 1942 in Dachau
Poether, Bernhard (Münster), gestorben1942 in Dachau
Richarz, Everhard (Köln), ermordet 1941 in Mondorf
Schubert, Augustinus (Augustinus-Eremit), gestorben 1942 in Dachau
Schwarz, Paul (Ermland), ermordet 1945 in Frauwalde
Spix, Alphons (Kloster Arnstein), gestorben 1942 in Dachau
Wessing, August (Münster), gestorben 1945 in Dachau
Witt, Gerhard (Ermland), ermordet 1945 in Elbing
Witt, Max (Schneidemühl), gestorben 1942 in Dachau
Willimsky, Albert (Berlin), gestorben 1940 in Sachsenhausen
Zurawski, Alfons (Leutnant), hingerichtet 1942 in Brandenburg-Görden
Zuske, Stanislaus (Ermland), vergast 1942 in Hartheim-Dachau
Außer diesen 29, die ihr Leben für die Zwangsarbeiter hingaben, enthält die Dokumentation „Priester unter Hitlers Terror“ 658 weitere Namen von Priestern, die um der Zwangsarbeiter willen Verfolgung durch die Nationalsozialisten erlitten. Die Bestrafung reichte von Verwarnung über Ausweisung, Geld- und Gefängnisstrafen bis hin zu langjähriger Haft im Konzentrationslager.
Weiterführende Literatur:
Hermann Scheipers, Gratwanderungen, Priester unter zwei Diktaturen, St. Benno-Verlag, Leipzig 2013
Helmut Moll (Hg.), Zeugen für Christus, Das deutsche Martyrologium de 20. Jahrhunderts, Paderborn, München, Wien, Zürich, 1999
Media
Dir gehört mein Leben. Die Geschichte von Anna und Hermann Scheipers. Zivilcourage und Gottesvertrauen unter zwei Diktaturen, Ein Film (ca. 30 Min.) und ein Interview mit Hermann Scheipers in vier Sequenzen (ca. 28 Min.) des LWL-Medienzentrums für Westfalen in Münster, 2011
Hermann Scheipers, Gespräch mit Jacek Barski am 12. Mai 2015 in Ochtrup, in Zusammenarbeit mit dem LWL-Medienzentrum für Westfalen, Münster
Dank
Wir bedanken uns bei Benno Hörst aus Ochtrup (langjähriger ehrenamtlicher Betreuer des Prälaten), der als gewähltes Mitglied der Landschaftsversammlung des LWL den Kontakt zwischen Prälat Scheipers, Landesmedienzentrum des LWL und der Porta Polonica hergestellt hat.