Helena Bohle-Szacki. Mode – Kunst – Erinnerung
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Interview mit Helena Bohle-Szacki, 2005
Auch andere Kritiker scheinen eine ähnliche Lesart dieser Kunst zu verfolgen, wie der polnische Maler und Dichter Henryk Waniek: „Das Waagerechte und das Senkrechte, das Diagonale und das Ovale. Helles und Dunkles. Fernes und Nahes. Dies sind die Hauptelemente ihrer Sprache. Ein Zitat aus einer Landschaft. Ein einsamer Baum. Bruchteile eines größeren Ganzen. Und das alles zusammengestellt mit der Strenge der Geometrie, von der wir immer denken, sie sei etwas völlig Künstliches, vom Menschen Ausgedachtes. Zu Unrecht. Die Geometrie ist auch ein Teil der Natur. […] Die Weltdarstellung in den Bildern von Helena Bohle-Szacki gehört der Richtung von Plato an, der die Welt durch das Wirken verborgener idealer Prototypen erklärte. […] Denn die Philosophie ist die Bestimmung der Kunst.“[16]
Eine Art formale Verbindung zwischen dem gegenständlichen und dem nicht gegenständlichen Ansatz schafft in diesen Bildern die Technik, deren sich die Künstlerin bediente. Die meisten Zeichnungen entstanden mithilfe eines präzisen Zeichenstifts der Architekten und Konstrukteure, mit dem sie unermüdlich die weiße Bildfläche mit winzigen Punkten oder Strichen bedeckte. „Am Anfang war der Wunsch, mit diesem bescheidenen Werkzeug möglichst viel auszudrücken. Die Arbeit mit einer ganzen Skala von Schattierungen zwischen Schwarz und Weiß ist so, als würden neue Farben entstehen. Hinzu noch die Differenzierung der Oberflächenstruktur, was beinahe die Farbe ersetzen kann. Andererseits zwingt diese Technik gewisse Einschränkungen auf, und dies bedeutet Herausforderung“,[17] meinte die Künstlerin. So entstand ihre unverwechselbare Handschrift: Die wechselnde Verdichtung der schwarzen Punkte holt aus der weißen Papierfläche einen offenen Raum hervor, in dem ein Zusammenspiel von verschiedenartigen, sorgfältig ausgewählten Formen entsteht. Und dann stellt sich heraus, dass das realistisch Dargestellte aufhört, die Wirklichkeit widerzuspiegeln, das Abstrakte dagegen gewinnt eine seltsame Greifbarkeit.
„Aus dem Nichts entsteht etwas. Etwas Gepunktetes oder Gestricheltes, Überkreuztes oder Durchkreuztes, Gebogenes oder Linearisiertes, durch Wiederholung Rhythmisiertes und durch gerade Linien insgesamt Umfasstes, das das Weiß der Leere in einen Raum verwandelt und diesen in Licht und alles das zusammen zu einem Stück Kosmos.“[18] So fasste der Kritiker und Schriftsteller Olav Münzberg das Wesen der Kunst von Helena Bohle-Szacki zusammen. Ihre Bilder sind keine Nachbilder der Wirklichkeit, vielmehr rufen sie völlig neue, meistens abstrakt gefasste Realitäten hervor, deren Ursprünge mitnichten in der menschlichen Erfahrungswelt liegen. Vielleicht sind es Ahnungen, intuitiven Einsichten in eine verschlüsselte und doch klare Ordnung der Dinge, die letztendlich auch die Erfahrungen jedes Einzelnen umfasst.
Ein harmonisches Zusammenspiel von geometrischen Formen wird oft durch überraschende Brüche, Elemente chaotischen Durcheinanders, durch Abheben, Verschieben, Abgrenzen gestört. Diese beunruhigende Dynamik findet aber ihren Ausgleich im Rhythmus der klassischen Bildkomposition. Es wäre müßig, diese Bilder zu deuten, ihrer universellen Dimension interpretatorische Geschichten aufzuzwingen. Allenfalls kann man sich auf eigene Assoziationen einlassen, wie die Berliner Logotherapeutin Ingrid Bergmann, die meint, es seien „Bild gewordene Ideen, Sinnzusammenhänge von Gefühltem, Erlebtem und Erträumtem, gegossen in kosmische Urformen der Geometrie“.[19]
Doch der Betrachter kann sich in diesen Bildern wiederfinden: Er steht wie vor einem Spiegel und sieht sich in einem Zwischenraum, in dem Intellekt und Emotionen ineinanderfließen und etwas intuitiv Erahntes wiedererkennen lassen. So vermitteln die Bilder ein Wissen darüber, dass es nichts endgültig Abgeschlossenes gibt, dass die Formen in ständigem Werden und Vergehen sind und auch, dass dieser ewigen Bewegung, wenn man sie akzeptiert, eine seltene Schönheit innewohnen kann.
Helena Bohle-Szackis erste Ausstellung fand 1974 in einer kleiner Westberliner Galerie Kleines Kra statt. Danach stellte sie gerne und oft ihre Arbeiten aus; bis 2007 brachte sie es zu rund 40 Einzelausstellungen in vielen Städten Europas, von Berlin, Warschau, Paris, bis London, Kopenhagen, Hamburg, Lodz, Prag. Es war ihr immer ein wichtiges Anliegen, ihr Schaffen mit anderen zu teilen, den Betrachter zu überraschen und zu erfreuen, ihm Impulse zum Nachdenken zu geben. Manche Bildtitel, die die Künstlerin nicht selten änderte und als eine gewisse Stütze für den Betrachter ansah („Gefangen“, „Versteckt“, „Flucht“, „Anfang vom Ende“, „Weggang“ usw.), brachten einige dazu, nach einem solchen interpretatorischen Schlüssel zu suchen, der auf die Biographie der Künstlerin hinweisen könnte. Es sei dahingestellt, ob eine derartige Auslegung der Kunst von Helena Bohle-Szacki berechtigt ist, sie selbst lehnte sie ab. Doch ihre Vergangenheit verbarg nicht nur eine Grenzerfahrung.
[16] Henryk Waniek, in: Helena Bohle-Szacka, Ausstellungskatalog, Płocka Galeria Sztuki, Płock 1999.
[17] Gespräch 1, op. cit.
[18] Olaf Münzberg, Einführung zur Ausstellung, Helena Bohle-Szacki, Berlin 2001.
[19] Ingrid Bergmann, Einführung zur Ausstellung, Helena Bohle-Szacki, Rückblicke. Zeichnungen 1973–2007, Galerie DerOrt / Miejsce, Berlin 2007.