Helena Bohle-Szacki. Mode – Kunst – Erinnerung
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Interview mit Helena Bohle-Szacki, 2005
Mode
„Wer hätte das gedacht! Das staatliche Warschauer Modehaus ‚Leda‘ zeigt neueste Kreationen in Berlin. Und dann noch in Europa-Center. Noch vor einem Jahr hätte man eine solche Modeschau als Produkt einer überspannten Phantasie, als Hirngespinst ostkontaktfreudiger Bekleidungshändler angesehen. […] Die Polin Helena Szacka präsentierte die erste Kollektion, die sie in den Westen führt, in Berlin“ – berichtete DIE ZEIT im Dezember 1965.[1] „Dezente Eleganz aus Polen“ titelte das Spandauer Volksblatt.[2] Andere, durchaus positive Artikel betonten den „leicht pariserisch orientierter Pfiff“ der Mode aus Polen und nahmen mit einer gewissen Genugtuung den ersichtlichen Einfluss vom Courrèges-Stil mit futuristischem Touch wahr[3], der in den frühen 1960ern den modischen Ton im Westen angab. Indes war die Abgrenzung zwischen Ost und West nie vollkommen hermetisch, so dass auch in Polen manch eine Tendenz oder Richtung der westlichen Mode wahrgenommen und aufgegriffen wurde.
Natürlich war die erste Modeschau aus Warschau in Westberlin ein Politikum. Als lüftete sich ein wenig der Eiserne Vorhang, der die damalige politische Welt scheinbar endgültig und für alle Zeiten teilte. Die 37-jährige Helena Bohle-Szacki hatte eine renommierte Stellung in der staatlich reglementierten Modebranche inne. An die Entwicklung als freie Künstlerin dachte sie noch nicht, ebenso wenig daran, Polen endgültig zu verlassen. Viele Jahre später wird sie ihre Modetätigkeit nicht besonders hoch wertschätzen: „Als Ausdruckmittel war die Mode für mich nie ausreichend, in der Mode war ich keine Künstlerin, ich war vielleicht keine schlechte, doch nur eine Designerin der Bekleidungsindustrie.“[4]
Eine unbegründete Bescheidenheit? Die von ihr entworfenen Kleider gewannen in den 1960er Jahren Auszeichnungen (goldene Medaille in München, silberne auf der Posener Messe), wurden gelobt und nicht zuletzt sehr gerne getragen (falls sie für die Produktion zugelassen wurden). Natürlich funktioniere der Modebetrieb im damaligen Polen völlig anders als im freien Westen. Private Modehäuser existierten nicht, die staatlichen Bekleidungsunternehmen hatten mit Unzulänglichkeiten der heimischen Industrie und der bürokratisch aufgefassten Ästhetik zu kämpfen, es fehlte an geeigneten Stoffen und allem, was die Mode benötigt. Andererseits fand alles – oder fast alles – was produziert wurde, dankbare Abnehmer. Der unendlich aufnahmefähige Markt wurde äußerst sparsam beliefert. Und noch eines: In der Mode äußerte sich nicht selten eine Art Widerstand gegen die graue Wirklichkeit eines kommunistischen Landes.
Helena Bohle-Szacki begann ihre Modekarriere als Zeichnerin und – wie sie selbst betonte, war das eine Beschäftigung aus Not. Nach dem Abschluss im Fachbereich Graphik an der Państwowa Wyższa Szkoła Sztuk Plastycznych (heute: Akademia Sztuk Pięknych w Łodzi im. Władysława Strzemińskiego) / Staatlichen Hochschule für Bildende Künste in Lodz (Abb. 2 und 3) war es nicht einfach, eine Arbeit zu finden. Die Werbebranche steckte aus verständlichen Gründen noch in den Kinderschuhen, das Industriedesign entwickelte sich kaum, auch im Verlagswesen waren Graphiker nur sehr beschränkt gebraucht. So zeichnete Helena Bohle-Szacki für Modeblätter, deren Aufmachung eher karg war. Danach versuchte sie sich als Modejournalistin, wurde zur Dozentin für Mode an ihrer Alma Mater und begann schließlich Kleider zu entwerfen. Zunächst arbeitete sie im Zentralen Labor der Bekleidungsindustrie, dann nacheinander in den drei staatlichen Modehäusern. In den 1960er Jahren waren es die berühmtesten: Telimena, Moda Polska und Leda.
[1] „Die Zeit“ vom 3.12.1965.
[2] „Spandauer Volksblatt“ vom 28.11.1965.
[3] „Rheinische Post“ vom 2.12.1965.
[4] Gespräch 1 mit der Autorin, Berlin 1993.
Da die angehende Modedesignerin bei dem berühmten Verfechter des Konstruktivismus Władysław Strzemiński studiert hatte, den sie besonders hoch schätzte, ließ sie sich von ihm inspirieren. „Wie auch Strzemiński sah sie die Kunst eng mit der industriellen Produktion verbunden und übertrug die Ideen der Malerei auf die Textilien. Sie glaubte, Mode sei eine Art Kunst, die sich im Alltag dienstbar macht und in einem Geflecht aus allen Kunstbereichen entsteht“[5], schreibt der Modejournalist Marcin Różyc und führt Bohle-Szackis Überlegungen an: „Eine der wesentlichsten Fragen beim Entwerfen von Kleidern ist, auf die rein künstlerischen Probleme zurückzugreifen und aus ihnen zu schöpfen, wie Kontrastierung der Formen, Differenzierung der Oberflächenstruktur, farbliche Zusammensetzung“. Daher verwundert es nicht, dass manches Stoffmuster in ihren Entwürfen wie einem unistischen Bild Strzemińskis entnommen erscheint. (Abb. 4) Später ließ sie den unverkennbaren Neoplastizismus (den Strzemiński ebenfalls schätzte) in die Mode einfließen, wovon eine Sommerkollektion des Modehauses Leda aus dem Jahr 1966 zeugt. (Abb. 5, 6) Und dennoch: Zeit ihres Lebens wurde Helena Bohle-Szacki die ihr gebührende Anerkennung nicht zuteil. Erst 2017 entdeckte der zitierte Journalist und Kunsthistoriker Marcin Różyc[6] ihre Leistung wieder, und nun analysiert und propagiert er die besondere Stellung der mittlerweile vergessenen Modeschöpferin.
Dass der große Erfolg ihrer Modeschau in Westberlin vorrangig politische Bedeutung hatte, sollte sie sich nach ihrer Ausreise aus Polen 1968 überzeugen. Mit dem deutschen Pass (das Erbe des Vaters) ausgestattet begab sich Helena Bohle-Szacki auf Arbeitssuche. Dabei konnte sie nicht umhin zu erfahren, dass sie nicht mehr als eine Diva der Mode aus dem kommunistischen Polen angesehen wurde, sondern nur als eine bedauernswerte Emigrantin aus dem Ostblock, die die westliche Freiheit gewählt hatte – wie sie nach vielen Jahren der befreundeten Journalistin Anna Hadrysiewicz erzählte[7]. Nun war sie um die Integration bemüht und bereit, ihre Fähigkeiten und ihr Können einzusetzen. So schreib sie einige hundert Bewerbungen, was ihr schließlich eine Anstellung als Direktrice bei der Firma Kittke und Sohn, einem „Rockspezialisten“, brachte – und kurz darauf eine Enttäuschung.
Über ihre beruflichen Anfänge in Westberlin meinte sie: „Die Arbeit war todlangweilig. Wir produzierten Röcke. Ich bekam beispielsweise ein Schnittmuster und musste etwa fünfzig Varianten anfertigen: mal mit einer anderen Tasche, mal mit einem anderem Knopf oder Verschluss etc.“[8] Unwillkürlich stellte sie auch Vergleiche an: „Zum ersten Mal konnte ich am Beispiel dieser Firma den ökonomischen Unterschied beider Systeme beobachten. Hier ging es um Gewinn bei einem minimalen finanziellen Einsatz. Im kommunistischen Polen war die Mode eine Art Witz, eine Betätigung jenseits der Vernunft. Hier musste man mindestens zwanzig Entwürfe täglich anfertigen, dort – ein Dutzend im Monat“[9]. Dabei wurde die Kreativität nicht gefragt, viel mehr lediglich „Geschick und Geschmack“, wie das Arbeitszeugnis des „Rockspezialisten“ belegt.
Ob es auch an dieser Enttäuschung lag, dass sie sich als Künstlerin profilieren wollte? Die Fließbandarbeit mit Röcken hielt sie knapp ein halbes Jahr aus. Danach kamen mehrere Volkshochschulen, wo sie Vorträge über Mode und Inneneinrichtung hielt, bis sie schließlich eine Stelle als Dozentin für Graphik und visuelle Kommunikation an der Berufsschule des Berliner Lette-Vereins[10] fand. Nun war sie materiell abgesichert, hatte mehr Zeit und umso dringender wurde in ihr das Verlangen, sich als freie Künstlerin auszudrücken.
[5] Marcin Różyc, Teoria mody, in: Helena Bohle-Szacka. Lilka. Mosty / Die Brücken. Hrsg. M. Różyc, Białystok 2017, S. 65–73.
[6] Ebenda.
[7] Anna Hadrysiewicz, Rozdział berliński, in: Helena Bohle-Szacka. Lilka. Mosty / Die Brücken, Hrsg. M. Różyc, Białystok 2017, S. 219-236.
[8] Anna Hadrysiewicz, a.a.O.
[9] Ebenda.
[10] Für die Veranstaltung anlässlich ihres 90. Geburtstags am 28.2.2018 in der Topographie des Terrors bereitete eine Gruppe von Studierenden des Lette-Vereins einige Entwürfe für das Ankündigungsplakat vor; siehe Abb. 7.
Kunst
Es war Anfang der 1970er Jahre, als sie begann, sich ernsthaft mit der Kunst zu befassen. Bis zu ihrem Tod schuf sie mehr als 300 Zeichnungen auf Papier und Karton. Ihr künstlerisches Oeuvre umfasst mehrere Motivbereiche, die sich zum Teil wesentlich voneinander unterscheiden: Es sind geologisch oder organisch inspirierte Bilder, Bildnisse von Bäumen und Landschaftsausschnitten bis zu abstrakten geometrischen Kompositionen. (Abb. 8-24). Doch die Entwicklung verlief nicht linear, und die Künstlerin griff abwechselnd verschiedene Themen auf, vermischte sie, ließ mal das Erzählerische im Bild den Vorrang gewinnen, mal widmete sie sich betonter abstrakten Fragen. „Ich bemühe mich zum Beispiel mit Hilfe einer falschen, verrückten Perspektive bestimmte Dynamik und Tiefe zu erreichen. Doch mittels dieses formalen Problems möchte ich zugleich meine eigene Welt zum Ausdruck bringen. In allem, was ich mache, steckt große Achtung gegenüber dem Kosmos, zugleich ist es auch eine vage geahnte Mystik und die Erkenntnis, dass unser kleines Dasein nicht so wichtig ist“, meinte die Künstlerin.[11]
Kunstkritiker, Künstler, und Publizisten, die sich zum Werk Helena Bohle-Szackis äußerten, suchten unterschiedliche Zugänge zu ihrer Bilderwelt, zogen Metaphern heran und formulierten ihre eigenen Interpretationen, die manchmal nicht ganz übereinstimmen.
Katarzyna Siwerska, Kunsthistorikerin und Mitkuratorin der Ausstellung „Helena Bohle-Szacka. Mosty / Die Brücken“, die von Juni bis August 2017 in der Białystoker Galeria Sleńdzińskich gezeigt wurde, schreibt über erste Berliner Arbeiten von Bohle-Szacki: „Was die abstrakten Bilder aus den 1970er und dem Anfang der 1980er Jahre auszeichnet, ist ihre offene Komposition. Manche Elemente sehen so aus, als würden sie jeden Augenblick vom Blatt abfließen wollen. Sie zeichnet Kokons, Knoten, biomorphe Flecken, deren stromlinienförmige Umrisse den Formen in der Natur ähneln. Die deformierten Figuren sind wie Auswüchse, Neubildungen, Ausartungen. Die Künstlerin verwischt die Grenze zwischen dem Menschlichen und dem Pflanzlichen.“[12] Der Schriftsteller und Journalist Andrzej Więckowski, Verfasser des Katalogtextes anlässlich ihrer Berliner Ausstellung im Jahre 1994, bemerkt indes: „In ihren frühen Arbeiten befasste sich die Künstlerin mit der inneren Dynamik der Formen, als ertappte sie die Evolution beim Übergang von der geologischen in die biologische Form“.[13]
Während der ersten Schaffensperiode schuf Helena Bohle-Szacki Bilder in gemischter Technik: sie zeichnete mit der Feder, fertigte Collagen mit weißem Seidenpapier oder Alufolie an, versah die Schwarz-Weiß-Zeichnungen mit roten fleckartigen Elementen oder Streifen. Mit der Zeit wich das biologisch Abstrakte und das Farbige den in Schwarz und Weiß gezeichneten figurativen Motiven: Auf der Bildfläche erschienen Baumstämme und abgerissene Baumzweige, Felsenformationen, Steine. Gleichzeitig griff die Künstlerin zunehmend auf die Geometrie zurück, die immer öfter das scheinbar Realistische begleitete. Nicht zuletzt schuf sie immer wieder abstrakte geometrische Kompositionen.
Eine große Bildergruppe umfasst Arbeiten mit dem akribisch gezeichneten Motiv des Baumes, natürlich angereichert mit geometrischen Akzenten. „Bäume Helena Bohle Szackis sind immer einzeln dargestellt, manchmal vor dem Hintergrund einer rauen Felsenlandschaft. Einige sind in einem rechteckigen Rahmen eingeschlossen. In der Mitte des Blattes platziert wirken sie desto stärker in ihrer Isoliertheit, in der sie umgebenden Leere. Werden sie durch geometrische Figuren abgegrenzt, so scheinen sie ihres Atems, ihres Bezugs beraubt“, so Katarzyna Siwerska[14], die in der Einsamkeit der nicht selten verkrüppelten Bäume ein fernes Echo des Biographischen sieht.
Anders beschreibt die Beziehung zwischen dem Abstrakten und dem Figurativen Andrzej Więckowski: „Bäume, Steine oder Berglandschaften in diesen Graphiken erzählen nicht von ihrer realistisch aufgefassten Anmut, sondern nehmen, den Dreiecken, Kreisen, Quadraten und geometrischen Körpern gleich, teil an der Genesis der Formen. Sie sind nicht real, sondern ideal. Sie sind eher die Ideen der Bäume, der Steine oder der Berglandschaften, entstanden aus den ursprünglichen und universalen geometrischen Formen.“[15]
[11] Gespräch 1, a.a.O.
[12] Katarzyna Siwerska, Sztuka, in: Helena Bohle-Szacka. Lilka. Mosty / Die Brücken, Hrsg. M. Różyc, Białystok 2017, S. 85–91.
[13] Andrzej Więckowski, Graphische Traktate von Helena Bohle-Szacki, in: Helena Bohle-Szacki, Ausstellungskatalog, o.J., [Polnisches Kulturinstitut Berlin, 1994].
[14] Katarzyna Siwerska, a.a.O.
[15] Andrzej Więckowski, a.a.O.
Auch andere Kritiker scheinen eine ähnliche Lesart dieser Kunst zu verfolgen, wie der polnische Maler und Dichter Henryk Waniek: „Das Waagerechte und das Senkrechte, das Diagonale und das Ovale. Helles und Dunkles. Fernes und Nahes. Dies sind die Hauptelemente ihrer Sprache. Ein Zitat aus einer Landschaft. Ein einsamer Baum. Bruchteile eines größeren Ganzen. Und das alles zusammengestellt mit der Strenge der Geometrie, von der wir immer denken, sie sei etwas völlig Künstliches, vom Menschen Ausgedachtes. Zu Unrecht. Die Geometrie ist auch ein Teil der Natur. […] Die Weltdarstellung in den Bildern von Helena Bohle-Szacki gehört der Richtung von Plato an, der die Welt durch das Wirken verborgener idealer Prototypen erklärte. […] Denn die Philosophie ist die Bestimmung der Kunst.“[16]
Eine Art formale Verbindung zwischen dem gegenständlichen und dem nicht gegenständlichen Ansatz schafft in diesen Bildern die Technik, deren sich die Künstlerin bediente. Die meisten Zeichnungen entstanden mithilfe eines präzisen Zeichenstifts der Architekten und Konstrukteure, mit dem sie unermüdlich die weiße Bildfläche mit winzigen Punkten oder Strichen bedeckte. „Am Anfang war der Wunsch, mit diesem bescheidenen Werkzeug möglichst viel auszudrücken. Die Arbeit mit einer ganzen Skala von Schattierungen zwischen Schwarz und Weiß ist so, als würden neue Farben entstehen. Hinzu noch die Differenzierung der Oberflächenstruktur, was beinahe die Farbe ersetzen kann. Andererseits zwingt diese Technik gewisse Einschränkungen auf, und dies bedeutet Herausforderung“,[17] meinte die Künstlerin. So entstand ihre unverwechselbare Handschrift: Die wechselnde Verdichtung der schwarzen Punkte holt aus der weißen Papierfläche einen offenen Raum hervor, in dem ein Zusammenspiel von verschiedenartigen, sorgfältig ausgewählten Formen entsteht. Und dann stellt sich heraus, dass das realistisch Dargestellte aufhört, die Wirklichkeit widerzuspiegeln, das Abstrakte dagegen gewinnt eine seltsame Greifbarkeit.
„Aus dem Nichts entsteht etwas. Etwas Gepunktetes oder Gestricheltes, Überkreuztes oder Durchkreuztes, Gebogenes oder Linearisiertes, durch Wiederholung Rhythmisiertes und durch gerade Linien insgesamt Umfasstes, das das Weiß der Leere in einen Raum verwandelt und diesen in Licht und alles das zusammen zu einem Stück Kosmos.“[18] So fasste der Kritiker und Schriftsteller Olav Münzberg das Wesen der Kunst von Helena Bohle-Szacki zusammen. Ihre Bilder sind keine Nachbilder der Wirklichkeit, vielmehr rufen sie völlig neue, meistens abstrakt gefasste Realitäten hervor, deren Ursprünge mitnichten in der menschlichen Erfahrungswelt liegen. Vielleicht sind es Ahnungen, intuitiven Einsichten in eine verschlüsselte und doch klare Ordnung der Dinge, die letztendlich auch die Erfahrungen jedes Einzelnen umfasst.
Ein harmonisches Zusammenspiel von geometrischen Formen wird oft durch überraschende Brüche, Elemente chaotischen Durcheinanders, durch Abheben, Verschieben, Abgrenzen gestört. Diese beunruhigende Dynamik findet aber ihren Ausgleich im Rhythmus der klassischen Bildkomposition. Es wäre müßig, diese Bilder zu deuten, ihrer universellen Dimension interpretatorische Geschichten aufzuzwingen. Allenfalls kann man sich auf eigene Assoziationen einlassen, wie die Berliner Logotherapeutin Ingrid Bergmann, die meint, es seien „Bild gewordene Ideen, Sinnzusammenhänge von Gefühltem, Erlebtem und Erträumtem, gegossen in kosmische Urformen der Geometrie“.[19]
Doch der Betrachter kann sich in diesen Bildern wiederfinden: Er steht wie vor einem Spiegel und sieht sich in einem Zwischenraum, in dem Intellekt und Emotionen ineinanderfließen und etwas intuitiv Erahntes wiedererkennen lassen. So vermitteln die Bilder ein Wissen darüber, dass es nichts endgültig Abgeschlossenes gibt, dass die Formen in ständigem Werden und Vergehen sind und auch, dass dieser ewigen Bewegung, wenn man sie akzeptiert, eine seltene Schönheit innewohnen kann.
Helena Bohle-Szackis erste Ausstellung fand 1974 in einer kleiner Westberliner Galerie Kleines Kra statt. Danach stellte sie gerne und oft ihre Arbeiten aus; bis 2007 brachte sie es zu rund 40 Einzelausstellungen in vielen Städten Europas, von Berlin, Warschau, Paris, bis London, Kopenhagen, Hamburg, Lodz, Prag. Es war ihr immer ein wichtiges Anliegen, ihr Schaffen mit anderen zu teilen, den Betrachter zu überraschen und zu erfreuen, ihm Impulse zum Nachdenken zu geben. Manche Bildtitel, die die Künstlerin nicht selten änderte und als eine gewisse Stütze für den Betrachter ansah („Gefangen“, „Versteckt“, „Flucht“, „Anfang vom Ende“, „Weggang“ usw.), brachten einige dazu, nach einem solchen interpretatorischen Schlüssel zu suchen, der auf die Biographie der Künstlerin hinweisen könnte. Es sei dahingestellt, ob eine derartige Auslegung der Kunst von Helena Bohle-Szacki berechtigt ist, sie selbst lehnte sie ab. Doch ihre Vergangenheit verbarg nicht nur eine Grenzerfahrung.
[16] Henryk Waniek, in: Helena Bohle-Szacka, Ausstellungskatalog, Płocka Galeria Sztuki, Płock 1999.
[17] Gespräch 1, op. cit.
[18] Olaf Münzberg, Einführung zur Ausstellung, Helena Bohle-Szacki, Berlin 2001.
[19] Ingrid Bergmann, Einführung zur Ausstellung, Helena Bohle-Szacki, Rückblicke. Zeichnungen 1973–2007, Galerie DerOrt / Miejsce, Berlin 2007.
Erinnerung
Helena Bohle-Szacki beteiligte sich zwar 2005 an einem großen Befragungsprojekt[20], ließ sich mehrmals interviewen und trat öffentlich auf, betrachtete aber nie die Opferrolle als identitätsstiftend. Sie bewahrte stets Distanz zum Erlebten, genauso wie einen gewissen Humor, und stellte das erfahrene Grauen nicht in den Vordergrund. Jahrzehnte lang fand sie kein Bedürfnis, wahrscheinlich auch keine Kraft, ihre dramatischen Erlebnisse der Umwelt mitzuteilen. Verheimlich hat sie sie nicht, doch es war ihr kein besonderes Thema, kein Schwerpunkt ihrer Existenz. Dies änderte sich allmählich im Laufe der Jahre. Ganz bewusst nahm sie die Rolle einer Zeitzeugin erst dann an, als sie wegen der Augenschwäche (späte Folge des Lageraufenthalts) nicht mehr künstlerisch tätig werden konnte. Der wichtigste Grund, ein Zeugnis abzulegen, war aber die Verpflichtung gegenüber den nicht mehr lebenden Opfern und zugleich gegenüber der Nachwelt.
Dieser Lebensweg wurde durch die Geschichte Polens und Europas im 20. Jahrhundert bestimmt. Die 1928 im polnischen Białystok geborene Helena, deren Vater deutscher und Mutter jüdischer Abstammung war, erlebte in Zeiten des Krieges Bedrohung, Angst und Verlust. Ihre Mutter musste im Versteck leben, ihr Vater half waghalsig den Geflüchteten aus dem Białystoker Ghetto, ihre jüdische Halbschwester wurde auf der Straße gefasst und ermordet. Sie selbst, verhaftet im Frühjahr 1944, wurde nach einigen Wochen Gefängnis ins Konzentrationslager Ravensbrück überstellt und ging dann mit einem Transport nach Helmbrechts in Oberfranken, wo ein Außenlager des KZ Flossenbürg eingerichtet wurde. Hunger und Gewalt, Erniedrigung und Entmenschlichung gehörten zum Alltag der Lagerwelt. Möglichkeiten, sich zu bewahren und zu widersetzen, gab es nicht viel, und sie erforderten Mut und Kraft. Helena Bohle-Szacki fand sie in einer Freundschaft, aber auch in der in ihr schlummernden Fähigkeit zu zeichnen. Im kleinen KZ-Außenlager, das eigens dafür eingerichtet wurde, die Arbeitskraft für den örtlichen Rüstungsbetrieb zu sichern, begann sie, kleine Zeichnungen anzufertigen. Das waren vor allem Heiligenbilder mit verklärten, schönen Gesichtern, die den geschundenen Mithäftlingen Trost und Hoffnung spenden sollten. (Abb. 25) Für sie selbst war das möglicherweise der erste Impuls für ihr späteres Schaffen.
Nach einem grauenvollen Todesmarsch am Ende des Krieges wurden die Frauen befreit, und die 17-jährige, abgemagerte und geschwächte Helena schaffte, nicht ohne Schwierigkeiten, nach Polen zurückzukehren. Das Zuhause in Białystok gab es nicht mehr, die Familie musste ihre Existenz in Lodz von Null an aufbauen. Von mehreren Krankheiten geplagt konnte Helena doch das Studium der Graphik aufnehmen und abschließen. Nur einmal befasste sie sich künstlerisch mit der Lagerwelt: Sie fertigte einige Zeichnungen an, die die Erzählungen von Tadeusz Borowski illustrieren sollten. (Abb. 26, 27) „Die Kohlezeichnungen auf Karton wurden nie verwendet, stellen jedoch einen eigenen Stil dar, der sich von dem übrigen Schaffen deutlich unterscheidet. Namenlose, entmenschlichte Häftlinge ohne individuelle Gesichter wurden mit einem unruhigen, vibrierenden Strich konturiert. […] Es ist eine chaotische Schichtung von Bildern und Erinnerungen, die unvorstellbare Furcht erwecken“[21], schreibt Katarzyna Siwerska. Nach dieser einen Episode war die Lagererfahrung für sie Jahrzehnte lang kein Thema mehr – in der Kunst wie auch im Leben.
Ihre späte, reflektierte Erzählung zielte darauf, das Unmenschliche des nationalsozialistischen Systems vor die Augen zu führen. Sie sagte: „Heute kann ich sagen, es ist gut, dass ich das erlebt habe. Alles war an der Grenze zwischen Leben und Tod, aber ich lebe. Dabei habe ich einiges dazu gelernt. Mit aller Sicherheit weiß ich, dass es unzulässig ist, einen Menschen in extreme Situationen zu versetzen. Mir ist es gelungen, standhaft zu bleiben, doch ich sah, wie wunderbare Menschen zusammenbrachen. Das war das Perfide an der Lagerstruktur. Nicht selten hatten die Menschen nur eine Wahl: entweder eine Gemeinheit oder der Tod. Und dann entschieden sich ganz wenige für den Tod. Das war aber nicht ihre Schuld, es war das System, das den Menschen vernichtete. Das Lager zwang dazu, Entscheidungen zu treffen, die unmenschlich waren.“[22]
Ihre Erinnerung prägte ebenfalls das Gefühl, anders zu sein, von ihrer Kindheit an, da sie nicht zur katholischen Mehrheit der Schülergemeinschaft gehörte, bis zu ihrem Leben in der Fremde. Vielleicht gerade deswegen war sie bedingungslos offen gegenüber allem Andersartigen, und ihr Zuhause wurde zu einem Refugium für Emigranten, Künstler und Unangepasste allerlei Nationalitäten. Obwohl sie sich eindeutig zur polnischen Kultur zugehörig fühlte, wehrte sie jegliche nationale Zuschreibungen ab. Eine Art Brücke zwischen Erinnerung und Kunst im Leben von Helena Bohle-Szacki stellt ein schmaler Bildband „Spuren, Schatten“ dar, den sie herausgegeben hat. Die kurzen notizartigen Texte, die ihre Bilder begleiten, gewähren Einsicht in die Gedankenwelt der Künstlerin. Sie schreibt: „Mitten in der Nacht wache ich schweißgebadet auf, erschrocken, mein eigener Schrei weckt mich auf, ich schaue in die Dunkelheit, horche auf die Geräusche des alten Hauses und zugleich wünsche ich mir so sehr, dass die Geister wieder lebendig wären.“[23] Einige Seiten weiter lesen wir: „Ruhig zu werden, ohne aufzugeben, danach sehne ich mich.“[24] Diesen Zustand hat sie wohl erreicht.
Die Bedeutung Helena Bohle-Szackis lässt sich nicht auf einen Bereich ihres Tuns reduzieren, sie gründet geradezu in der vielschichtigen Komplexität ihres Lebens. So lebt Helena, genannt Lilka, in Erinnerung ihrer Mitmenschen weiter, und so soll sie der Nachwelt erhalten bleiben: als eine außerordentliche, lebensbejahende Frau, deren Geschicke durch Geschichte, Mode und Kunst gekennzeichnet waren. Betonen muss man dabei etwas, wodurch ihre Persönlichkeit besonders stark geprägt war: Sie verfügte über eine seltene Gabe, andere mit ihrer menschlichen Wärme, Freundlichkeit, Aufmerksamkeit und nicht zuletzt ihrer tätigen Hilfsbereitschaft großzügig beschenken zu können.
Ewa Czerwiakowski, Mai 2018
Hier finden Sie den Beitrag zu Helena Bohle-Szacki im Atlas der Erinnerungsorte.
[20] Im Rahmen vom internationalen Befragungsprojekt unter der Leitung von Alexander von Plato wurden knapp 600 Interviews mit ehemaligen Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen aus 26 Länder geführt. Aus diesem Material entstand das Online-Archive, in dem auch das Interview mit Helena Bohle-Szacki einsehbar ist; siehe: https://zwangsarbeit-archiv.de/archiv
[21] Katarzyna Siwerska, a.a.O.
[22] Gespräch 2 mit der Autorin, Berlin, 31. Januar 1999.
[23] Helena Bohle-Szacki, Spuren, Schatten. Zeichnungen und Aufzeichnungen, Berlin 2003.
[24] Ebenda.