Andrzej Nowacki. Erkundung des Quadrats
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Raum 4: Pulsierende Energiefelder
Abermals wird die Symmetrie eingeführt: Es ist die physisch existente oder lediglich erahnte vertikale Mittelachse oder ein ordnendes Zentrum. Obwohl die vertikalen Rhythmen dominieren, schränken sie nicht ein, sie bleiben nur das ordnende Prinzip. Wenn zuvor alle Linien und alle Zwischenräume monochromatisch auf ihren ganzen Längen waren, werden sie nun farblich geteilt oder schattiert, so dass bei der Betrachtung schimmernde Formen hervortreten und die Bilder nicht wie geometrisch geordnete Kompositionen wirken, sondern wie leuchtende und pulsierende Energiefelder. Es ist die symmetrische Ordnung, die in Verbindung mit der Wiederholbarkeit der Rhythmen einen verblüffenden Effekt zutage fördert, als wäre die Komposition lediglich Ausschnitt eines unendlichen Ganzen, das sich jenseits der Bildränder weiterentwickelt. Die Vielzahl der Schichten birgt jene dritte, räumliche Dimension, an deren Rändern eine Tiefe hervorzuschimmern scheint. Die Schwerkraft der illusorischen Formen bedarf keiner Überwindung mehr, schwerelos schweben sie im Raum, dessen Krümmung nun sichtbar wird. Unwillkürlich tauchen wir ein in die Transzendenz. (Abb. 20, 21, 22, 23)
Besonders ausdrucksvolle Kraft entwickeln die Reliefs von radikal reduzierter Farbigkeit, in denen lediglich Variationen von Schwarz und Weiß zusammenspielen. (Abb. 24, 25, 26, 27, 28) So besteht die mehrdimensionale Fläche der Komposition 24.08.15 (Abb. 24) aus symmetrisch geteilten Quadraten, die sich in einer raffinierten Ordnung überlappen und langsam um ihre vertikalen Achsen drehen. An der Oberfläche der Wahrnehmung erscheinen pulsierende Flecke, Kreise oder gar Kugeln, die Energie von höchster Dichte sammeln. Dort, wo sich die Interferenz der Energiewellen vollzieht, taucht für einen Augenblick das vibrierende Zentrum des Universums auf, um einen Moment später in Galaxien dunkler und heller Knoten zu zerfallen.
Einen noch anderen Raum öffnen die großdimensionale mehrteiligen Kompositionen (Abb. 29, 30, 31, 32), wie das Relief 15.01.17 (Abb. 30): Ein klarer, vielschichtiger Zusammenklang von vier Quadraten, die einander durchdringen und auf der Fläche rotieren, wodurch ein lilafarbener Schein entsteht – wie eine Ankündigung des Sakralen. Die farbige Zusammenstellung der Quadrate (goldenes Grün und tiefes, reines Rot) erzeugt eine nahezu greifbare Tiefe und täuscht vor, dass das Bild sich öffnet. Es ist, als beträte man das Innere einer gotischen Kathedrale mit hörbarem Echo der Schritte und einem zum Himmelsgewölbe aufgeschlagenen Blick. Der monumentale Raum schüchtert ein und wirkt erhebend zugleich, vergegenwärtigt die Grenzen des Daseins und hebt sie doch in der Dimension der Unendlichkeit auf.
Es kommt vor, dass die Reliefs sich unwillkürlich zu Paaren verbinden, ohne dass der Künstler ein Diptychon beabsichtigt hätte. (Abb. 33) Spürbar ist ihr tiefes Verhältnis zueinander, ihr Dialog oder eher intimes Gespräch. Eine Art kosmischer Aura bringt sie als zwei eigenständige Wesen zusammen, die von innen her leuchten und mit lyrischer Energie gesättigt sind. Die Flächenaufteilung beider Reliefs bewirkt, dass sie in der Mitte horizontal aufbrechen und einen Eingang in die Tiefe einer anderen Dimension auftun. Der Raum vibriert, zieht ein und kündet die Transzendenz auf der anderen Seite der Quadrate an.
Um einzelne Farbsituationen verfolgen und konkrete visuelle Auswirkungen der Reliefs analysieren zu können, bedarf es eines dynamischen Sehens. Die Voraussetzung dafür ist Bewegung: Man kreist um das Bild, nähert sich ihm und geht auf Distanz, ändert Blickwinkel und Perspektive, lässt das äußere Licht wirken, konzentriert sich auf Details und betrachtet das Ganze, man erliegt der Illusion des Raumes und versucht ihre Quellen innerhalb der Farbenwelt zu erkunden. Erst aus einer gewissen Distanz gesehen erwacht das Relief zum Leben. Und nun kommt das wesentlichste Moment für dessen Wahrnehmung, das heißt die Erfahrung seines Daseins als ein lebendiges pulsierendes Ganzes. Sie kann musikalisch assoziiert werden: Man hört in die Intensität der Farbstimmen hinein, nimmt die Vielfalt von dissonanten Akzenten und kontrapunktischen Formen auf, folgt den farblichen Zusammenklängen und der melodischen Linie. Wie die Musik nicht statisch, sondern zeitbezogen ist, so entwickelt sich auch die Wahrnehmung des Reliefs dynamisch in der Zeit, wobei der Betrachter selbst den zeitlichen Faktor einbringt.
Es ist eine lebendige Begegnung und poetische Interaktion. Die Bilder bloß anzuschauen, scheint unmöglich, sie werden ‚erfahren‘. Eine große Synthese von Wahrnehmungen kommt zuwege, die über das Visuelle hinausgeht, die nicht nur die Sinne, nicht nur die Emotionen und den Intellekt erfasst, sondern auch in eine subtile, schwer beschreibbare Sphäre hineinreicht. Zugleich ist es eine Einladung, einen geheimnisvollen, pulsierenden Raum zu betreten. Die intensive Ausstrahlung der Reliefs Andrzej Nowackis lässt eine unsichtbare Grenze passieren. Vielleicht ist das die Grenze der Erkenntnis, vielleicht hat aber der Maler Jerzy Nowosielski recht, wenn er von der Berührung einer Wirklichkeit „nicht nach unserem Maß“ spricht. Besonders eindrücklich wies darauf Hubertus Gaßner während einer Ausstellungseröffnung hin: „Ohne die Ikonenmalerei wäre die Abstraktion nicht entstanden. Denn die Ikone bildet die Wirklichkeit nicht ab, sondern ist spirituelle Materie. In der orthodoxen Kirche werden die Ikonen herumgetragen und behandelt als materielle, körperliche Objekte. So die Bilder von Andrzej Nowacki auch. Und der Unterschied ist, dass die Ikonen von den Gläubigen geküsst werden, indes ich Sie bitten würde, die Bilder von Nowacki weder anzufassen noch zu küssen. Aber Sie dürfen natürlich vor ihnen niederknien.“[6]
[6] Hubertus Gaßner, Einführung während der Eröffnung der Ausstellung: Andrzej Nowacki, Reliefs. An der Schwelle der Unendlichkeit, Staatliche Kunstgalerie Sopot, Sopot, 23. April 2017.