Anatol Gotfryd
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Im Studio von RBB COSMO Radio po polsku, 5.02.2018
Jürgen Tomm und Anatol Gotfryd, Buchhändlerkeller
„Ich habe viel über Menschen nachgedacht, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um andere zu retten. Warum hat die Bukowiecka vier Leute aufgenommen? Ganz sicher nicht des Geldes wegen. (...) Ich glaube, es war eine Mischung aus schelmischer Verwegenheit, Abenteuerlust und – wie bei der Storoschtschakowa – spontaner Hilfsbereitschaft.” [3] Die Bukowiecka, der einer Kneipe an der Weichsel gehörte, versteckte den Jungen und seine Verwandten fünf Monate lang in einem kleinen Zimmer im Warschauer Stadtteil Mokotów. Der Storoschtschakowa verdankte Tolekwiederum, dass er bei polnischen Bauern Unterschlupf fand und ihnen bei der Landwirtschaft zur Hand gehen konnte. Zeitweilig wohnte er sogar beim stellvertretenden Leiter der deutschen Polizei in Lemberg, der mit der Tochter von Frau Storoschtschakowa befreundet war.
Nach dem Ende des Kriegs konnte Anatol Gotfryd nicht mehr in seine alte Heimat zurück. Kolomea und Jablonow waren bereits an die Sowjetunion gefallen. Er gelangte nach Lublin, wo er im Perec-Haus, einem Sammelpunkt für Juden, die den Holocaust überlebt hatten, unterkam. Sein erstes Geld verdiente er mit dem Verkauf von Zigaretten auf dem dortigen Markt. Schließlich gelang es ihm bald, seine aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten ausgesiedelten Eltern wiederzufinden. Die Familie ließ sich daraufhin in Kattowitz [poln. Katowice] nieder, wo Anatol das Mikołaj-Kopernik-Gymnasium besuchte.
Glücklichen Umständen hatte er dann zu verdanken, dass er seine Ausbildung an einer weiterbildenden Schule für angehende Dentisten fortsetzen konnte, obwohl er die Aufnahmeprüfungen verpasste. Ein ehemaliger Mitbewohner des Perec-Hauses, der, wie sich herausstellte, Leiter der Prüfungskommission war, erkannte ihn wieder und setzte ihn auf die Schülerliste. Anatol zog in das jüdische Internat in der Oławska-Straße, das amerikanische Hilfsorganisationen unterhielten, und wurde in den Vorstand des Schulrats berufen. Als die Einrichtung von der kommunistischen Regierung übernommen wurde, musste er dort weichen.
Im Oktober 1951 nahm er an der Medizinischen Akademie in Breslau [poln. Wrocław] sein Studium der Zahnmedizin auf und wurde zum Sprecher der Erstsemester gewählt. In diesem Studium lernte er seine spätere Ehefrau Danuta Rotkiewicz kennen. 1955 erhielten beide ihre Abschlussdiplome.
Danutas Vater war als Berufsoffizier in der Festung Brest [heute Weißrussland] stationiert, wo er im September 1939 bei Kämpfen ums Leben kam. Das Mädchen hatte eine sehr enge Bindung zu ihrem Vater und war damals kaum fünf Jahre alt. In Erinnerung blieben ihr gemeinsame Aktivitäten im Garten. Aus Furcht, nach Sibirien verschleppt zu werden, floh sie mit ihrer Mutter nach Włodawa [heute an der Grenze zu Weißrussland und der Ukraine]. Nach dem Krieg ließ sie sich in Schlesien nieder.
Ihre ersten Beschäftigungen fanden die beiden frisch gebackenen Zahnärzte in Katowice, Danuta in einer Schule und Anatol in einer staatlichen Ambulanz. Da sie jedoch im kommunistischen Polen keine Zukunft für sich sahen, beschlossen sie, nach Kanada auszuwandern. Als sich dann herausstellte, dass die direkte Einreise nicht möglich sein würde, fiel die Entscheidung, zunächst nach Westberlin zu gehen. Die Vervollständigung der dafür nötigen Unterlagen und die Beschaffung von Geld nahmen anderthalb Jahre in Anspruch. Verwandte steuerten 1.000 Dollar bei, mit denen die beiden die polnische Bürgermiliz bestachen, um die Ausreisegenehmigung zu erhalten.
Am 24. Mai 1958 stieg das Ehepaar Danuta und Anatol Gotfryd am Ostberliner Bahnhof Lichtenberg aus, ohne zu ahnen, dass die Stadt für die nächsten sechzig Jahre ihr Zuhause sein würde. Anfangs wohnten sie bei Verwandten im Westberliner Villenviertel Grunewald.
[3] Anatol Gotfryd, Der Himmel in den Pfützen ... , S. 121.