Sławomir Elsner. Präzision und Unschärfe
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Auch das Museum Wiesbaden erbat sich anlässlich der neuesten Ausstellung Elsners Beschäftigung mit Gemälden aus der Schausammlung: der „Spanierin (Frau vor grauem Hintergrund)“ (Titelbild . , Abb. 24-25 . ) und der „Dame mit Fächer“ von Jawlensky sowie mit dessen Selbstbildnis von 1912 (Abb. 26 . ), dann mit dem „Liebespaar“ von Otto Mueller (Abb. 27-28 . ) und dem „Schmetterlingsfänger“ von Carl Spitzweg (Abb. 29 . ), wobei die Auswahl dem Künstler überlassen blieb. Fast alle der über die Jahre von Elsner für die Serie „Imaginary Memory“ ausgewählten Gemälde sind weltweit populär, wurden hundertfach abgebildet und gehören zweifellos zum kulturellen Gedächtnis der Menschheit. Elsners Übertragungen, nach Abbildungen oder Fotografien gezeichnet, appellieren in ihrer Gesamtheit an das kulturelle Gedächtnis und stellen uns auf die Probe, was von ihnen in unserer Erinnerung erhalten geblieben ist. Die Titel sind natürlich ein hilfreiches Indiz und bei Bronzinos „Allegorie der Liebe“ (Abb. 32 . ), Muellers „Liebespaar“ (Abb. 27 . ) und erst recht bei Vermeers „Mädchen mit dem Perlenohrring“ (Abb. 30 . ) wird das gelingen. Es kann aber auch schiefgehen, wie Anne-Marie Bonnet schreibt, die Elsners Zeichnung „Der Turm der blauen Pferde“ nach Franz Marc (Abb. 28 . ) „zunächst für ein Madonnen-Bild hielt“ und für die „nach Wahrnehmung des Titels viele ‚Kippmomente‘ des Sehens-Wissens-Erkennens (entstanden), die einen eigenen Reiz entfachten“.
Der Künstler selbst befeuert solche „Kippmomente“, indem er für eine kleinere Serie mit dem Titel „Imaginary Present“ ein „Mädchen mit den Perlenohringen“ (2018, Abb. 31 . ) diesmal in Vorderansicht hinzu erfand, das nun natürlich – allerdings nur im Titel, denn Details fehlen in seinen Arbeiten bekanntlich – zwei entsprechende Schmuckstücke tragen sollte. Zum (nicht in der Ausstellung gezeigten) „Bildnis eines unbekannten jungen Herrn“ (2017, nach Ludger tom Ring dem Jüngeren) gesellte er 2020 das „Bildnis einer bekannten Dame“ und hängte die Zeichnung nach einem privaten Foto in der Wiesbadener Ausstellung wie beiläufig neben seine Arbeiten nach berühmten Kunstwerken (Abb. 25 . ). „Bleibt das Sujet auch nach Bekanntwerden des Titels mehrdeutig“, so Bonnet, „so entfaltet sich gleichsam das Toxische an/in Elsners zeichnerischer malerischer Strategie“.
Elsners Evokationen, analysiert Bonnet und meint damit seine zeichnerischen Bearbeitungen seit den frühen Katastrophen-Sujets, „erinnern uns daran, dass jedes Bild eine Herausforderung ist, sich ein Bild zu machen, ein Bild der eigenen Erwartungen und Bereitschaft zur visuellen Erfahrung und Erkenntnis. Wieviel projiziert man und wieviel erkennt man? Wie schaut man auf ein Plakat und wie auf einen Rubens? Wieviel ist kulturelle Vereinbarung und wieviel authentisches eigenes Erleben?“ Die bisherigen Museumsstationen und auch die Wiesbadener Ausstellung haben sich auf Elsners Strategie des Appells an das kollektive Gedächtnis eingelassen, indem sie zwischen den historischen Originalen und seinen Arbeiten große räumliche Distanzen eingehalten haben. So hingen während der Ausstellung im Stuttgarter Hospitalhof die historischen Vorlagen natürlich auch weiterhin in der Staatsgalerie Stuttgart. Marianne von Werefkins „Tänzer Alexander Sacharoff“ befand sich nach einer früheren Ausstellung im Lenbachhaus längst wieder in seinem eigentlichen Zuhause in Ascona und auch in Wiesbaden muss man lange Wege von Elsners Ausstellung in die historische Schausammlung des Museums zurücklegen.