Adalbert und Elisabeth. Ein ruhrpolnisches Altarbild in Herne-Röhlinghausen
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Der Röhlinghauser Hochaltar
Der Hochaltar wurde 1908 in Auftrag gegeben und im Februar 1911 ausgeliefert. Die Gemeinde zahlte die Kosten von insgesamt 15.000 Reichsmark in vier Raten. Der Altar entstand als Gemeinschaftswerk von drei Werkstätten der „Wiedenbrücker Schule“ in der Kleinstadt Wiedenbrück im östlichen Münsterland (heute: Rheda-Wiedenbrück). Dort schufen mehr als 25 Unternehmen im Zeitraum von ca. 1845-1945 eine große Zahl von historistischen Altären, Skulpturen, Kreuzweg-Stationen und sonstigem Mobiliar, vornehmlich für katholische Gotteshäuser. Die Kunstwerkstätten ergänzten einander in ihren handwerklichen Spezialisierungen; häufig kam es zur Zusammenarbeit einzelner Betriebe.
Beim Röhlinghauser Hochaltar war die Kunstschreinerei Becker-Brockhinke federführend, deren Geschäftsinhaber Anton Becker (1862–1945) auch für den Gesamtentwurf verantwortlich zeichnete. Als Subunternehmer schuf der Bildhauer Anton Mohrmann (1851–1940) die figürlichen Darstellungen auf der Schauseite. Die Farbfassung und partielle Vergoldung übernahm der Kunstmaler Eduard Goldkuhle (1878–1953). Von ihm stammen auch die Gemälde auf den Außenseiten der beiden Altarflügel, die u. a. den heiligen Adalbert berücksichtigen. Der Wiedenbrücker Bürgermeister Schmitz würdigte 1923 dieses Gemeinschaftswerk als eine der schönsten Arbeiten, die jemals die Becker-Brockhinke‘sche Werkstatt verlassen hätten. Den Ölbildern von Goldkuhle bescheinigte die Paderborner Firma Ochsenfarth nach Abschluss einer Restaurierung in den 1980er Jahren „höchste neugotische Qualität“.
Während des Zweiten Weltkriegs zerstörte ein alliierter Fliegerangriff 1943 die Chorfenster von St. Barbara in Röhlinghausen, so dass der Hochaltar fortan durch ein großes Fahnentuch gegen Witterungsschäden geschützt werden musste. Nach drei weiteren Bombenangriffen wurde er schließlich aus dem beschädigten Gebäude nach Vinsebeck im Weserbergland ausgelagert. Der Altar kehrte an seinen angestammten Platz zurück, nachdem die Kirche 1945–48 in vereinfachter Form wiederhergestellt worden war. 15 Jahre später beanstandete eine statische Prüfung gravierende Bergschäden an dem Sakralbau. Am 31. Dezember 1963 erfolgte die baupolizeiliche Schließung, im Herbst 1965 der Abbruch. An gleicher Stelle errichtete man 1968/69 eine moderne Kirche, die aufgrund ihrer Beton-Konstruktion immun gegen Bergschäden ist. Offiziell wurde der Neubau nicht mehr der heiligen Barbara, sondern dem Heiligen Geist geweiht. Inzwischen war die Bergbau-Patronin im Zuge der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils aus dem römischen Heiligenkalender gestrichen worden, da ihre Existenz historisch nicht gesichert sei. Diese Maßnahme wurde in Teilen der katholischen Bevölkerung – auch in Röhlinghausen – nicht akzeptiert. Die Pfarrgemeinde nennt sich dort nach wie vor „Sankt Barbara“.
In der modernen Röhlinghauser Kirche ist eine Seitenkapelle der populären Bergbau-Patronin gewidmet. Dort steht auch der Hochaltar des Vorgängerbaus, allerdings in stark veränderter Form. In den neu geschaffenen Unterbau wurden ein großes Steinkohlenstück aus der benachbarten Zeche „Unser Fritz“ und ein Behältnis mit einer Barbara-Reliquie eingearbeitet, um die Erinnerung an die lokale Bergwerkstradition wach zu halten. In der mittleren Zone fehlen zwei schmale Tafeln, die ursprünglich an den Außenseiten der beiden Altarflügel angefügt waren. Weiter oben musste das neugotische Gesprenge entfernt werden, da die moderne Kapelle keine ausreichende Raumhöhe aufweist.
Erhalten geblieben sind aber die zentralen Bildtafeln! In ausgeklapptem Zustand zeigt der Flügelaltar geschnitzte Bibelszenen: Im Zentrum steht die Kreuzigung Christi, darüber folgt die Erscheinung des apokalyptischen Lamms. An der linken Seite wird die Kreuzigungsszene von Darstellungen der Geburt Jesu sowie der Hochzeit zu Kana flankiert, rechts von der Anbetung der Heiligen Drei Könige und der Verklärung Jesu auf dem Berg Tabor. In der unteren Altarzone gibt es vier Halbfiguren von Propheten aus dem Alten Testament.
In zugeklapptem Zustand zeigt der Flügelaltar zwei Ölgemälde mit jeweils zwei Heiligengestalten: links Cäcilia und Bernhard, rechts Elisabeth und Adalbert. Als Bischof trägt Adalbert Mitra und Messgewand. Die rechte Hand hat er zum Segen erhoben. An seiner linken Schulter lehnt sein Bischofsstab. Eine Keule in der linken Hand soll an den gewaltsamen Tod des Märtyrers erinnern.
Links von Adalbert ist die Heilige Elisabeth zu sehen, die von 1207 bis 1231 lebte. Sie hält in der rechten Hand einen Brotlaib, in der linken Hand eine Schale mit roten Rosen. Diese beiden Attribute stehen für das „Rosenwunder“, eine populäre Legende, die auf die uneigennützige Caritas der Thüringer Landgräfin hinweist: Während einer Hungersnot habe Elisabeth die Armen Eisenachs verbotenerweise mit Brot aus der Wartburg versorgt. Gegenüber ihrem Gatten, dem sie auf einem ihrer Stadtgänge unvermutet begegnete, leugnete sie diese Hilfsaktion und behauptete, sie habe kein Brot, sondern Rosen bei sich. Bevor der Landgraf ihr Gepäck kontrollieren konnte, hatte Gott das Brot wunderbarerweise in Rosen verwandelt.
In der Röhlinghauser Gegenüberstellung liegt ein besonderer Reiz: Bischof Adalbert von Prag wurde aufgrund der besonderen Umstände seiner Bestattung – Pilgerfahrt Kaiser Ottos III., Rangerhöhung Bolesław Chrobrys, Gründung des Erzbistums Gnesen – zu einem prominenten Nationalheiligen der Polen, auch im Ruhrgebiet. Die Landgräfin Elisabeth – zwar in Ungarn aufgewachsen, aber später in Thüringen (im „grünen Herzen Deutschlands“) karitativ engagiert – besitzt bei uns quasi den Rang einer Nationalheiligen. Beim Betrachten des Altarbilds ist man unwillkürlich geneigt, das Gemälde als ein Symbol polnisch-deutscher Geschichte anzusehen. In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass um 1900 zwischen deutschen und polnischsprachigen Einwohner:innen im Ruhrgebiet beträchtliche Spannungen herrschten. Von behördlicher Seite wurde damals vielfältiger Druck ausgeübt, um die zugewanderten „Polen“ auf Kosten ihrer Nationalität zu germanisieren. Auch der katholische Klerus sollte dabei helfen, was zu Widerstand und Streit in vielen Kirchengemeinden führte.
In Anbetracht dieses politischen und gesellschaftlichen Hintergrunds wirkt das Röhlinghauser Altarbild wie ein Appell für ein friedliches Zusammenleben von Menschen und Völkern unterschiedlicher Nationalität. Nicht nur im „Schmelztiegel Ruhrgebiet“ ist dieses Thema nach wie vor aktuell und brisant!
Thomas Parent, Juli 2023
Literatur in Auswahl:
Aus der Geschichte der katholischen Kirchengemeinde St. Barbara in Röhlinghausen 1886-1902, Herne o.J. [2002].
Große-Hovest, Benedikt: Die Firma Becker-Brockhinke. Eine Altarbauwerkstatt des Historismus, Aachen 1998.
Haida, Sylvia: Die Ruhrpolen. Nationale und konfessionelle Identität im Bewusstsein und im Alltag 1871-1918, phil. Diss. Bonn [masch.] 2012.
Parent, Thomas: Appell für ein friedliches Zusammenleben von Deutschen und Ruhrpolen. Anmerkungen zu einem Altarbild in der katholischen Kirche von Herne-Röhlinghausen, in: Der Emscherbrücher, Bd. 13 (2005/06), Herne 2005, S. 19–25.
Peters-Schildgen, Susanne: „Schmelztiegel“ Ruhrgebiet. Die Geschichte der Zuwanderung am Beispiel Herne bis 1997, Essen 1997.
Royt, Jan: Hl. Adalbert, Regensburg 1997.
Spieker, Brigitte und Rolf-Jürgen Spieker: In unvergleichlicher Pracht auf Goldgrund gemalt. Die Wiedenbrücker Maler Georg und Eduard Goldkuhle, Bramsche 2019.