Jan Bresinski. Neue Wege zur Landschaftsmalerei
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Architektur als Identitätsraum
Als Behausungen unbekannt bleibender Individuen erscheinen architektonische Strukturen, die Bresinski zwischen 2009 und 2013 unter dem Obertitel „Raum“ (Abb. 48-60) malte und die ab 2011 von einer Serie mit Kohle gezeichneter „Studien“ (Abb. 61-69) in kleinerem Format begleitet wurden. Beide Serien zeigen exakt bestimmte Grundmauern, Schächte, Rampen, vielleicht Keller, Bunker, Segmente von Labyrinthen, offene und gefangene Räume. Sie sind Begonnenes und nicht weiter Gebautes, Siedlungs- oder Planungsrelikte und verkörpern einen Zustand zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ebenfalls aus der Vogelperspektive, jedoch aus geringerer Entfernung aufgenommen, bleiben auch sie menschenleer. Die Farben, kräftiger als bei den „Farblandschaften“, verweisen durch das Changieren innerhalb bestimmter Farbspektren zwischen Rot- und Erdtönen, Blau, Grün und Gelb auf eine Position in der Landschaft. Durchscheinende Vorzeichnungen und mit dem Spachtel angelegte geometrische Linien deuten auf fachmännisch konstruierte Bauten. Noch stärker wirken die schwarzweißen, kühl anmutenden Kohlestudien wie Architektenentwürfe. Der erneute Verzicht auf literarische Titel und die Durcharbeitung desselben Themas über viele Jahre hinweg deuten auf einen metaphorischen Zugang zum Bildthema. Architektur definiert die Verortung des Individuums in den Bezugssystemen der Gesellschaft. In Bresinskis architektonischen Gebilden und Räumen manifestieren sich offenbar psychische Empfindungen, das Gefangensein in Systemen des menschlichen Daseins, obwohl Fluchtmöglichkeiten vorhanden sind. Es scheint, als sei der Künstler in den zahlreichen, von ihm geschaffenen Varianten auf der Suche nach der „idealen Form“[32] eines allgemein gültigen Gefängnisses, das Lebenszwänge, Sehnsüchte und Fluchten gleichermaßen behaust.
Als Titel seiner großen Einzelausstellung anlässlich der Verleihung des Kunstpreises der Stadt Limburg 2012 wählte Bresinski eine Zeile aus der Gedichtsammlung „L'État d'ébauche“ (1951) des surrealistischen Schriftstellers Noël Arnaud (1919-2003): „Ich bin der Raum wo ich bin“.[33] Räume wirken identitätsstiftend, so der französische Philosoph Gaston Bachelard (1884-1962) in seiner „Poetik des Raumes“ (1957), doch das eigene „Selbst“ komme erst durch das Ausbrechen aus dem Raum zum Vorschein.[34] Entsprechend sind auch Bresinskis fest gefügte „Räume“, menschenhohe Kammern, niemals vollständig abgeschottet, sondern lassen dem „Selbst“ Möglichkeiten zur Flucht, für den Künstler vielleicht aus der Architektur zurück in die Landschaft. „In Jan Bresinskis Bild-Räumen ist immer alles im Übergang des Werdens und Vergehens“, schreibt Jürgen Röhrig im Ausstellungs-Katalog: „Sich darin zu verorten ist eine komplexere Aufgabe, als sich in einer Kammer zu verstecken: Der Raum, wo ich bin, ist kein abgeschlossener Bereich.“[35]
„Ich bin der Raum wo ich bin“ galt in dieser Ausstellung aber auch als Gesamttitel für die vorangegangenen, seit 1992 entstandenen Werkgruppen. Auf frühere Bildserien anspielend schrieb Röhrig: „Verschiedene Modelle erproben auf diesen Tafeln den Raum, erkunden das Bewegungsfeld. Darin gibt es Irrwege, Verschiebungen und Übergänge. Das, was inwändig ist, gilt es gerade zu entdecken, zu bergen.“ Tatsächlich speisen sich Bresinskis „Selbst“ und seine Kreativität aus dem Verweilen und den Fluchten: aus der Stadt in die Landschaft, aus den in der Kulturlandschaft verborgenen Siedlungsstrukturen hin zu Geschichte und Zukunft der Riesenstädte, von den Naturformen der Gärten hin zu den geometrischen Systemen der Landschaftsgestalter, vom „inwändig“ Verborgenen zu den aus dem Weltall sichtbaren und schutzlos ausgelieferten Siedlungen, vom abgeschlossenen Raum zurück in die Natur.
[32] Michaela Plattenteich: Suche nach der idealen Form. Jan Bresinskis Bilder lassen an Architektur denken. Doch er malt Fantasiegebilde – stets ähnlich und doch immer wieder neu, in: Westdeutsche Zeitung vom 17.1.2014, https://www.wz.de/nrw/krefeld/kultur/suche-nach-der-idealen-form_aid-30139565
[33] Ausstellungen Ich bin der Raum wo ich bin: Redaktion des Rhein-Sieg-Anzeigers, Siegburg 2011; Kunstsammlungen der Stadt Limburg, 2012; Kunstspektrum GKK, Krefeld, 2013; Ausstellungs-Katalog Ich bin der Raum wo ich bin 2012 (siehe Literatur)
[34] Matthias C. Müller: Selbst und Raum. Eine raumtheoretische Grundlegung der Subjektivität, Bielefeld 2017, Seite 106
[35] Jürgen Röhrig: (K)ein fester Ort, in: Ausstellungs-Katalog Ich bin der Raum wo ich bin 2012 (siehe Literatur), Seite 1 f.