Tadeusz Rolke. Meister der Dokumentarfotografie
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„Ich werde reisen und fotografieren.“
Dieser Satz stammt von dem 1944 fünfzehn Jahre alten Tadeusz Rolke und er wäre nicht bemerkenswert, wüsste man nicht, wo und unter welchen Umständen er fiel. Damals leistete der Heranwachsende Zwangsarbeit auf dem Hof der Familie Gensch im brandenburgischen Dobbrikow. Seine schmächtige Gestalt und sein jungendliches Alter ließen die deutschen Arbeitgeber unzufrieden mit seinem Tagewerk sein. Mit diesem Satz, der später, als Erwachsener, zu seinem Lebensmotto wird, beantwortete er die Frage der Bäuerin, was er denn einmal machen wolle, wenn er nicht hart arbeiten könne.[1]
Der am 24. Mai 1929 in Warschau (Warszawa) geborene Tadeusz Rolke, der schon als Kind zur Selbständigkeit erzogen wird, interessiert sich früh für die Fotografie. Mit vierzehn Jahren erwirbt er von einem Schulfreund seine erste Kamera, eine Kodak BabyBox, die er aus dem Verkauf selbst gebastelter Flugzeugmodelle bezahlt. Nachdem Tod des Vaters, der Verwaltungsdirektor im Warschauer Rathaus war, findet sich die Familie in bescheidenen Verhältnissen ein. Tadeusz Rolke besucht mit seinem älteren Bruder Andrzej die Helena-Chełmońska-Schule bis sie nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geschlossen wird. Der Junge setzt seine Ausbildung in geheimen Unterrichtsreihen fort, die in Privatwohnungen stattfinden, in denen die Schüler mit ihren Lehrern zusammenkommen. Über seine Erlebnisse zu Beginn des Krieges sagt er:
„Die größte Angst in meinem Leben hatte ich als ich die Flugzeuge kommen hörte und die Bomben näher und näher fielen. Am 24. und 25. September 1939 gab es verheerende Luftangriffe auf Warschau. Wir suchten Schutz in einem Keller (…) Nach zwei Tagen haben wir unsere Straße [die Familie wohnte in der Straße Nowy Świat – Anm. d. Autorin] nicht mehr erkannt. Vor uns lag ein Korridor brennender Häuser. Es war Tag und es herrschte völlige Dunkelheit.“[2]
Der zwölfjährige Tadeusz tritt im Krieg den Szare Szeregi (Graue Reihen) bei, einer konspirativen polnischen Pfadfinderorganisation, in der er die typischen Fertigkeiten lernt, aber auch, Menschen zu beschatten, verbotene Drucksachen auszutragen und kleine Sabotageaktionen durchzuführen. Der Ausbruch des Warschauer Aufstands am 1. August 1944 überrascht Rolke in Wilanów [ein Stadtbezirk von Warschau – Anm. d. Übers.], wohin er mit dem Fahrrad zu einem Pfadfindertreffen gefahren war. Als er versucht, wieder in die Innenstadt zu kommen, wird er am Oberschenkel angeschossen. Ende August ist er als Kurier unterwegs. Seitdem überbringt er Nachrichten und nimmt an der Bergung von Soldaten teil, die im Bombardement verschüttet wurden. Im Rückblick äußert sich Tadeusz Rolke kritisch über den Warschauer Aufstand: den Befehl zum Aufstand gegen den unvergleichlich besser bewaffneten und im Kampf ausgebildeten Feind, den Tadeusz Komorowski, Deckname „Bór“, gab, bezeichnet er als größtes Verbrechen und als unnötige Gefährdung von Leib und Leben der Warschauer Einwohnern.[3] Ähnlich äußert sich der Fotograf über die erhabene patriotische Stimmung, die in den Reihen der Szare Szeregi herrschte:
„Die Pfadfinderbewegung war sehr stark vom Katholizismus geprägt, von Juden wurde nicht gesprochen. Auch in den ‚Szare Szeregiʻ habe ich nie ein Wort über Juden gehört. Sie existierten nicht. Es gab kein Ghetto. Es gab keinen Aufstand im Ghetto. Sie existierten nicht.“[4]
Dieses Thema greift Rolke auch in seinem Buch „Moja namiętność“ (Meine Leidenschaft) auf:
„Es kümmerte sie nichts außer: Gott, Ehre, Vaterland (…) Dies wurde verschwiegen. Für die ‚Szare Szeregiʻ gab es schlicht keine drei Millionen polnische Juden. Diese Haltung fußte offenbar auf Antisemitismus sowie auf dem polnischen Katholizismus und Nationalismus.“[5]
Als sich Anfang September 1944 immer mehr Widerstandsnester ergeben, gerät Rolke in das Durchgangslager 121 in Pruszków. Von hier aus wird er zur Zwangsarbeit nach Deutschland verbracht und kommt aus dem Durchgangslager Frankfurt an der Oder auf den Bauernhof der oben erwähnten Familie Gensch im brandenburgischen Dobbrikow, etwa 50 km südlich von Berlin. Diese Zeit behielt Rolke trotz der schweren Feldarbeit in guter Erinnerung. Er hatte wie seine Schicksalsgenoss:innen auch ein eigenes Zimmer und erhielt dasselbe Essen wie die Bauersfamilie. Er sitzt mit ihr zusammen am Tisch. Da der Junge die Armut auf dem polnischen Land kennt, löst die Produktivität auf dem Hof in Dobbrikow und der Wohlstand seiner Arbeitsgeber einen Zivilisationsschock bei ihm aus. Den menschenwürdigen Umgang mit den Zwangsarbeitenden erklärt sich Rolke mit der unausweichlich nahenden Niederlage im Krieg, derer sich die Deutschen damals immer bewusster werden.
Tadeusz Rolkes Aufenthalt bei den Genschs währt nur ein paar Wochen, bis ihn die Deutschen im November 1944 mit den anderen Zwangsarbeitenden nach Chwalim, in der heutigen Woiwodschaft Lebus (woj. lubuskie), verlegen. Die Fahrt führt sie über Berlin, das der künftige Fotograf zum ersten Mal sieht. Jahre später macht Rolke keinen Hehl daraus, dass ihm die zerstörte Stadt mit ihren menschenleeren Straßen, dem Meer ausgebrannter Häuser und den allgegenwärtigen Ruinen Genugtuung verschaffte. In Chwalim sind Panzergräben auszuheben, um die heranrückende russische Offensive aufzuhalten. Als nächste Station folgt Szczutowo in der Nähe von Sierpc, danach geht es für die Zwangsarbeitenden zu Fuß nach Gollub (Golub), einem Ort kurz hinter der Front. Im März 1945 erreicht Rolke Danzig (Gdańsk), das bereits von der Roten Armee eingekesselt ist. Kurz darauf marschieren die Russen in die Stadt ein, was für den mittlerweile sechzehnjährigen Tadeusz die ersehnte Freiheit und damit verbunden die Rückkehr nach Warschau bedeutet. Dort trifft er auf seine Mutter. Sein älterer Bruder hält sich seinerzeit in Maczków auf, einem Lager für Displaced Persons in einer polnischen Enklave in Niedersachsen. Er wird erst zwei Jahre später zu Hause sein. In die Freude über das Kriegsende und die Möglichkeit, sein früheres Leben wieder aufzunehmen, mischt sich für Tadeusz jedoch Enttäuschung über die neue geopolitische Situation seiner Heimat. Als er am 9. Mai 1945 die Siegesparade sowjetischer Soldaten verfolgt, schwant ihm, dass Polen als besetztes Land vom Regen in die Traufe gekommen ist.
[1] https://culture.pl/pl/tworca/tadeusz-rolke (zuletzt aufgerufen: 08.01.2021).
[2] Tadeusz Rolke. Moja namiętność. Mistrz fotografii w rozmowie z Małgorzatą Purzyńską [Tadeusz Rolke. Meine Leidenschaft. Der Meister der Fotografie im Gespräch mit Małgorzata Purzyńska], Agora SA, Warszawa 2016, S. 28-29.
[3] Tadeusz Rolke. Moja namiętność, S. 36.
[4] Mirosław Tkaczyk, Drzazga. Kłamstwa silniejsze niż śmierć, Znak Literanova, Kraków 2020.
[5] Tadeusz Rolke. Moja namiętność, S. 33.
Nach dem Krieg kehrt Tadeusz Rolke in die Schule und zur Fotografie zurück. Er dokumentiert das zerstörte Warschau und die Orte, in denen er vor dem Krieg aufgewachsen war. Dutzende dieser Fotos sind noch erhalten. Immer häufiger bereist er Polen, um Menschen und Städte zu fotografieren. 1950 nimmt Rolke ein Studium der Philosophie und der Kunstgeschichte an der Katholischen Universität Lublin (Katolicki Uniwersytet Lubelski) auf, um bald darauf an seine Traumuniversität in Warschau zu wechseln, wo er weiter Kunstgeschichte studiert. Seine Glücksträhne hält jedoch nicht lange an. 1952 wird Tadeusz Rolke verhaftet und angeklagt, Mitglied der „Universalistenbewegung“ (Ruch Uniwersalistów) zu sein, einer Organisation, die von der Regierung der Volksrepublik Polen als illegal und staatsfeindlich eingestuft wird. Seinen Namen finden die Ermittler in einem Notizbuch Władysław Jaworskis, des vermeintlichen Kopfes der Bewegung. In einem 2019 anlässlich einer Ausstellung in Budapest geführten Gespräch mit der polnischen Presseagentur (Polska Agencja Prasowa) erinnerte sich der Fotograf so an diese Zeit:
„Ohne den allgemeinen Terror hätte es keinen Stalinismus gegeben. Die politische Polizei witterte in jeder Versammlung, besonders von jungen Leuten, eine Gefahr. Władysław Jaworski war ein frisch gebackener Absolvent der SGH [Handelshochschule in Warschau], der in seiner Diplomarbeit sowohl das kapitalistische als auch das sozialistische Wirtschaftssystem kritisierte. Er forderte ein mittleres System – den ökonomischen Universalismus. Diese Arbeit fiel dem SB (polnischer Sicherheitsdienst) in die Hände und wurde als subversives Material eingestuft, das der Grundordnung der Volksrepublik schade. Alle Menschen, die Jaworski aufgrund seiner zugegebenermaßen weitläufigen gesellschaftlichen Kontakte kannte, wurden verhaftet. Alle wurden als Mitglieder der illegalen ‚Universalistenbewegungʻ abgestempelt.“[6]
Rolke wird wegen staatsfeindlichen Handlungen und wegen des Besitzes subversiver Schriften zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Im September 1954 kommt er im Rahmen einer Amnestie frei, wobei sich die Fortführung des Studiums für den nun politisch verurteilten „Feind des Volkes“ erledigt hat. Tadeusz Rolke widmet sich dafür der professionellen Fotografie und fängt als ungelernte Hilfskraft im Fotolabor des polnischen Optik-Unternehmens Polskie Zakłady Optyczne an, wo er nach Feierabend in der Dunkelkammer die Geheimnisse der Fotografie ergründet. 1955 wechselt er als Fotograf zum Zakład Foto-Przeźroczy [ein staatlicher Betrieb zur Fertigung von Dias – Anm. d. Übers.]. Er reist viel durchs Land und macht seine Bilder, bevorzugt in der Landwirtschaft und in der Nahrungsmittelindustrie. Dabei reift seine Absicht, journalistisch tätig zu werden. Schließlich kommt eine Zusammenarbeit mit der auflagenstarken Pfadfinderzeitschrift „Świat Młodych“ (Die Welt der Jugend) und mit der illustrierten Wochenzeitschrift „Stolica“ (Die Hauptstadt) zustande. Rolkes Talent wird rasch erkannt, zudem bricht in Polen das sogenannte „Tauwetter“ an und Verurteilungen in der Vergangenheit stellen keine Karrierehürde mehr dar. Eine feste Anstellung als Fotojournalist rückt in Reichweite. Rolke bekommt sie 1956 bei der „Stolica“, einem Magazin, das sich dem Wiederaufbau Warschaus verschrieben hat. Rolke hält den städtischen Alltag fest, fotografiert Architekten, Künstler und Maler, mitunter auch Würdenträger der Partei. 1960 wechselt er zu dem in mehreren Sprachen erscheinenden Monatsmagazin „Polska“ und arbeitet für das Wochenblatt „Przekrój“ (Der Querschnitt) und die Zeitschrift „Ty i ja“ (Du und Ich). Des Weiteren widmet er sich nun auch der Modefotografie und trifft mit der Designerin Barbara Hoff zusammen, später auch mit Grażyna Hase, wobei er sich nicht als Modefotograf versteht:
„Damals mussten wir flexibel sein. Ein Modefotograf war ich nie, deshalb musste ich keine Modelle auf dem Laufsteg, also keine Frauen, die auf wandelnde Kleiderbügel reduziert waren, fotografieren. Es machte mir Spaß, Mode abzulichten. Den Modellen räumte ich viele Freiheiten ein. Sie gaben sich sehr natürlich vor meinem Objektiv und ich hatte für eine einzigartige Stimmung zu sorgen.“[7]
Rolkes Arbeiten aus der Welt der Mode entstehen in Warschau, Paris und Moskau.
Doch trotz seiner beruflichen Erfolge setzt es dem Fotografen immer mehr zu, den grauen, repressiven Alltag in den 1960er Jahren der Volksrepublik Polen zu ertragen. Zudem weckt Rolke wegen seiner Kontakte zu ausländischen Journalisten das Interesse des Sicherheitsdienstes. In einer staatlich kontrollierten Realität fällt es schwer, sich zu entwickeln und eigene Wege zu gehen. Das Fass zum Überlaufen bringt dann das Jahr 1968, in dem die polnische Regierung Jagd auf die in Polen lebenden Juden macht, während sich das polnische Militär an der Intervention in der Tschechoslowakei beteiligt. Rolke verfolgt den Wunsch, in den Westen zu emigrieren. Er lässt seine Verbindungen ins Ausland spielen, doch jeder Antrag auf einen Pass wird abgelehnt. Die Ausreise gelingt ihm erst 1970 als er ein Stipendium der „Aktion Sühnezeichen“ erhält, für die er schon einmal den Aufenthalt und die Arbeit junger Deutscher im ehemaligen Konzentrationslager Ausschwitz dokumentierte. Er zieht nach Wolfsburg und bereitet seine erste Fotoausstellung „Väter und Kinder“ vor, in der er Bilder aus dem Konzentrationslager zeigt, und zwar die der Väter, die in einem Ausschwitzprozess noch einmal zu einem Lokaltermin dorthin kommen, und die der Kinder, die dort für die „Aktion Sühnezeichen“ waren. Diese Bilder werden 2011 erneut in Deutschland gezeigt. Diesmal in der Ausstellung „Tür an Tür. Polen – Deutschland. 1000 Jahre Kunst und Geschichte“ im Martin-Gropius-Bau in Berlin.
[6] Zitiert aus dem Beitrag W Budapeszcie wystawa zdjęć Tadeusza Rolkego auf dem Portal dzieje.pl: https://dzieje.pl/wystawy/w-budapeszcie-wystawa-zdjec-tadeusza-rolkego (zuletzt aufgerufen: 11.01.2021)
[7] Tadeusz Rolke. Moja namiętność, S. 171.
Das Stipendium erlaubt Rolke den ersten Besuch Deutschlands nach 1945, vor allem aber den ersten Besuch Westdeutschlands (im Krieg war er nur im Osten gewesen – Anm. d. Autorin). Der Wohlstand, der hier allgegenwärtig ist, beeindruckt ihn sehr:
„Das war doch ein sehr großer Zivilisationsunterschied zwischen den beiden Ländern damals. Dieser Lebensstandard und die Geschäfte ... Das war nicht zu vergleichen. Mit einem Wort: Die Deutschen haben den Krieg gewonnen, und Polen hat den Krieg verloren. Das war mein Fazit.“[8]
Rolke beschließt, nach dem Stipendium nicht mehr nach Polen zurückzukehren. Die ersten Aufträge erhält er als Fotograf bei Filmproduktionen, für die er Schauspielerporträts und Bilder am Set macht. Später zieht er nach Hamburg, wo er kurz als fest angestellter Fotograf im Heinrich Bauer Verlag und dann als „Freelancer“ wirkt. Hier macht er für diverse Firmen Fotos von Hamburger Künstlern, wobei auch erste Fotoreportagen entstehen, die in der Presse erscheinen. Rolke unternimmt außerdem Reisen durch Deutschland und arbeitet für Inter Nationes, eine staatliche Agentur in Bonn, zu deren Aufgaben die kulturelle Öffentlichkeitsarbeit für die Bundesrepublik gehört. Damals entstehen Fotografien wichtiger westdeutscher Künstler, etwa des Malers Gerhard Richter, des Malers und Happeningkünstlers Wolf Vostell sowie des vielseitigen Joseph Beuys. Das Bild von ihm, als er sich an die Haube eines VW-Käfers lehnt, gehört zu den bekanntesten Werken Rolkes.
Die unruhigen 1970er Jahre in Polen, die wachsenden Proteste gegen die Regierung und die Repression gegen die „Unbeugsamen“ wecken in dieser Zeit ein zunehmendes Interesse am Land und seiner Bevölkerung. Rolkes Reportagen erscheinen in den größten westdeutschen Zeitschriften: „Stern“, „Die Zeit“, „Der Spiegel“ und „GEO“. Viel Aufmerksamkeit finden seine Fotos des berühmten Hamburger Fischmarkts. Rolke zeigt den Ort wie niemand sonst als einzigartige Mischung aus geschäftigem Markttreiben und vitalem Leben, das dort ebenfalls eine große Rolle spielt. Die Bilder des Fischmarkts werden zugleich zu Rolkes größter Fotoreportage. Er erinnert sich wie folgt:
„Auf diesem Markt pulsierten sehr interessante gesellschaftliche Aktivitäten. Sein Besuch war wie eine Jagd. Es war immer sehr aufregend, wie viele Bilder ich an dem Tag schießen würde. Ich wusste das schon am Nachmittag: Fünf Fotos sind ein guter Tag. (…) Ich war fasziniert - von dem Verhalten der Menschen, von ihren Interaktionen und deren Vielfalt, von den Kneipen, von der ganzen Lockerheit - Es war ein Kessel.“[9]
Während seines Aufenthalts in Deutschland gelingt es Rolke nach einigen Jahren Karenzzeit, in denen er kein Pass erhielt, Polen mehrfach zu besuchen. Dort herrscht der „Karneval der Solidarność“ – eine unabhängige Presse entsteht, das kommunistische Regime gibt sich liberaler, die Regierung erlaubt den Bürgerinnen und Bürgern Freiheiten. In dieser Zeit realisiert Rolke unter anderem für den „Stern“ eine große Reportage vom Kongress der „Solidarność“ an der Technischen Hochschule in Warschau (Politechnika Warszawska). Doch die Entspannung in Polen ist nur von kurzer Dauer. Sie endet mit der Ausrufung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981. Diese Nachricht erreicht Rolke auf dem Fischmarkt in Hamburg. Einige Tage später beschließt er, nach Polen zurückzukehren, wo er kaum Bilder macht, da er sich nach eigener Aussage nicht als politischer Fotograf versteht. Zu der Zeit konzentriert er sich, inspiriert von Erichs Fromms „Die Kunst des Liebens“, auf die Vorbereitung eines Albums über die Liebe, das aber jedoch nie veröffentlich wurde. Er arbeitet jetzt für das deutsche Kunstmagazin „Art“ und veröffentlicht seine Reportagen aus Polen in den Zeitschriften „GEO“, „Stern“ und „Brigitte“.
In Polen ist Tadeusz Rolke vor allem als Chronist des Alltags und des sozialen Wandels bekannt, zu dessen Zeuge er in Jahrzehnten wurde. Seine wichtigste Ausstellung zu diesen Themen unter dem Titel „Jutro będzie lepiej“ (Morgen wird es besser) zeigte 2011 Fotografien der politischen Wende im Jahr 1989 sowie aus den frühen 1990er Jahren. Die Bilder belegen die Begabung des Fotografen für den richtigen Moment. Rolke ist wie kaum jemand sonst in der Lage, das Außergewöhnliche im Alltäglichen wahrzunehmen. Er versteht es meisterhaft, die Augenblicke festzuhalten, die andere gleichgültig lassen. Zu seinen Arbeiten zählen außerdem exzellente Bilder polnischer Künstlerinnen und Künstler wie Tadeusz Kantor, des Malers Nikifor, von Kora Jackowska, der Frontfrau der Band „Maanam“, von Alina Szapocznikow, Zbigniew Cybulski und Kalina Jędrusik.
[8] Tadeusz Rolke, Wie ich unter die Deutschen geriet. Ein Gespräch, Edition.fotoTAPETA, Berlin 2019, S. 93.
[9] Tadeusz Rolke. Moja namiętność, S. 293 und 295.
Seit den 1990er Jahren widmet sich Tadeusz Rolke, der inzwischen keiner Redaktion mehr angehört, immer leidenschaftlicher seinen eigenen Projekten – unter anderem der Suche nach jüdischen Spuren in Polen und in der Ukraine. Seine Motive erklärt er wie folgt:
„Ich war ja Zeuge. Ich habe den Holocaust gesehen, nicht nur davon gelesen oder gehört. Und ich wollte darüber sprechen. Ich möchte das öffentlich machen, nicht verheimlichen. Das war auch irgendwie meine persönliche Sache.“[10]
2008 veröffentlichte der Berliner Verlag edition.fotoTAPETA, den Rolke mit gegründet hat, das Album „Wir waren hier. Verschwindende Spuren einer verschwundenen Kultur“, in dem die Überreste der chassidischen Kultur auf den ehemals polnischen Gebieten festgehalten worden sind. Die verheimlichte Vergangenheit wiederum wurde in dem Projekt „Sąsiadka“ (Die Nachbarin) aufgegriffen. Die Inspiration zu diesem Projekt verdankte sich dem Buch des Historikers Jan Tomasz Gross „Sąsiedzi. Historia zagłady żydowskiego miasteczka“ [deutsch: Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, übersetzt von Friedrich Griese, C.H. Beck Verlag, München 2001 – Anm. d. Übers.], in dem die Geschichte der Juden in Jedwabne erzählt wird, die 1941 von ihren polnischen Nachbarn ermordet wurden. Die Ausstellung dazu bereitet Rolke zusammen mit dem Fotografen Chris Niedenthal vor; die Vernissage findet 2001 anlässlich des 60. Jahrestags der Ereignisse statt. 2017 kehrt Rolke zu diesem Thema zurück, indem er 16 Ortschaften bereist und fotografiert, in denen ähnliche Pogrome stattgefunden haben, wie Mirosław Tryczyk in seinem Buch „Miasta śmierci“ (Todesstädte) belegt. Die Ausstellung „Lekcja pamięci“ (Lektion der Erinnerung) wurde im Jüdischen Historischen Institut (Żydowski Instytut Historyczny) in Warschau gezeigt.
Besonderen Stellenwert im Gesamtschaffen von Tadeusz Rolke nimmt das Projekt „Tam i z powrotem“ (Hin und zurück) aus dem Jahr 2019 ein. Es führt den 90-jährigen Fotografen an die Orte zurück, an denen er sich am Ende des Krieges aufgehalten hat. Zu diesem Zweck bereist er 10 Tage lang Polen und Deutschland und macht dabei über 20 Bilder, die die Geschichte des jungen Tadeusz Rolke erzählen. Wir sehen das heutige Dorf Dobbrikow in Brandenburg, in dem der Jugendliche aus Warschau Zwangsarbeit leisten musste, aber auch Berlin, Kargowa, Chwalim, Okonin und schließlich Gdańsk. Marek Grygiel, der Kurator der Ausstellung, die anlässlich des neunzigsten Geburtstags des Fotografen in der Warschauer Galerie „La Guern“ ausgerichtet wurde, berichtet darüber wie folgt:
„Die Idee, diesen Weg nach 75 Jahren noch einmal zu durchleben, diente als Erinnerung an die prägenden Jahre im Leben des damaligen Jungen. In Anbetracht dessen, dass jeder Ort auf dieser Wanderung heute ganz anders aussieht, eine schwierige Reise. Die jahrelang aufbewahrten Bilder werden im Gedächtnis neu aufgerufen, dabei kehren Erinnerungen zurück und halten dem Lauf der Zeit stand. Die in nur zehn Tagen und nach 2.200 km entstandenen Fotografien stellen sowohl die realen als auch die geografischen Orte der Ereignisse dar, die sich vor vielen Jahren abgespielt haben, aber auch die, die sich unmittelbar auf den dramatischen Lebensabschnitt in Tadeusz Rolkes Biografie beziehen.“[11]
Tadeusz Rolke ist trotz seines hohen Alters weiterhin aktiv und seine Arbeiten werden unverändert gern von Galerien gezeigt. Eine Kamera hat er eigentlich immer dabei. Beim Publikum und unter Kritikerkreisen gilt er als wahres Phänomen. Adam Szymczyk schrieb in seinem Vorwort zu dem Fotoband „Tadeusz Rolke. Fotografie 1944-2005“ über ihn:
„Er gehört zu der aussterbenden Generation von Künstlern, die an den Wert der Fotografie glauben, der im Festhalten eines Offenbarungsmoments liegt. Intuitiv und intelligent schafft er es stets, dort aufzutauchen, wo sich die Planeten in einer Linie reihen, und das auch zu fotografieren. Dank Künstlern wie ihm geschehen immer noch Wunder, und die Erinnerung ist dafür da, dass man etwas hat, was man vergessen kann. Ohne ihn würden wir in einer ewigen, perfekt transparenten Gegenwart leben - wie im Fernsehen“.[12]
Monika Stefanek, Januar 2021
Fotografien mit freundlicher Genehmigung von Tadeusz Rolke und der Agencja Gazeta.
Fotobände der letzten Jahre:
- „Rolke“ (2015) http://www.bosz.com.pl/books/496/Rolke-Tadeusz-Rolke/-
- „Rolke w kolorze“ (2019) http://www.bosz.com.pl/books/693/Rolke-w-kolorze-Tadeusz-Rolke/d,53,10/
2012 entstand der Film des Regisseurs Piotr Stasik über das Leben von Tadeusz Rolke unter dem Titel „Dziennik podróży“ (Das Reisetagebuch). Im Internet auf https://ninateka.pl/film/dziennik-z-podrozy-piotr-stasik
[10] Rolke, Wie ich unter die Deutschen geriet ..., S. 119.
[11] Zitiert aus dem Beitrag Tam i z powrotem – wystawa Tadeusza Rolke auf dem Portal Optyczne.pl: https://www.optyczne.pl/13762-news-Tam_i_z_powrotem_-_wystawa_Tadeusza_Rolke.html (zuletzt aufgerufen: 13.01.2021).
[12] Tadeusz Rolke, Fotografie 1944-2005, Vorwort Adam Szymczyk, Wydawnictwo Galerii Foksal, Warszawa 2015.