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Stefan Szczygieł. Das fotografische und filmische Werk

Dokumentarfotos der Installation von „Urban Panorama“ an der U-Bahnstation „Centrum“ in Warschau vor dem Palast für Kultur und Wissenschaft. Urban Panorama I und II, 2007/2008, 5x18m

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  • Stefan Szczygieł - In Hamburg. Foto: Hinrich Franck
  • „Coin“ (5 cents) - Aus der Serie „Blow Ups“, 2001-2005, Fotogramm, 200 x 200 cm
  • „Silberdose“ - Aus der Serie „Blow Ups“, 2001-2005, Fotogramm, 200 x 260 cm
  • „Blatt“ (Brosche) - Aus der Serie „Blow Ups“, 2001-2005, Fotogramm, 350 x 200 cm
  • „Buch“ - Sammlung der Gesetz Verordnungen, Fotogramm, 230 x 200 cm
  • „Latarka-Elekrodyn“ - Aus der Serie „Blow Ups", Fotogramm, 250 x 200 cm
  • „Feuerzeug“ - Aus der Serie „Blow Ups“, Fotogramm, 200 x 300 cm
  • „Guzik“ - Aus der Serie „Blow Ups“, Fotogramm, 200 x 200 cm
  • „Telefon“ - Aus der Serie „Blow Ups“, Fotogramm, 200 x 260 cm
  • „Taschenuhr“ - Aus der Serie „Blow Ups“, Fotogramm, 250 x 200 cm
  • „Zorki“ - Aus der Serie „Blow Ups“, Fotogramm, 200 x 300 cm
  • „Warschau, Brücke“ - Aus der Serie „Urban Spaces“, 2005-2009, Inkjet Photo Print, 60 x 170 cm (Edition Auflage: 10)
  • „Warschau, Hala Mirowska“ - Aus der Serie „Urban Spaces“, Inkjet Photo Print, 60 x 170 cm (Edition Auflage: 10)
  • „Warschau, Złote Tarasy“ - Aus der Serie „Urban Spaces“, Inkjet Photo Print, 80 x 170 cm (Edition Auflage: 10)
  • „Warschau, Klostermauer“ - In Powiśle. Aus der Serie „Urban Spaces“, Inkjet Photo Print, 60 x 144 cm (Edition Auflage: 10)
  • „Warschau, Stadion“ - Aus der Serie „Urban Spaces“, Inkjet Photo Print, 60 x 200 cm
  • "Warschau, Dach" - Aus der Serie “Urban Spaces”, Inkjet photo print, 110 x 100 cm.
  • „Warschau, Saski Park“ - Aus der Serie „Urban Spaces“, Inkjet Photo Print, 60 x 170 cm (Edition Auflage: 10)
  • „Warschau, Ursynów“ - Aus der Serie „Urban Spaces“, Inkjet Photo Print, 60 x 170 cm (Edition Auflage: 10)
  • “Warschau, Saski Park” 2 - Aus der Serie “Urban Spaces”, Inkjet photo print, 60 x 170 cm (Edition: 10).
  • „Warschau, Łazienkowska“ - Aus der Serie „Urban Spaces“, Inkjet Photo Print, 60 x 170 cm
  • „Warschau, Przystanek tramwajowy“ - Aus der Serie „Urban Spaces“, Inkjet Photo Print, 100 x 240 cm
  • „Köln, Hohenzollernbrücke“ - Aus der Serie „Urban Spaces“, Inkjet Photo Print, 85 x 240 cm.
  • „Köln, Hauptbahnhof“ - Aus der Serie „Urban Spaces“, Inkjet Photo Print, 100 x 230 cm
  • „Köln, Museum Ludwig“ - Aus der Serie „Urban Spaces“, Inkjet Photo Print, 150 x 240 cm
  • „Paris, Notre Dame“ - Aus der Serie „Urban Spaces“, Inkjet Photo Print, 95 x 240 cm
  • „Paris, Louvre“ - Aus der Serie „Urban Spaces“, Inkjet Photo Print, 95 x 240 cm
  • „Paris, Seine-Ufer“ - Aus der Serie „Urban Spaces“, Inkjet Photo Print, 80 x 240 cm
  • Warschau, Urban Panorama I - Installation „Urban Panorama“, U-Bahnstation „Centrum“ in Warschau vor dem Palast für Kultur und Wissenschaft. 2007/2008, 500 x 1800 cm
  • Warschau, Urban Panorama II - Seitliche Ansicht.
  • „Domek 08“ - Aus der Serie „Domek“, 2007-2009, Inkjet Photo Print, 60 x 90 cm (Edition, Auflage: 5+3 e.a.)
  • „Domek 09“ - Aus der Serie „Domek“, Inkjet Photo Print, 60 x 90 cm
  • „Domek 10“ - Aus der Serie „Domek“, Inkjet Photo Print, 60 x 90 cm
  • „Domek 23“ - Aus der Serie „Domek“, Inkjet Photo Print, 60 x 90 cm
  • ZEITFLUG - Hamburg - Aus "Urban Spaces", Video: 12:00 min. Stefan Szczygieł. Mit freundl. Genehmigung: Claus Friede*Contemporary Art

    ZEITFLUG - Hamburg

    Aus "Urban Spaces", Video: 12:00 min. Stefan Szczygieł. Mit freundl. Genehmigung: Claus Friede*Contemporary Art
  • ZEITFLUG - Warschau - Aus "Urban Spaces", Video: 13:19 min. Stefan Szczygieł. Mit freundl. Genehmigung: Claus Friede*Contemporary Art

    ZEITFLUG - Warschau

    Aus "Urban Spaces", Video: 13:19 min. Stefan Szczygieł. Mit freundl. Genehmigung: Claus Friede*Contemporary Art
Urban Panorama I, 2007/2008, 500 x 1800 cm
Dokumentarfotos der Installation von „Urban Panorama“ an der U-Bahnstation „Centrum“ in Warschau vor dem Palast für Kultur und Wissenschaft. Urban Panorama I und II, 2007/2008, 5x18m

Der Künstler und Fotograf Stefan Szczygieł ist 1961 in Warschau geboren und hat von 1984 bis 1992 Freie Kunst an der Kunstakademie Düsseldorf studiert, zunächst einige Jahre in der Fotografieklasse von Bernd Becher[1], anschließend Video-Kunst beim Pionier der Medienkunst, dem Koreaner Nam June Paik[2]. 1993 zieht es ihn zurück in seine Heimatstadt Warschau. Er eröffnet sein eigenes Fotostudio und arbeitet als freischaffender Fotograf und Künstler. Szczygieł verdient sich seinen Lebensunterhalt, indem er für diverse Foto- und Werbeagenturen sowie Fachmagazine fotografiert, Künstler portraitiert, für touristische Broschüren die Stadt Warschau ablichtet und später für verschiedene Fotografie-Portale im Internet Aufträge erhält. Ab den frühen 2000ern erhält er auch Fotoaufträge von Institutionen, Unternehmen und Agenturen aus Deutschland.

Seine besondere Beziehung zu Deutschland führt er zeitlebens in seinem fotografischen Werk fort. Ihm gefallen besonders die Einladungen, seine freien fotografischen und filmischen Projekte durchzuführen und zu präsentieren, besucht regelmäßig Köln und Hamburg. Außerdem nimmt er an zahlreichen Ausstellungen in Polen, Deutschland, den Niederlanden und Norwegen teil. Er verstirbt nach Krankheit kurz vor Weihnachten des Jahres 2011.

Szczygieł kommt zu einer Zeit zum Studium nach Deutschland, als in Polen gerade das Kriegsrecht beendet worden war und im darauffolgenden Jahr, 1984, mehr als 550.000 Polen das Land verlassen[3]. Über 50%[4] von ihnen reisen – entgegen der Beantragung – dauerhaft in die Bundesrepublik Deutschland und nach Westberlin. Stefan Szczygieł gehört dazu. Er will eine gute und ideologiefreie Ausbildung, die es ihm ermöglicht, sowohl in seinem Heimatland Polen als auch im Westen später einmal Karriere zu machen.

Zur Zeit des „Eisernen Vorhangs“ schauen westliche Kulturvermittler, Kunstexperten in Museen und Galerien selten aufmerksam gen Osten: Obwohl in Wellenbewegungen und dem jeweiligen politischen Klima geschuldet, konnte sich in diesen Jahrzehnten gerade in Polen, der ČSSR und Ungarn, aber auch in der DDR eine ganz eigene Szene bilden, die auch jenseits von sozialistisch-propagandistischer und Auftragskunst ein bescheidenes Dasein fristete. Erst in den 1980ern wird in der Bundesrepublik Deutschland langsam auch die Kunst jenseits der Ideologiegrenze wahrgenommen, obwohl Berufsbilder innerhalb der Bildenden Kunst in Szczygiełs Heimatland Polen sowie in den sozialistischen Nachbarländern als „perspektivlos“ gelten. Künstler im gesamten Ostblock werden über Jahrzehnte von den relevanten kunststrategischen und Kunstmarkt-orientierten Staaten und Nationen nicht gesehen, nicht ernst genommen und damit ausgeschlossen. So ist der Beruf ‚Künstler’ alles andere als attraktiv[5].

 

[1] WS 1984/85 bis SS 1988.

[2] WS 1988/89 bis SS 1992.

[3] Vgl. STOLA, Dariusz: „Das Kommunistische Polen als Auswanderungsland“, in Zeithistorische Forschungen, Heft 3/2005, S. 359.

[4] Detaillierte Informationen zu Auslandsreisen der 1980er-Jahre gibt Barbara Sakson in ihrer Studie Der Einfluss „unsichtbarer“ Auslandsmigrationen in den achtziger Jahren auf die Demographie in Polen (Warszawa 2002), in der die Autorin die Daten des Systems zur Erfassung der Auslandsmobilität der Bevölkerung (SERP), in dem alle Reisen in den Westen registriert wurden, analysiert und auswertet.

[5] Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn.

Stefan Szczygieł ergreift die Gelegenheit im Zuge der sich damals anbahnenden Liberalisierung der Passbeantragung in Polen beim Schopf und erbittet die Ausreise. Dass der Zweck ein längerer Studienaufenthalt in Deutschland sein soll, gibt er nicht an. Er will zum einen seiner Leidenschaft zu fotografieren, zum anderen seinen freien künstlerischen Vorstellungen eine berufliche Gestalt geben. Die Düsseldorfer Kunstakademie gehört mit ihrem experimentellen Charakter in jener Zeit zum Zentrum der Ausbildung neuer Medien und der Fotografie: Die Klasse von Bernd Becher (1931-2007) ist Anlaufpunkt für Studenten, die sich der künstlerischen und dokumentarischen Fotografie widmen wollen, Nam June Paik (1932-2006) ist als Komponist und Künstler der Übervater und Begründer der Medienkunst und einer der wichtigsten künstlerischen Persönlichkeiten innerhalb der Akademie.

Beide Komponenten, die klare dokumentarische Strenge der Becher-Klasse wie auch das künstlerisch Freie bei Nam June Paik ziehen sich wie ein roter Faden durch das spätere Werk von Stefan Szczygieł. Dabei ist eines – beiden: Ausbildern wie dem Schüler – gemein: die extrem hohe Präzision der formalen Techniken und inhaltlichen Themen sowie eine eigene Werktreue.

Nach einer Zeit der beruflichen Konsolidierung in den 1990er-Jahren – Szczygieł arbeitet nun in erster Linie als Werbe- und Agenturfotograf und verdient genug Geld, um sich mit Zeitverzug auch parallel seinen freien Projekten widmen zu können – findet er mit dem Jahrtausendwechsel schließlich in die künstlerische Fotografie zurück.

 

Blow Ups
 

Innerhalb dieser Domäne beginnt Szczygieł mit einer fotografischen Serie, die er mit den englischen Begriffen Blow Ups oder High Resolution Objects (dt.: „Vergrößerungen“ oder „Hochaufgelöste Objekte“) bezeichnet und während einer Zeit von fünf Jahren kontinuierlich verfolgt.

Einzelne Gegenstände, wie beispielsweise Uhren, Telefone, Schmuckstücke, Zigarettendosen, Feuerzeuge, Bücher, Fotoapparate, Münzen und Knöpfe – zum Teil historisch – werden von ihm präzise und in extremer Vergrößerung vor oder auf einem neutralen Hintergrund abgelichtet. Die Abzüge sind mit 200 x 200 cm und bis zu 200 x 400 cm überdimensional groß. Im Vergleich mit den eigentlich dargestellten Objekten entstehen bis zu 200-fache Vergrößerungen. Diese Close-Ups wirken durch das Großformat und dem indifferenten hellgrauen Hintergrund auf eine ganz eigenartige Weise hyperreal, als ob die Gegenstände schweben und ohne jede Verankerung existieren würden und keinen Gravitationsgesetzen zu folgen hätten. Hinzukommen die Hervorhebungen makroskopischer Details wie Kratzer, Verfärbungen, Altersspuren, Rost, kleine Prägungen und Ziselierungen sowie eine Materialdichte, die von bis zu 350 Millionen Pixeln Bildauflösung gespeist wird.

Besonders erwähnenswert ist die Ästhetisierung der Objekte, die im normalen Alltag durch den konstanten und wenig hinterfragten und sorgfältigen Gebrauch ihre ursprüngliche Seele ein wenig verloren zu haben scheinen. Stefan Szczygieł sorgt dafür, dass die zumeist in Massenproduktion hergestellten Objekte – selten sind es Unikate – im wahrsten Sinne des Wortes in ein neues Licht gerückt und quasi als individuelle Besonderheiten aus der Welt herausgehoben werden. So dienen die ausgewählten Objekte keinerlei Archivierung oder Inventarisierung, sondern sind allein auf den Fokus des Wahrnehmens gerichtet: auf die Reflexion von Einzelstücken aus unserem täglichen Leben, auf die Rückbesinnung auf einen ursprünglichen oder bewussten Gebrauch derselben sowie auf eine indifferente und nicht weiter präzisierte geschichtliche Erzählung. Er löst die teilweise bereits im Alltag (fast) verschwundenen Einzelstücke aus ihrem Kontext, ohne sie dabei ihres Ursprungs zu berauben. Wir sehen die Dinge dadurch neu, überdenken Bedeutungshoheiten und definieren diese sogar anders. In der Anschauung der Fotowerke entführt uns jedes einzelne Objekt in einen chromatischen Reichtum jenseits jedweder Dokumentation. Wir schätzen die Dinge mehr für deren Aussehen als für ihre Funktion und erleben sie durch die Vergrößerung im Detail vollkommen neu. Der Kunstkritiker Marek Bartelik beschreibt diesen Umstand in seinem Aufsatz über Szczygieł in der englischsprachigen Kunstzeitschrift „Artforum International Magazine New York“ im Jahr 2007 mit lyrischen Worten: „Er wagt sich in die Unterwelt dieser alten, fast aus unserer Wahrnehmung verschwundenen Gegenstände und enthüllt deren letzten Schimmer von Schönheit”[6].

Gerade die Gebrauchsspuren sind es, die diese Schönheit definieren und die die einzelnen Objekte wie Fundstücke (objets trouvés) daherkommen lassen, bis hin zur Erkenntnis ihrer Dysfunktion. Marcel Duchamps (1887-1968) Idee der Readymades[7] wird zitiert und in Beziehung gesetzt. Bis heute trauen sowohl viele aus der Kunstwelt als auch viele der Rezipienten bereits existierenden Gegenständen, die zur Kunst erklärt werden, nicht über den Weg. Stefan Szczygieł hingegen erreicht über den „Filter“ der Fotografie genau das: die Dinge mittelbar zu Kunst zu erklären. Das ist ein Erbe, das er sich aus dem Studium erhalten und von Nam June Paik übernommen hat.

Für den Künstler sind die Blow Ups wie individuelle Portraits – nur nicht von Menschen oder Persönlichkeiten, sondern von Objekten, die dem Menschen einst dienten oder bis heute dienen und ihre eigene Geschichte haben.

 

[6] BARTELIK, Marek: „Stefan Szczygieł: Center for Contemporary Art - Ujazdowski Castle”, in Artforum International, 1. November 2007. Im Original heißt es: “He ventures into the underworld of these old, disappearing items, revealing their lasting beauty” (die Übersetzung vom Englischen ins Deutsche stammt von Claus Friede).

[7] Vgl. Marcel Duchamp and the Readymade, Museum of Modern Art, New York [https://www.moma.org/learn/moma_learning/themes/dada/marcel-duchamp-and-the-readymade].

In den Titeln der jeweiligen Großfotos benennt der Fotokünstler nicht nur den jeweiligen Gegenstand mit Hilfe einer pragmatischen Bezeichnung, sondern auch dessen Ort der Entstehung und Herkunft. Szczygieł betitelt in drei unterschiedlichen Sprachen: Deutsch (der Großteil der insgesamt knapp 250 fotografierten Objekte) sowie Polnisch und Englisch. So lauten die Titel schlicht: „Coin“ (Münze) oder „Feuerzeug“ und „Lighter, Latarka“ (Taschenlampe), „Guzik“ (Knopf) oder „Silberdose“. Einerseits internationalisiert er sein Werk damit, vermittelt vermeintlich kulturelle und ästhetische Verortungen und transkulturalisiert insofern, dass gemeinsame (ästhetische) Werte, Vorlieben und Vorstellungen sichtbar werden. So ist das am japanischen Holzschnitt im Ukyo-e-Stil der sogenannten Edo-Zeit[8] orientierte Zedernzweigmotiv auf einem Feuerzeug einer gesamteuropäischen Vorliebe für und Sehnsucht nach Fernost geschuldet, die die Kunst West-, Zentral- und Nord-Europas seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts inspiriert hat und bis zum Ende des 20. Jahrhunderts beeinflusste.

Dass der Künstler bei den Blow Ups auch zwischen den Grenzen von kommerzieller und künstlerischer Fotografie oszilliert und diese oberflächlich überschreitet, ist für ihn kein Problem, obwohl dies auch seinerzeit mit Kunstexperten zu Diskussionen führt. Sein Gegenargument ist typisch für die Generation, die sich während der Ausbildung in den 1980ern in Deutschland inhaltlich mit einzelnen französischen Philosophen der „Ecole de Paris“ beschäftigt haben, und führt bei Szczygieł direkt nach den Blow Ups in eine neue Werkserie, die sich inhaltlich ebenso an deren Konzepten abarbeiten kann: die Landschaft. Er spricht von „Postmoderner Romantik“ und zitiert Jean Baudrillards Unterscheidung zwischen dem „Charme des Realen" und der „Magie des Konzepts“[9]. Die Homogenisierung von Zeichen – wie es Baudrillard in seinem links-orientierten und west-marxistischen Frühwerk sowohl mit Blick auf Konsumgüter als auch auf Kunstwerke postuliert – nimmt der Fotokünstler inhaltlich auf und stellt sie bei der Serie mit zur Disposition, zumal sich die beiden Systeme, was die fotografierten Objekte angeht, durchaus überlagern.[10]

 

[8] Edo-Zeit (Japan): Edo ist der ursprüngliche Name Tokios. Zeitraum zwischen 1603 bis 1868. Weitere Informationen unter: https://www.japandigest.de/kulturerbe/geschichte/geschichte/edo-zeit-1603-1868/.

[9] Vgl. MILLS, Charles: „Simulations: The Death of the Real in Baudrillard”, Academy.edu, San Francisco, 2014, S.1.

[10] Ebd., S. 3.

Urban Spaces
 

Ab dem Jahr 2005 ändert Stefan Szczygieł sein thematisches Interesse und verlässt den Atelierraum. Sein Projekt Urban Spaces besteht aus groß- und mittelformatigen Architektur- und Stadtraumfotografien, die Gebäudekomplexe, urbane Räume und Verkehrs-, sprich Kommunikationsadern abbilden und in Beziehung setzen.
Im Gegensatz zu seinen Fotokünstlerkollegen aus der Düsseldorfer Becher-Klasse (Thomas Ruff, Andreas Gursky, Thomas Struth, Candida Höfer, u.a.), fotografiert Szczygieł Stadträume, Architektur, Baukörper und Außenfassaden keineswegs mit dokumentarischer Verve, vermeintlich neutral, menschenleer und distanziert, sondern immer im Hinblick auf die alltäglichen (Ab-) Nutzungen durch die Stadtbewohner, die die Räume durchqueren, in ihnen leben und arbeiten.

Das unterscheidet ihn auch von den fotografischen Stadtraumfotos des 19. und 20. Jahrhunderts. Zwar kennt Szczygieł die namhaften Dokumentarfotografen Eugène Atget (1857-1927), der um die vorletzte Jahrtausendwende die großen urbanen Veränderungen seines Lebensmittelpunkts Paris festhielt, sowie Berenice Abbott (1898-1991) mit der Dokumentation über die bauliche Erneuerung New Yorks in den 1930er- und 40er-Jahren, aber diese dienten ihm lediglich als Kontrast zur eigenen und zweckungebundeneren Auffassung urbaner Landschaftsfotografie. Stefan Szczygiełs Interesse ist im Vergleich zu den Dokumentaristen vor allem kultursoziologisch fokussiert. Er zeigt das Verhältnis von Gebrauchs- zu ästhetischen Werten auf und die sich durch (Ab-) Nutzung verändernden Zustände von Objekten und Räumen, bevor er schließlich seine Ergebnisse zur Diskussion stellt.

Neben den innerstädtischen Räumen wendet sich der Künstler ebenso motiviert Stadtrandgebieten und Parkanlagen, d.h. Arealen der Kurzerholung oder kontemplativen Besinnung der Städter zu. Durch die Kontrastierung der parkähnlichen Randgebiete zum städtischen, architektonisch-strukturierten Lebensraum im urbanen Kerngebiet entstehen unweigerlich Konvergenzpunkte und Fragestellungen. „Urbane Räume suchen keine reine, ‚unverletzte’ Natur, aber die Sehnsucht nach ihr schwingt auch beim Großstädter dennoch durchweg mit“, erklärt der Künstler etwa in einem Pressegespräch zu seiner ersten Ausstellung in Hamburg[11].

 

[11] Die Ausstellung von Stefan Szczygieł lief unter dem Titel Urban Spaces in der „Fabrik der Künste“ in Hamburg anlässlich des Hamburger Architektur Sommers 2009 (9. Juli bis 2. August 2009).

Zwar fängt der Fotokünstler in seiner Heimatstadt Warschau mit dem Projekt Urban Spaces zu fotografieren an, doch schnell erweitert er seinen Horizont ins Umland, nach Danzig, Paris, Rom, Köln und Hamburg.

Mit einer Portion Ironie konterkariert der Fotograf zuweilen die klaren und strengen Architekturen mit kleinen Widerborstigkeiten des Alltags: ein verbogenes Verkehrsschild vor einem Neubau, Bauschutt vor einer Sehenswürdigkeit oder Graffitis an Wänden und Mauern. Damit verweist er in gleicher Weise auf Gebrauchsspuren wie er das bereits in seinen Blow Ups tat.
Die Präzision von Szczygiełs Fotografien ist in jenen Jahren ein Alleinstellungsmerkmal: Jedes Detail ist von ungeheurer Klarheit und Schärfe. Somit erkennt der Betrachter die Feinheiten selbst im Hintergrund bzw. bis in den Mikrobereich der Bilder hinein und kann regelrecht auf Entdeckungsreise gehen, vergleichbar mit einem Suchbild. Wir können die stillstehende Stadt ganz in Ruhe erkunden, den kleinen Moment des Ablichtens ausgiebig studieren, aber mit der Ahnung, dass dieser Moment gleich vorbei sein wird und uns das Leben draußen, außerhalb des Ausstellungsraums parallel überholt.

Ohne die immense Entwicklung der Computertechnik und den digitalen Möglichkeiten wäre diese Art der Arbeit nicht möglich gewesen und Szczygieł nutzt die Kapazitäten seiner Rechner in vollem Umfang, was teilweise dazu führt, dass Bildwerke erst über Nacht fertiggestellt werden, weil die Rechnerleistung damals noch wesentlich begrenzter war als heute. So liegen zwischen dem Motiv-Finden, dem kurzen Moment des Auslösens, der Rechenleistung und des Prints als Photogramm oft Tage dazwischen. Darüber hinaus greift der Künstler in die Software- und Befehlsprozesse immer wieder ein, um entsprechend präzise Ergebnisse zu erhalten, künstlerische Freiheiten inbegriffen.

Die Ausstellungsformate entsprechen anfangs eher üblicherweise benutzten Bildmittelformaten, werden jedoch im Laufe der Arbeitsentwicklung immer größer.

 

Urban Panorama
 

Schließlich führen die Urban Spaces zu einer Untergruppe: zu riesigen von Szczygieł mit Urban Panoramas[12] bezeichneten Großfotos. Diese Panoramafotos werden im Außenraum präsentiert, oft an Orten in der Nähe oder exakt am Ort ihrer Ablichtung.

Das Konzept sieht vor, in regelmäßigen Abständen die fotografischen Stadtszenen auszuwechseln. Begonnen werden sollte mit jenem Foto, was vor Ort gemacht wurde, nach ein paar Wochen sollte eine neues, gleichformatiges Foto aus einer anderen Stadt dort wetterfest installiert werden. Dadurch bildet sich nicht allein die Stadt in einem vergangenen Moment ab, sondern zudem eine andere Stadt, in einem anderen Land – eine Stadt in der Stadt. Diese überdimensionalen Fotos konstruieren zunächst eine Gegenüberstellung von zeitlicher, räumlicher, urbaner Verbundenheit mit der eigenen Stadt, um kurze Zeit später ein anderes Gegenüber zu bekommen. Vergleichbar mit den Blow Ups provoziert Szczygieł auch hier ein Überdenken der Gegebenheiten, das Hinterfragen der Wechselbeziehung von Wahrnehmung und Benutzung. Die Urban Panoramas bilden eine noch deutlichere Konfrontation heraus, wenn eine andere Stadt ins Spiel kommt. Durch die gigantische Größe sind die Panoramafotos in einer adäquaten Proportion zur Stadt und den Passanten austariert und können nicht als Modelle oder verkleinerte Anschauungen gelesen werden.

Dadurch wird eine gelernte Identifikation aufgebaut: Schon die europäische Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts und die Landschaftsbilder der Filmkultur in „Scope“-Formaten[13] des 20. Jahrhunderts haben diese und weitere ikonographischen Assoziationen hervorgerufen, was dazu führt, dass die Betrachter sich selbst in die Landschaft hineinprojizieren. Sie versetzen sich entsprechend ihrer eigenen Perspektive und Größe in die Landschaft hinein – oder präziser gesagt in die „Stadtlandschaft“. Wir verbinden uns somit mit der Stadt per se und mit allen Bildbestandteilen der Fotos, nur dass wir diese nicht zu Fuß oder mobil durchqueren, sondern mit den Augen. Stefan Szczygieł war es allerdings auch äußerst wichtig, darauf hinzuweisen (und das funktionierte mit der Wahl der fotografierten Ausschnitte und der Auswechslung der Fotos von einer anderen Stadt wie Paris beispielsweise besonders zielgenau), dass Landschaftsmalerei und -fotografie als Kunstform sowie die fotografischen dokumentarischen Abbilder von städtischen Räumen als Entdeckungen von Manipulationen verstanden werden müssen.

Die Geometrie einer Stadt ist in seinen Augen immer Manipulation. Das gilt nicht allein für die Benutzung der Formensprache der Natur: vom Steinbruch über den Jugendstil bis in die heutige Zeit, wenn sich Nachbarbauten, Parks, Himmel und Wolken in Glaspalästen spiegeln und uns eine Materialsimulation ein natürliches Produkt vorgaukelt. Es geht ihm um die Manipulation von Kommunikation. Szczygiełs Werke führen beim Betrachter zu Fragen wie: Welches ist das höchste Gebäude, von wem wurde es errichtet, in welchem Richtungsverlauf sind Straßen angelegt und welche Bauten wurden dort errichtet, an welchen Stellen überqueren Brücken den Fluss und welche Denkmale sollen woran und an wen erinnern? Welche Größe, Breite muss eine Straße, eine Avenue oder ein Boulevard haben, welche Funktionen hatten sie ursprünglich und welche davon haben sich im Laufe der Jahrhunderte verschoben? Was bedeutete die Individualisierung von Architekturstilen und monolithischen Einzelbauten? Was macht die Großbildwerbung mit der Stadt und mit uns und was städtische Beleuchtung und Lichtverschmutzung?

Zudem wird der Begriff Raum bei Szczygieł nicht nur analog, sondern insbesondere technisch digital und geistig virtuell verwendet und kreiert somit alles was vorstellbar ist – auch die nicht mehr (sofort) erkennbare Manipulation. Das Bild Warschau, Przystanek tramwajowy (dt.: „Straßenbahnhaltestelle“) ist ein gutes Beispiel für diese surreale, aber auch politische und gesellschaftliche Irritation, denn der nächtliche orange-braun beleuchtete Platz mit einer Straßenbahnhaltestelle ist dominiert von Großplakaten, Werbung, Firmenlogos und Schriftzügen, die wie hineinkopierte Fremdkörper wirken und den architektonischen Raum fast vollständig auflösen. Der Platz suggeriert, dass das Zentrum der polnischen Hauptstadt zum übermächtigen Konsumraum geworden ist. Alle Signets, Poster und Transparente schweben weithin sichtbar über der Architektur. Wie in US-amerikanischen (Universitäts-) Bibliotheken, in denen häufig Portraits der Präsidenten über den Bücherregalen aufgehängt sind, um uns glauben zu machen, diese Herren seien die Wächter des Wissens, so werden bei diesem Bild unsere Gedanken darauf gelenkt, dass die Unternehmen und ihre kostspielige Werbung die Wächter und Beherrscher der Stadt sind.

 

[12] Szczygiełs Ausstellungsformate für Innenräume liegen meistens im Bereich bei 80 x 120 cm (die technische Begrenzung damals betrug 120 x X cm). Die Panoramafotos hingegen hatten ein Format von 5.000 x 18.000 cm in Hochauflösungstechnik von 3 Milliarden Pixeln.

[13] Breitbildaufzeichnung im Verhältnis 2,66:1. Durch die große Verbreitung ab den 1950er-Jahren ist Scope in der Kinowelt zum Synonym für alle anamorphotischen Verfahren geworden. Vgl.: Lexikon der Filmgeschichte, http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=106.

Selbst bei Szczygiełs anderen, präzisen, detailgenauen Stadtlandschaften liegt immer die Vermutung der digitalen Veränderung in der Luft. Dem Künstler ist bewusst, dass sich seine Rezipienten damit auseinandersetzen müssen. Das fängt bei Raummanipulationen an und hört bei Farbmanipulationen auf. Das, was in der Malerei noch künstlerische Freiheit ist, wird bei der Fotografie schnell zur verführerischen Machenschaft, denn die technischen Möglichkeiten, die später nicht mehr sichtbaren Veränderungen, werden immer perfektionierter. Das macht sich der Künstler zunutze, denn gerade durch die Präzision, durch die fokussierte Schärfe bis in die Details und den Hintergrund hinein wirken die Fotos „ehrlich“ und „wahrhaftig“. Es wird schließlich alles haargenau gezeigt.

Szczygieł setzt sich damit von der verbreiteten naiven Vorstellung ab, der zufolge Landschaft schlichtweg ein Stück Natur sei. „Einfache“ Natur war jedoch, so scheint er sagen zu wollen, noch nie „Landschaft“ – auch nicht in der Kunstgeschichte. Motivauswahl, Komposition und Arrangement von Naturelementen machten Landschaftsgemälde und später die -fotografie vielmehr immer schon zu Collagen, nur dass keine geklebten Versatzstücke oder Schnitte sichtbar bleiben. Heute lässt die digitale Bildbearbeitung Elemente gar regelrecht miteinander verschmelzen, und es entstehen sogar Abbildungen von mutmaßlichen Orten der Welt, die ohne jede Vorlage vollständig oder größtenteils rein am Computer errechnet worden sind. Dies sind dann nichts anderes als Puzzle-artig inszenierte Bilder und Bildfolgen vermeintlicher „Landschaften“. Umgekehrt vermitteln unbearbeitete Abbildungen realer Orte – wie Szczygieł am Beispiel der „Straßenbahnhaltestelle“ zeigt – immer häufiger den Eindruck als blicke man in eine Computersimulation.

Dass die Welt zum Resultat medialer Wahrnehmung wird, ist allerdings auch nichts Neues[14], bedenkt man, dass im 18. Jahrhundert Großgrundbesitzer – vornehmlich in England, West- und Zentraleuropa – umfangreiche, großflächige Ländereien in Parks und Gärten umwandelten, die eingespielten Mustern der Landschaftsmalerei nachempfunden waren. So sorgten einst von Besitzern künstlich angelegte Parkanlagen mit aufgeschütteten Wällen und Hügeln für eine Gleichschaltung von Horizontlinie und Eigentumsgrenze. Landschaft wurde also schon damals simuliert und manipuliert. Der Großgrundbesitzer machte sich selbst in Personalunion zum Schöpfer und Eigentümer von Landschaft. Jean-Jacques Rousseaus Aufforderung „Zurück zur Natur“ war so gesehen nicht nur eine Zivilisations- und in gewissem Sinne auch Kultivierungskritik bzw. eine Gegenbewegung zur aufkommenden Industrialisierung, sondern auch eine, die „Zurück zu Bildern“ führte, die man kannte. Das war nicht weniger „künstlich“. Im Zuge der Industrialisierung begann die Ausbeutung der Landschaft in bekanntem Maße, und landschaftliches Aussehen veränderte sich grundlegend: Brücken, Staudämme, Fabriken entstanden, und der Tagebau wälzte ganze Landstriche um. Die Landschaft ist darüber hinaus längst umgedeutet und – wie bei Szczygieł – zur „Stadtschaft“ geworden, sodass sich die für die Landschaft beschriebenen Prozesse ebenso auf die Städte und heutigen Mega-Cities übertragen lassen, wenngleich die städtischen Entwicklungen mit unterschiedlichen Wirkungen und Definitionen verbunden sind. Genau mit diesen Phänomenen und Fragestellungen von Hierarchie und Eigentum, Definitionshoheiten und Zugehörigkeit, Identität und Manipulation spielt Stefan Szczygieł in seinem Werk, selbst dort, wo es von ihm keine digitale Beeinflussung gibt.

 

[14] Vgl. FRIEDE, Claus: „My Landscape Is Your Landscape – Internationale Videokunst zum Thema 'Landschaft'“, Beitrag im Feuilleton KulturPort.De – Follow Arts, 15. Januar 2014 [http://www.kultur-port.de].

Domek
 

Parallel zu den Panoramafotos beginnt der Fotokünstler an einer neuen, kleinen Serie zu arbeiten. Er nennt sie auf Polnisch Domek (dt.: „Häuschen“/„Hütte“). Sie zeigt kleine, überwiegend selbst zusammengezimmerte, jedoch unbenutzte oder verlassene, verfallende Schrebergartenlauben. Diese Fotos suggerieren eine Zeit nach dem Menschen, wenn dieser in Szczygiełs Vorstellungswelt nicht mehr existiert und längst die Erdoberfläche verlassen hat, aber seine Hinterlassenschaften noch da sind und vor sich hingammeln. Einst als Alternative zur engen Stadtwohnung dienend, hinaus in die vermeintliche Natur, ging es einmal um deren Kultivierung. Was übrig bleibt, sind vergängliche archäologische Relikte.

Interessanterweise fotografiert Szczygieł die „Domki“ (Plural von „Domek“) im Frühjahr, wenn die Natur zu erwachen beginnt, sich an den Sträuchern Knospen und erste Blüten bilden und sich ein noch größerer Kontrast zu den verlassenen und morbiden Lauben generiert.

Auch bei Domek bleibt sich der Fotograf in seinen künstlerischen Fragestellungen treu und verweist erneut auf die Verhältnisse von Benutzung, Gebrauch und Ästhetik, ohne in die eine oder andere Richtung zu kommentieren. Die Fotos sind sich selbst genug und bedürfen kaum einer „Gebrauchsanweisung“.

Mit dieser Serie verbindet sich der Fotokünstler qualitativ mit anderen internationalen Reihungen der Fotografie, beispielsweise mit den Stadtraumaufnahmen der Amerikaner William Egglestone und Stephen Shore, oder mit einer jüngeren Generation, etwa den zeitgleich zu Szczygieł entstandenen Strandhäusern o.T. (Gouville)[15] des deutschen Fotografen Götz Diergarten. Weitere Parallelen lassen sich zu den Playhouses[16] (Gartenspielhäuser für Kinder aus Plastik) des Niederländers Wim Bosch, Malte Brandenburg und seiner Serie Stacked[17] von Wohnhaustürmen in den Berliner Vorstädten oder zu Kevin Baumans Serie 100 Abandoned Houses[18] ziehen, in der der US-Amerikaner reihenweise verfallene Häuser in Detroit fotografierte. Innerhalb der polnischen Kunstszene ragt Szczygieł mit seinem Werk in diesem international bedeutenden Themen- und Arbeitszusammenhang auf einzigartige Weise hervor.

 

[15] Vgl. http://www.kicken-gallery.com/diergarten.html.

[16] Vgl. http://www.wimbosch.nl/wimbosch.nl/?/works/Playhouse/.

[17] Vgl. http://www.maltebrandenburg.com/portfolio/#/stacked/.

[18] Vgl. http://www.100abandonedhouses.com/.

Zeitflug
 

Im Kontext der Urban Spaces- und Stadtraumfotografien entstehen zwischen 2008 und Szczygiełs Tod 2011 die ersten Kunstfilme, die der Künstler mit seiner digitalen Filmkamera aufnimmt. Er betitelt sämtliche Filme mit dem deutschen Wort ZEITFLUG und fügt dann den Namen der jeweiligen Stadt an – zum Beispiel: ZEITFLUG – Warschau. Aufgenommen in verschiedenen europäischen Metropolen zeigen sie neben dem architektonischen und städtebaulichen Umfeld erneut die Nutzung von öffentlichen Räumen. Er bezeichnet die Filme pointiert als „Portraits zwischen Verwandtschaft und Differenz“.

Die Filme[19] von Stefan Szczygieł weisen sehr spezifische künstlerische Eigenheiten auf: Durch die Verlangsamung der Drehgeschwindigkeit und dem daraus resultierenden zeitlupenähnlichen Effekt wird die Stadtlandschaft entschleunigt und gewinnt dadurch ein wichtiges Moment an Abstraktion. Die Stadt im Film, zumal in Schwarz-Weiß gedreht, scheint eine vollkommen andere als die reale Stadt mit ihren pulsierenden Geschwindigkeiten und Frequenzen zu sein. Dennoch wirken die filmischen Arbeiten nicht anachronistisch oder der Zeit enthoben wie noch bei den Blow Ups. Vielmehr schafft es der Künstler, durch die Entschleunigung, der Nicht-Farbigkeit und dem daraus resultierenden Abstraktionsgrad, die Erlebniszeit deutlich von der Realzeit abzusetzen. Wir Zuschauer erleben die Stadt somit zwischen zwei Aggregatszuständen. Das wirkt neu, ungesehen und äußerst innovativ. Wir meinen, die reale Stadt tausche ihren Platz mit ihrer filmischen Doppelgängerin oder vermische sich zumindest mit ihr. Außerdem wird durch die Wahl, den Film in Schwarz-Weiß zu zeigen, eine historische Komponente suggeriert, denn diese Form, Nachrichten zu visualisieren, kennen wir als eine technisch wenig aufwändige Methode aus den „Wochenschauen“, die bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts in vielen Kinos weltweit zu sehen waren.

So ist es kein Wunder, sondern vielmehr bezeichnend, dass die Premiere der Filme ZEITFLUG – Hamburg und ZEITFLUG – Warschau auf dem 17. Filmfest Hamburg im Jahr 2009 im Hamburger „Metropolis Kino“ zu Gast im „Savoy“[20] gezeigt wurden.
Ein weiteres Merkmal der Filmserie ist erwähnenswert: Szczygieł dreht aus einer leicht niedrigen Perspektive, so als führe ein Kind die Kamera. Durch diesen optischen Effekt wirkt alles größer. Auch die Menschen erscheinen größer als sie tatsächlich sind, und die Perspektivverschiebung verbindet sich beim Zuschauer mental mit dem Substantiv der ‚Entdeckung’ – so wie Kinder ihre Umgebung entdecken. In der Tat lässt sich der verlangsamte, entfärbte Raum bei ZEITFLUG generationsübergreifend neu entdecken.

 

[19] Vgl. FRIEDE, Claus, Textheft: My Landscape is Your Landscape, Westwendischer Kunstverein, Gartow/Elbe, 2015, S. 9; sowie das Video mit zwei Werken von Stefan Szczygieł: https://www.youtube.com/watch?v=xFWVx4N5fNo&t=15s.

[20] Vgl. hierzu das Programmmagazin zum 17. Filmfest Hamburg, 2009, S. 11.

Und noch etwas ist auffallend und entscheidend für die Qualität der Filmwerke. Die Passanten und Protagonisten scheinen die Kamera des Künstlers während der Aufnahmen nicht wahrgenommen zu haben. Niemand schaut in die Linse, fühlt sich beobachtet oder reagiert bewusst darauf, gefilmt zu werden. Kein Winken, kein unsicherer Blick, kein sich Abwenden, obwohl Szczygieł teilweise den Menschen extrem nahekommt. Die Kamera zeigt (ohne Benutzung eines Teleobjektivs) den Oberarm eines Mannes, die Hände einer in einem Buch lesenden Frau und das altersfaltige Gesicht eines Obdachlosen. Oberflächen von Objekten bekommen wir ebenso zu sehen wie den Stoff des Kopftuchs einer jungen Frau, sowie die Oberfläche einer Brunnenskulptur. Vielmehr bewegen sich die Städter in der gewöhnlichen Normalität und unbeobachteten Gelassenheit, als sei die Kamera unsichtbar, gar nicht existent. Die Verbindung der Natürlichkeit des Seins mit dem Verhalten der Menschen auf der Straße, unabhängig von deren Tätigkeit und der Art und Weise, wie Szczygieł mit seiner Kamera operiert, macht die gefilmten Personen in ihrer Verlangsamung teilweise zu Standbildern im doppelten Sinn, quasi zu Skulpturen und Momentaufnahmen, zu einem Bestandteil der urbanen Architektur.

Durch den Wechsel und die Teilung der Leinwand in bis zu vier gleichwertig neben- und übereinander sich abspielende Geschehnisse und Verdopplungen kreiert der Künstler immer wieder neue Beziehungsgeflechte. Die Stadt ist hier wahrlich im Fluss. Unterstützt wird die Entschleunigung, der Gesamtrhythmus und das zeitliche Fließen durch passgenaue elektronische Ambient- und Downtempo-Musik, die als Auftrag an den polnischen Komponisten Wojciech „Olo“ Olszewski ging. Geschickt verwendet der Elektroniker, Texter und Produzent aber auch die Klänge der realen Stadt und integriert diese subtil ins Geschehen: Kinderlachen, Hafengeräusche, Handyklingeln, Grundrauschen, Fahrradschellen, Vogelgezwitscher, Hupen, Stimmengewirr ...

Leider konnten weder das aufwändige Projekt der Urban Panoramas noch die Filme aus der begonnenen Serie ZEITFLUG durch den plötzlichen Tod Stefan Szczygiełs zu Ende geführt und in weiteren Städten (außer Warschau) vorgeführt bzw. zur Diskussion gestellt werden. Sein Werk bleibt somit fragmentarisch, obwohl ein kontinuierlicher inhaltlicher roter Faden deutlich erkennbar ist.

Zu hoffen bleibt, dass der frühe Tod des Fotografen für sein künstlerisches Werk nicht bedeutet, dass es in Vergessenheit gerät, war Stefan Szczygieł doch mit seiner Arbeit ein feinfühliger, visionärer, sozialkritischer, verbindender und kulturell wissbegieriger Wegbereiter der zeitgenössischen Fotografie, ein Bilderwandler zwischen der realen, digitalen und virtuellen Welt. Transkulturell und verbindend ist Szczygieł überdies in seiner selbstverständlichen sprachlichen Nutzung im Dreieck zwischen Polnisch, Deutsch und Englisch.

Als Fotograf hielt sich der entdeckungsfreudige, innovative, technisch versierte und die Welt vernetzende, wenn nicht voraussehende, so doch sicher ihr zugewandte Künstler polnischer Herkunft stets an einen griechischen Eid, den Baukünstler, Architekten und Stadtplaner in der hellenischen Antike schworen und der einen festen Vorsatz formuliert, der als Szczygiełs eigener Leitspruch gelten könnte: „Ich werde diese Stadt schöner verlassen, als ich sie betreten habe“.

 

Claus Friede, April 2017